Kitabı oku: «Lebenslänglich», sayfa 2

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Die Lügengeschichte bekommt dem bis anhin so umgänglichen Robi schlecht. «Von ihm hatten wir das zuallerletzt erwartet und wir waren sehr enttäuscht», steht im Bericht des Hausvaters. Die böse Tat findet im Telefonrapport mehrmals Erwähnung, auch noch Jahre später, und schlägt sich direkt in der Bewertung von Robi als Schüler nieder. Aus dem lustigen Lausbuben wird ein schwacher Schüler, der knapp die Realschule wird besuchen können, denn die «Leistungen seien nicht sehr gut» und «Robi wenig begabt», berichten die Heimeltern nach Basel. Bemerkenswert ist, dass diese Einschätzungen keineswegs mit dem Schulzeugnis korrespondieren. In der dortigen Notenskala wird Robi nur im Kopf- und Ziffernrechnen als knapp ungenügend bewertet, in allen anderen Fächern sind seine Leistungen in Ordnung, und im Zeichnen, Singen und Turnen glänzt er sogar mit drei Ausreissern nach oben. Doch sie werden, genauso wenig wie sein sehr gutes Betragen, im Rapport der Furrers erst gar nicht erwähnt.

Zu Beginn der 1960er-Jahre entstehen im Packeis auf dem Wiesengrund mit seinen Abgründen ein paar feine Risse. Robi bricht sein Schweigen. In den Weihnachtsferien, die er bei seiner inzwischen wieder verheirateten Mutter verbringen darf, erzählt er dieser von den Misshandlungen, von den Schlägen bis zur Bewusstlosigkeit. Die Mutter alarmiert die Jugendfürsorge. Einige Monate später wird der ahnungslose Robi überraschend aus der Schule geholt, mitten am Tag. In der Heimstube sitzt Robis Fürsorgerin Frau Seliner, die er in all den Jahren, seit er hier ist, ein einziges Mal sah, Jahre zuvor, bei einem angekündigten Musterbesuch. Diesmal ist Frau Seliner unangekündigt gekommen, zusammen mit seiner Mutter, die das erste Mal im Wiesengrund ist. Die beiden sitzen neben dem Heimelternpaar Furrer in ihrem Büro, Vater Anton ist eigens von der Arbeit nach Hause geholt worden, Mutter Rosmarie sitzt blass und mit zuckendem Kinn daneben. Robi soll sich dazusetzen, soll erzählen, was war. Gelähmt vor Angst, was ihn danach erwartet, schafft er es dennoch, von der Misshandlung zu berichten. Was anschliessend gesprochen wird, überhaupt, was geschieht, weiss Robi Minder heute nicht mehr, er erinnert sich einzig an die unerwartete Blässe im Gesicht der Heimmutter, an ihre zitternden Lippen und an eine grosse Angst in ihren Augen. Viel später erzählte ihm jemand, die Basler Jugendfürsorge habe die Platzierung von Kindern in den Wiesengrund danach eingestellt. Überprüfen konnte er die Aussage nicht. Und der Vorfall selbst ist, anders als etwa Robis Lügengeschichte, im sonst akribisch geführten Heimarchiv nirgends dokumentiert. Das Leben im Wiesengrund geht weiter wie zuvor. Das Packeis friert wieder zu. Und die Minder-Kinder haben zu bleiben.

Doch Robis Mutter, bis anhin die ferne Abwesende, bleibt alarmiert. Und da sie noch immer das Sorgerecht für ihre Kinder hat, stellt sie im Januar 1962 ein erstes Gesuch um Umplatzierung, zurück nach Basel in ihre Nähe. Fürsorgerin Seliner beginnt, sich um das Anliegen zu kümmern, ihre Klärungen sind in verschiedenen Berichten und einer Menge Korrespondenz nachzulesen. Die Heimeltern stellen sich in all ihrer Mächtigkeit gegen einen Wechsel, sehen dadurch ihren ganzen Erziehungserfolg in Gefahr. Robi selbst wird durch die Bewegung um ihn herum etwas aus seiner Starre gelöst, die Aussicht auf einen Wechsel motiviert ihn, er schafft zum Erstaunen der Heimeltern den Übertritt in die Sekundarschule. Und nun hilft er sich erst einmal selbst, greift nach dem einzigen für ihn sichtbaren Strohhalm und bittet um eine Umplatzierung in jene Bauersfamilie im Dorf, bei der er seit Jahren während der Schulferien als fleissige Arbeitskraft im Einsatz ist. Für zwanzig Rappen Stundenlohn, die Hälfte wird direkt dem Heim zugeführt, die andere kommt in ein vom Heim verwaltetes Kässeli, zu dem er keinen Zugriff hat. Robi weiss, wie sehr seine Hilfe auf dem Hof willkommen ist, begründet seinen Wunsch altruistisch, er möchte die Bauersfrau und ihren invaliden Mann in der Not unterstützen, kombiniert dies mit einem Berufswunsch und deklariert, er wolle Bauer werden. Das kinderlose Bauernpaar begrüsst die Pläne erfreut und stellt gar eine spätere Adoption in Aussicht.

Bei Bauer Ammann

Nach einigem Zögern stimmt Robis Mutter dem Wechsel zu. Und so kommt es, dass der Jugendliche als 13-Jähriger zum Sommeranfang des Jahres 1962 sein kleines Bündel packt, nach fast zehn Jahren des Schreckens und der Qual den Wiesengrund verlässt und zu Familie Ammann zieht. Seine Schwester wird gleichzeitig über Umwege ins Mädchenheim Bachgraben in Basel umplatziert. Die Heimeltern Furrer hadern mit dem Entscheid, ihre Korrespondenz zeugt von Kritik und Missfallen, sie ärgern sich über die Pläne und darüber, dass eine Frau wie die liederliche Mutter Minder noch immer das Sorgerecht und damit das Sagen über das Geschick der Kinder hat. «Sie werden staunen, beide Minderli sind nicht mehr bei uns, wir haben die Versetzung nicht verstanden. […] Elisabeth ging nicht gerne weg, und wir haben sie nicht gerne weggegeben», so schreiben sie reihum. Die beiden Kinder verlassen den Wiesengrund ohne wirklichen Abschied. Die elfjährige Elisabeth setzt sich apathisch in ein unbekanntes Auto, das sie abholt, sie ist gefangen in ihrer Trostlosigkeit, kränkelnd, und hat das Körpergewicht einer Siebenjährigen; Robi dagegen tritt seinen Weg zu Fuss an, getrieben von der Hoffnung auf ein Leben ohne Schläge und ein bisschen familiäre Wärme.

Sein Wechsel zu Bauer Ammann scheint vorerst zu glücken. Die künftigen Adoptiveltern haben «grosse Freude» an ihm, denn «Robi selber mault nicht herum, zeigt sich anhänglich und selten frech, hilft fleissig mit in Haus und Hof». Auch fällt es ihm «erstaunlich leicht, in der Schule zu folgen», wie seine Fürsorgerin in Basel festhält und dabei Robis Lehrer zitiert, der ihn als «guten Sekundarschüler, dem das Lernen keine besondere Mühe bereite», lobt. Doch bereits nach vier Monaten ist der Höhenflug vorbei. Robi fühlt sich bei den Ammanns nicht mehr wohl, hat «Heimweh nach der Kindsmutter und nach der Schwester», möchte in «Mutters Nähe» wohnen, so notiert Fräulein Seliner. Sie fährt nach Auwil, um den Wandel aufzuklären, spricht mit dem Lehrer, mit Robi, mit der Pflegefamilie. «Robi redet ruhig, sachlich, überlegt», liest man in ihrem ausführlichen Bericht zu seinen Klagen. Darüber, dass man ihn nicht als Pflegesohn, sondern als Angestellten behandle, dass er keinerlei Wärme verspüre und so gar nicht heimisch werde. Die Bäuerin sei wenig mütterlich, sei überfordert, der invalide Vater oft unbeherrscht und verärgert. Was er der Fürsorgerin nicht erzählt, weil er dafür keine Sprache findet, sind die entsetzlichen Bilder von Tierschmerz und Tierqual, die ihn zunehmend verfolgen. Denn Bauer Ammann verdient sich mit der Kastration von Kaninchen, Schweinen und Hunden ein Zubrot. Er macht es mit einer Rasierklinge, ohne Betäubung, und der junge Robi muss ihm assistieren und die Tiere im Jutesack festhalten. Es sind Schreie und Bilder, die den Siebzigjährigen bis heute verfolgen, seinen Herzschlag beschleunigen, seine Hände zittrig werden lassen. Doch davon verrät er dem Fräulein aus Basel nichts, bezichtigt sich stattdessen selbst, er habe sich «blenden» lassen, habe Illusionen aufgebaut, hier Vater und Mutter zu finden, dass das Bauernpaar ihm aber fremd geblieben sei. Weiter erzählt er von den beengenden Entwürfen der Pflegeeltern zu seiner Zukunft, dass Frau Ammann enttäuscht sei, weil er weiterhin zur Schule wolle, dass der Pflegevater Robis Zukunft schon fest in seinem Kopf ausgelegt habe, erst die landwirtschaftliche Ausbildung, dann den militärischen Grad, den er abverdienen soll, und auch vom Heiraten sei bereits die Rede. Und weiter betont der Bericht Robis erstaunliche Reife, die sich auch darin zeige, dass der Junge trotz seiner erst 14 Jahre grosses Verständnis für den invaliden Pflegevater zeige, der an seiner Untätigkeit bestimmt leide und ihn wohl auch deshalb öfters anschreie. Auch der Leistungsabfall in der Schule lässt sich in den Gesprächen klären. Der Arbeitstag beginnt morgens um 6 Uhr mit Stallarbeiten, erzählt Robi seiner Fürsorgerin, Bettruhe sei gegen 23 Uhr, Hausaufgaben sind erst nach dem Nachtessen zu erledigen, Zeitfenster für Freundschaften bleiben kaum. Robis Sicht der Dinge wird von der Pflegefamilie sogar bestätigt, hält Fräulein Seliner in ihrem Bericht fest. Frau Ammann stimmt zu, dass er überbeansprucht werde, da es schwierig sei, für die Landwirtschaft Leute zu finden, zudem sei ihr Knecht mit dem Umbau der Scheune voll beschäftigt, zusammen mit der Bäuerin müsse Robi den ganzen Hof alleine bewirtschaften. Jedoch bestreiten die Ammanns den monierten Zeitmangel für Schularbeiten und zeigen sich wenig erfreut, ihren Pflegesohn in den Weihnachtsferien zu seiner Mutter zu entlassen. Sie fürchten, der städtische Einfluss zerstöre den Wunsch des Buben, Bauer zu werden.

Noch wissen sie nicht, dass der Pflegesohn diese Pläne längst begraben hat. Robi will auf keinen Fall auf Dauer bei Familie Ammann bleiben, zeigt sich aber bereit, noch ein halbes Jahr auszuhalten, um in Auwil die Schule abzuschliessen. Selbst die Tatsache, dass bei seiner Mutter kein Platz für eine Rücknahme sei – sie lebe mit ihrem neuen Freund zusammen und sei beruflich sehr belastet – und auch der Vater keine Kapazität habe, da er in seiner neuen Ehe und mit den zwei zusätzlichen Kindern ebenfalls in prekären Verhältnissen lebe, kann ihn nicht von seinem Wunsch nach einer Rückkehr nach Basel abbringen. Die Mutter möchte ihn erneut in einem Heim platzieren, das enttäuscht ihn zwar, aber alles ist besser, als zu bleiben, wo er ist. Immerhin unterstützt seine Mutter seine Pläne. Seine Klagen decken sich mit ihren Impressionen anlässlich eines eigenen Besuchs auf dem Hof, und sie zeigt sich fest entschlossen, den Knaben nach Basel ins Waisenhaus zu holen, will ihn dort weiter schulen und fördern lassen. Sie verspricht den Behörden, sich bei einer Umplatzierung nach Basel um ihren Sohn zu kümmern, wann immer sie frei hat, und dabei ihr Leben im damals noch anrüchigen Konkubinat vor dem Halbwüchsigen möglichst zu verbergen.

Der endgültige Abschied von Auwil ist wiederum ein unbegleiteter, nüchterner Akt, den Robi alleine zu leisten hat. Ein Händeschütteln mit der enttäuschten Bäuerin, die ihn nur ungern ziehen lässt, ein kleines Kleiderbündel am Rücken, ein grosser Packen Skrupel im Kopf und im Herzen, weil er die überforderten Bauern im Stich lässt – derart beladen macht sich Robi auf den Weg zum Bahnhof. Und macht sich wieder auf in eine neue Zukunft, diesmal nach Basel.

Im Waisenhaus in Basel

Im städtischen Waisenhaus, einem ehemaligen Kloster an der alten Stadtmauer, wird ihm vorerst nichts geschenkt. Die Stadtkinder mokieren sich über Robis breiten Stiefelgang, sie reiben ihm seinen Stallgeruch unter die Nase, und auch sein St.-Galler-Dialekt bringt ihm keine Sympathien ein. Robi, unsicher, verletzt, in allem blockiert, wird zum Sonderling. Und doch macht ihn die neue, unbekannte Welt neugierig und auch etwas mutiger. Immerhin ist es eine Welt ohne Strafen und ohne lebensfeindliche Bibelzitate. Und man darf sogar über die riesengrossen Turnschuhe des Waisenvaters lachen. Im grossen Haus mitten in der Stadt, wo nicht mehr das Auge Gottes wacht, sondern jenes des Staates, ist man vor Willkür weit besser geschützt als früher in der Villa Wiesengrund. Und ausserdem gibt es nun plötzlich eine echte Mutter, die manchmal sonntags zu Kaffee und Kuchen lädt, die einen Freund hat – ein Verdingkind auch er –, einen, der Robi wohlgesonnen ist und der ihn ab und an zusammen mit der Mutter in seinem schicken Auto auf ein Fährtchen mitnimmt, zu seiner eigenen Pflegefamilie, in die hintersten Hügel des Juras.

In dieser neuen Welt trifft Robi, inzwischen im letzten Schuljahr angekommen, endlich mit seinem Zeichentalent auf aufmerksame Resonanz. Ein schulisches Zwischenjahr soll die Berufswahl weiter klären, mit 16 beginnt er dann in einem grösseren Ingenieurbüro eine Lehre als Bauzeichner. Die vielen Leute, die vielen Büros und die vielen Chefs machen dem Heimbuben Angst. Einmal duckt er sich, kurz danach schiesst er weit übers Ziel hinaus, Geltungsdrang und Gefühle absoluter Minderwertigkeit jagen ihn durch den Tag. Er ist halt- und orientierungslos. Einzig seine Arbeiten sind konstant gut und finden Anerkennung. Die Abschlussprüfung nach drei Lehrjahren quält ihn mit ungeahnten Ängsten, doch er schafft das Diplom. Und zwar mit Bestnote und Auszeichnung.

Kurz vor Weihnachten 1968, einen Monat vor seiner Volljährigkeit, verlässt Robi nach insgesamt 17 Heimjahren das städtische Waisenhaus Richtung Freiheit. In seiner Tasche stecken die Einberufung in die Armee und ein Mietvertrag für ein WG-Zimmer, sein ausgezeichneter Lehrabschluss, ein Goldvreneli, das ihm der Waisenvater für die Bestnote gab, und an seinem Arm glänzt eine Herrenuhr, das Geschenk seines Lehrmeisters als Anerkennung für den glanzvollen Abschluss. Dieser hofft, dass der begabte Zeichner nach der Rekrutenschule zurück in den Betrieb kommt. Er hat sich entschlossen, den mittellosen jungen Mann zu fördern, und bietet ihm an, ihm auf Betriebskosten ein Studium an der Technischen Hochschule zu finanzieren. Doch allein die Vorstellung davon jagt Robi das Blut in den Kopf und lässt ihn schwindlig werden. Denn der mit Rang ausgezeichnete Bauzeichner bleibt ein schwer traumatisierter ehemaliger Heimbub, der vor jeder Prüfung, jedem kleinen Auftritt monströsen Ängsten ausgeliefert ist und der für sich beschlossen hat, solche Situationen künftig radikal zu vermeiden. Deshalb auch will er sich von seinem erlernten Beruf verabschieden, der hohe Erwartungsdruck als Folge seines prämierten Abschlusses ist für ihn entsetzlich, da gibt es nur eins, so schnell wie möglich zu fliehen, Neustart auf Feld eins, wo keinerlei Erwartungen ihn bedrängen. Überraschend schlägt er deshalb das Angebot seines Meisters aus und erzählt ihm von seinen Plänen, ins Gastgewerbe zu wechseln. In jene Branche, wo weder nach der Kinderstube noch nach Abschlüssen gefragt wird. Doch das verrät er seinem konsternierten Chef natürlich nicht und lässt diesen mit seiner Kündigung ratlos und auch enttäuscht zurück.

In der Gastronomie

1970, nach der Rekrutenschule, während der ein begeisterter Leutnant den braven Soldaten mit seiner vorbildlichen Disziplin zum Offizier machen will und er selbst das Unglück gerade noch zu verhindern weiss, beginnt Robi Minder seine Karriere in der Welt der Gastronomie. An einer durch seine Mutter vermittelten Stelle, im Restaurant Safran Zunft, mitten in Basels Altstadt. Schon bald wird der Quereinsteiger auch hier gefördert. Der Chef steckt ihn in einen schwarzen Anzug mit Fliege und schickt ihn als sein Aide du Patron in die oberen Säle, wo er rauschende Feste und Bankette zu organisieren und das Personal zu führen hat. Damit aber gerät Robi Minder erneut in jene Hölle, die er zwingend zu vermeiden sucht: Nun wird jeder Tag ein Prüfungstag, wird jede Serviererin, die er für ein Bankett engagiert, zu einer Prüfungsexpertin. Und immer muss er das Beste liefern, muss es allen recht machen. Hinter dem galanten jungen Bankettmanager versteckt sich ein hochsensibler, zutiefst verletzter Bub, der täglich durch die Schleuder seiner Ängste geworfen wird. Robi Minder ist immer auf Draht, immer unter Stress, Entspannung kann der Gehetzte nur noch mithilfe von Alkohol finden. Und so beginnt er zu trinken. Regelmässig. Wohldosiert über den Tag verteilt. Der Stoff ist immer greifbar, er selbst ein äusserst kontrollierter Mensch, dem abgestufte Mässigkeit leichtfällt. Die verräterische Fahne aus seinem Mund lässt sich mit Mineralwasser ausschwemmen. Und den Menschen kommt Robi Minder sowieso nicht zu nahe. Mit etwas Alkohol bleibt das gefürchtete Zittern seiner Hände aus. Und sein instabiler Schritt wird sicherer.

Noch ein weiterer Trick hilft ihm über seine täglichen Runden in den grossen Bankettsälen. Seit seiner Kindheit weiss Robi Minder um sein besonderes Talent in der Nachahmung von Menschen. Mit Leichtigkeit imitiert er ihren Schritt, ihre Gestik, den Tonfall ihrer Stimmen. Und nun entdeckt er, wie nützlich solch ein Rollenspiel sein kann. Denn wenn er als Stellvertreter seines Chefs sich selbst verlässt und ein anderer wird, wenn er sozusagen aus seiner Haut fährt und sich eine fremde überzieht, wird alles ein Spiel. Und seine Ängste werden leiser. Und so fängt er an, seinen Patron zu imitieren, läuft mit dessen wiegendem Gang durch die Säle, knetet sanft sein rechtes Ohrläppchen, während er redet, oder streicht sich mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken, genau wie dieser, und auch die Tonalität der Stimme des Patrons kopiert er und seinen so unverkennbaren Basler Dialekt. Mit etwas Alkohol im Blut und in der Körperrolle des Chefs schafft es Robi, den Rotwein ohne Kleckern zu servieren, den Teller ruhig vor den Gast zu stellen und dabei freundlich zu lächeln; ist Robi Minder selbst am Werk, landet der kostbare Tropfen neben dem Glas, verschüttet er die sorgfältig angerichteten Teller, knicken gar beim Balancieren der Gläser seine Beine gefährlich ein. Seine Rolle als gewandter Kellner gefällt den Gästen. Sie sehen den leiblichen Sohn des Safran-Wirts am Werk und erfreuen sich am geglückten Spiegelspiel vererbter Gene.

In den ersten Jahren seiner Servicetätigkeit lebt Robi Minder mit einem Kollegen zusammen, dann zieht er, der stille Sonderling, in eine Einzimmerwohnung um. Lebt vorerst allein, bis eine Reise sein Single-Dasein unerwartet verändert. Er fliegt mit einem alten Schicksalsgenossen aus dem Waisenhaus, wie vor Jahren vereinbart – und was er verspricht, das hält er auch –, ins thailändische Eldorado käuflicher Frauen. Es ist nicht Robi Minders Welt. Sein Blick verfängt sich denn auch nicht in den präsentierten Katalogfrauen, frei verfügbar, da im Arrangement inbegriffen, sondern er flieht zu einer Schattenfrau, die weinend in einem Winkel des Etablissements sitzt, «out of service», wie der Besitzer verärgert deklariert. Diese und nur diese will er haben, wenn er denn schon wählen soll. Er nimmt die Frau mit auf sein Zimmer und weiss sofort, er wird sie retten, die Verlorene, wird sie ihrem Elend entreissen, will sie so schnell wie möglich heiraten und in die Schweiz holen. Und das tut er auch. Und so teilt er bald einmal seine kleine Wohnung mit dieser ihm gänzlich unbekannten Frau, deren Sprache er nicht kennt, deren Kultur ihn in ihrer Fremdheit täglich neu herausfordert. Mit grossem Eifer lernt er ihre Sprache, sie führt ihn in die thailändische Küche ein, und später wird sie im Restaurant des inzwischen selbstständig wirtschaftenden Robi Minder kochen. Das Glück will sich dennoch nicht einstellen. Vier Jahre später sind die beiden geschieden.

Doch nochmals zurück in die Anfangszeit dieser Verbindung. Robi Minder bleibt ein traumatisierter junger Mann, der unter einer Glasglocke lebt. Daraus können ihn auch die ersten Versuche in der Liebe nicht befreien. Die Gefühle bleiben erstarrt wie erkaltete Lava oder verirren sich als lästigen Schwindel in seinen Kopf, als zuckende Schlenker in seine Beine. Und dies immer häufiger. Sein Trick mit dem Rollenspiel will nicht mehr immer gelingen, der Alkoholpegel muss erhöht werden. Robi Minders Patron, der Wirt des Restaurants Safran, ist seinem geschätzten Gehilfen noch immer wohlgesonnen, auch wenn ihm seine Defizite nicht verborgen bleiben. Auch er will, wie sein Vorgänger, den sympathischen Mann fördern, schickt ihn ins Welschland zum Französischlernen, vermittelt ihm ein Praktikum in einem anderen Betrieb. Und schiebt ihm allerlei Literatur zu, mit Ratgeberrezepturen nach dem Motto «Sorge dich nicht – lebe!». Doch für Robi ist dies keine Hilfe. Im Gegenteil, Zuwendungen steigern die Strenge seiner Selbstkontrolle, erhöhen den Erwartungsstress, alles wird immer noch schlimmer. Schliesslich sucht der ruhelos Gequälte Hilfe bei einem Psychiater. Dieser diagnostiziert eine labile Konstitution, entlässt ihn nach wenigen Sitzungen, weitere Hilfe weiss auch er nicht anzubieten. Noch weiss die Psychiatrie in diesen 1970er-Jahren wenig von Traumata und posttraumatischen Belastungsstörungen. Schliesslich ergreift Robi Minder ein weiteres Mal die Flucht nach vorn und setzt einen nächsten beruflichen Neustart auf seinem Weg. Diesmal wagt er den Sprung in die Selbstständigkeit. Schluss mit dem Kontrollblick von oben, Schluss mit der Schauspielerei in der Rolle des Chefs, nun wird er sein eigener Patron. Robi Minder ist jetzt 26, holt seine gesamten Ersparnisse von der Bank, investiert in ein Restaurant, das nun ihm gehört. Dabei hat er ein Ziel glasklar vor Augen: möglichst schnell möglichst viel Geld zu verdienen, um sich von der Gesellschaft mit ihren bedrohlichen Anforderungen ganz ins Private zurückziehen zu können.

Der Traum ist schnell ausgeträumt. Der Wirt ohne Patent und blockiert darin, den entsprechenden Fachabschluss nachzuholen, sieht sich gezwungen, dafür einen Kollegen einzustellen. Das kostet. Dazu addieren sich Fehlinvestitionen. Der im Handel Ungeübte lässt sich viel zu teuren Wein aufschwatzen, die Ausgaben summieren sich, langsam rutscht Robi Minder in eine finanzielle Schieflage, versucht diese mit der Expansion auf ein zweites Lokal aufzufangen. Nach nur zwei Jahren kommt das Aus, er muss seine Insolvenz erklären. Und wird, als geschlagener Hans im Glück, erneut auf den Arbeitsmarkt katapultiert. Zurück in die Welt der Dienstleister, der Kellner. Mit seinen guten Arbeitszeugnissen findet Robi bald wieder Arbeit. In einem Basler Tanzlokal, dem Happy Night, einer In-Diskothek, die über die Landesgrenzen hinaus bekannt und auch im Elsass, im Rheinland beliebt ist, ein bisschen spleenig mit einem richtigen englischen Taxi in der Saalmitte; da sitzt der DJ drin und legt seine Platten auf. Es ist die Show, die zieht, und dann natürlich die Musik. Und ein bisschen auch Hanny, die Frau hinter der Bar, die so gar nicht in das Klischee einer Bardame passen will. Sie fasziniert. Auch den neu eingestellten Kellner Robi Minder. Und für einmal gerät ihm seine Schüchternheit zum Vorteil. Die beiden finden sich als Paar, heiraten, werden Eltern eines kleinen Sohnes und bleiben sich zuverlässige Lebensgefährten. Bis heute.

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335 s. 9 illüstrasyon
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9783039199389
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