Kitabı oku: «Zwei Freunde», sayfa 19
Wichmann rauchte auch. Die Frau stopfte weiter. Sie sah bleich aus und krank. Anuschka sang ein neues Lied.
»Kennst du das?« fragte der Schiffer. »Bist du schon gefahren?«
»Ich fahre wieder.«
»Zu welchem gehörst du?«
»Ich suche einen.«
»Soso.«
Wichmann war zumute wie in einem Märchen, wenn Zauberstäbe die Menschen und das Land umwandeln. Was lag für eine unbegreifliche Kraft in diesem mageren Mädchen mit dem grünen Kittel und den hellen Augen. Sie war eine Frau, aber wenn der Mann an sie dachte, dachte er immer ›Mädchen‹. Er zweifelte nicht, daß sie mit dem großen Wanderer, auf dem sie jetzt saßen, fortfahren werde. Sie war eines Tages in die Stadt gekommen, und jetzt mußte sie wieder gehen.
»So«, sagte der Schiffer nach langer Zeit, als die Frau ein Paar Strümpfe fertig in den Korb legte und seufzte. »Was kannst du arbeiten, Mädchen?«
»Kochen und waschen, Schiffer. Stopfen und flicken.«
»So. Da braucht es aber auch Papiere und Kleider.«
»Das bring’ ich.«
»Was wir sind, wir fahren in der Frühe um fünf.«
»Ja.«
Die Frau sah Anuschka mißtrauisch an. »Warum willst du gehen? Wirst du ein Kind haben? Oder suchen sie dich?«
»Niemand sucht mich. Ich habe auch kein kleines Kind und werde auch nicht kleines Kind haben.« Anuschka war traurig. »Ich bin nicht von hier, und ich gehe wieder.«
»Du kannst uns helfen für das Essen. Wenn du mir die Papiere bringst.«
»Osa, geh – willst du mir die Papiere bringen und die Kleider? Es ist alles in der Kommode.«
»Kommst du nicht noch einmal mit mir, Anuschka?«
»Doch. Ich gehe noch einmal mit dir.«
Der Schiffer brachte die beiden zur Treppe.
»Du wirst wohl nicht wiederkommen«, sagte er.
»In einer Stunde, Schiffer, bin ich wieder da.«
Oskar und Anuschka wanderten ihren Weg am Ufer zurück. Der Mond sah ihnen in den Nacken, und Anuschkas Haare schimmerten durchsichtig. Sie lachte.
»Ich bin wieder froh, Osa.«
»Weißt du denn, was du tun willst, wenn ihr die Fahrt beendet habt und der Schiffer schickt dich wieder fort?«
»Ich weiß es nicht, Osa. Weißt du, wo du bist hergekommen auf diese Welt und wohin du wirst gehen fort aus ihr? Das ist größere Stunde, und du weißt es doch nicht. Alphonse hat mich gebraucht, er braucht mich nicht mehr. Osa, seine Augen haben es gesagt, und ich will wieder gehen. Du mußt an Alphonse denken, Osa, ihn nicht verlassen, er ist gut und liebt eine böse Frau.«
»Ach, Anuschka, ich liebe Alphonse nicht.«
»Aber ich will ihn durch dich lieben, Osa, das wirst du spüren. Ich will es versuchen.«
Anuschka ging zu einer Bank, die unter einem großen Kastanienbaum stand. Es war finster unter dem Dach der breiten Blätter, und Anuschkas Gestalt verschwamm ganz mit dem Schatten.
»Geh, Osa, ich bitte dich, und hole meine Sachen. Alphonse wird sie dir geben.«
Der Mann machte sich auf den Weg. Als er vor dem Hause Nr. 27 stand, wußte er noch nicht, ob er träumte oder wachte. Der Buick stand noch vor der großen Haustür. Der Chauffeur las eine Abendzeitung. Die Laternen vertrieben in ihrem kleinen Umkreis das Mondlicht und schienen auf Pflaster und Häuser.
Wichmann ging langsam die breiten Stufen der Holztreppe hinauf. Als er am Klingelzug gezogen hatte, kam ihm Katja entgegen.
»Oh, Herr Wichmann sind wiedergekommen. Wo haben Sie Anuschka gelassen?«
»Anuschka singt leise, Frau Katja, sie sieht die Sterne und weites Land und will eine große Reise tun.«
Frau Katjas Augen hatten sich erschreckt geweitet. »Bitte … was sagen Sie …«
»Nichts, wovor Sie sich zu fürchten brauchen, Frau Katja. Wollen Sie so freundlich sein und mir Herrn Musa herausrufen, damit ich mit ihm sprechen kann.«
»Ich werde es tun.«
Wichmann wartete auf dem Vorplatz. Er sah die Mäntel übereinanderliegen auf dem Tuch, das Anuschka noch ausgebreitet hatte.
Marions Mantel lag oben. Als die Zimmertür auf- und zuging, drangen Stimmen in den Korridor heraus. Die Luft war dick geworden von Zigarettenrauch. Eine weiße Hand, die aus dem zierlichen, kunstvoll gestickten Bündchen des schwarzen Ärmels kam, hielt die Teetasse. Katja schien zu sprechen. Die Hand zitterte ein wenig und fing sich wieder.
Herr Musa kam allein heraus.
»Sie wünschten mich unter vier Augen zu sprechen, Herr Wichmann?«
»Was ich zu sagen habe; ist ebenso einfach wie seltsam. Frau Anuschka will auf ein Schiff gehen und fortfahren. Sie bittet um ihre Kleider und ihre Papiere.«
Hinter den Brillengläsern mit den dunklen Rädern hoben sich die Augenlider.
»Sie fahren mit ihr, Herr Wichmann?«
»Nein, Herr Musa. Ich bleibe hier und bin nichts als Frau Anuschkas Bote. Sie geht – in Liebe zu Ihnen.«
Musas Hände zuckten nervös.
»Warum ist Anuschka nicht selbst zu mir gekommen?«
»Ich weiß es nicht, Herr Musa. Sie sitzt auf der Bank am Ufer, unter der Kastanie, und wartet. Sie glaubt, daß Sie frei sein wollen, und geht – aber wenn Sie sie noch lieben und brauchen, so holen Sie Anuschka zurück. Sie liebt Sie immer.«
Musa ging auf der gestrichenen Diele auf und ab. »Ihre Botschaft ist wirklich seltsam, Herr Wichmann. Wenn ich ein bürgerlicher Mann wäre …«
»Seien Sie in diesem Augenblick nichts als ein Mensch, Herr Musa, wie Anuschka auch. Weder bürgerlich noch …« – Wichmann sah mit schmerzlichem Spott auf die guten Bügelfalten und dachte an die amerikanischen Zigaretten –››noch proletarisch.«
Musa war stehengeblieben. Er stand vor dem Haufen der Mäntel, die auf dem Boden lagen, und vielleicht sah er Marions schwarzseidenen Mantel mit Bewußtsein. Kannte er ihn? Er wandte sich brüsk um. »Einen Augenblick bitte, Herr Wichmann. Meine Lebensauffassung erlaubt nicht, irgend jemanden in Fesseln zu legen – ich gebe Anuschka frei – sagen Sie ihr das – warten Sie nur kurze Zeit. Sie werden ihre Kleider und ihre Papiere bekommen.«
»Es ist viel, worauf Sie verzichten, Herr Musa.«
»Darüber bedarf ich nicht Ihrer Belehrung. Eben weil ich Anuschka kenne – weiß ich, daß ein Zugvogel im Käfig sterben müßte. Er ist schön und froh, wenn er frei in der Luft ist.«
Wichmann antwortete nichts mehr. Er sah dem Hausherrn zu, der eine Leiter aus dem Toilette- und Badezimmer herbeischleifte und sie aufstellte, um zu dem Hängeboden im hinteren Teil des Vorplatzes hinaufzusteigen. Mit einem alten, staubigen Koffer kam er zurück. Er machte ihn auf, betrachtete sein verschrundenes Inneres und ließ ihn offenstehen, um in das Zimmer zu entschwinden. Was würden die Gäste sagen? Vielleicht waren sie snobistisch genug, die eleganten Theoretiker, um ihr Vergnügen an der kleinen Sensation zu haben.
Musa kehrte aus dem Zimmer in Begleitung Katjas zurück. Er brachte drei Kleider, zwei Paar Strümpfe mit Löchern, ein Paar Schuhe und ein leichtes Mäntelchen, noch eine Decke dazu, in der vielleicht Wäsche steckte. Katja räumte die Sachen in den Koffer. Es war merkwürdig anzusehen, wie diese rundliche Frau in Tüll und Spitze Anuschkas ärmliche Sachen packte. Der Koffer wurde kaum voll. Wichmann stand bei Musa und studierte die Papiere. Anna …, geb. 19o6 …« Es folgte der Name einer Stadt, den Wichmann sich nicht zu merken vermochte. Er steckte die Papiere zu sich, und auf einmal sah er, wie völlig hilflos Musas Augen waren, wenn er die Brille abnahm.
Katja hatte den Koffer geschlossen.
Musa putzte seine Brille.
»Ich kann Ihnen das eigentlich nicht zumuten, Herr Wichmann.«
»Wollen Sie nicht selbst zu Anuschka gehen?«
Musa ließ einen Augenblick die Hände sinken, dann setzte er die Brille wieder auf. »Nein. Es soll alles sein, wie es Anuschkas Wunsch war. Sagen Sie ihr, daß ich sie geliebt – habe.«
»Perfektum, Herr Musa?«
»Perfektum.«
Wichmann nahm den alten Koffer, er war leicht.
»Adieu, Herr Musa, Sie erlauben, daß ich mich schon ganz verabschiede.«
Frau Katja kam mit, als Wichmann den Koffer hinuntertrug. Ihre kleinen Füße in den Schuhen mit feinen und hohen Hacken wirkten wie die einer Chinesin. Der Rist trat breit hervor, und die winzigen Zehen waren abgeknickt. Sie trippelte; die Muskeln ihrer geschwungenen Waden waren gespannt. Aber die Mienen des nicht mehr jungen Gesichtes bewegten sich weich und leicht wie die molligen Hände. Wichmann ging mit ihr an dem Buick vorbei durch den Laternenschein, und der Chauffeur hob den Blick über die Abendzeitung und schaute den beiden nach.
Der Mond war gestiegen und spiegelte sich in dem schmutzigen Wasser.
»Sehen Sie, Sterne, Wichmann, viele, viele, viele. Einer ist Anuschkas. Anuschka ist bessere Seele als wir alle, wissen Sie?«
»Ich habe es erfahren.«
»Warum wird Anuschka gehen?«
»Weil ihr Stern es will. Glauben Sie das?«
»Glauben – aber ich bin sehr betrübt.«
Die Kastanie streckte ihre breiten Zweige über das Ufer zum Wasser, und Wichmann entsetzte sich vor dem Gedanken, daß die Bank leer geworden sein könne.
Aber Anuschka hatte gewartet.
Als sie Katja erkannte, ließ sie sich umarmen, die beiden Frauen herzten und küßten sich, und Katja weinte.
Dann gingen alle drei zusammen am Ufer entlang zum Hafen.
»Wir haben Angst um dich, Anuschka.«
»Warum denn Angst haben, Katja? Ich kann arbeiten.«
Wichmann hängte Anuschka den dünnen Mantel über die Schultern, sie band ein Tuch um den Kopf und schritt mit großen Schritten aus. Katja hatte ihren Arm gefaßt und trippelte mit. Die Masten im Hafen sahen immer noch schwarz und leise schwankend in den Sternenhimmel, und die dicken Kähne schliefen in dem Mondwasser und träumten von der Fahrt. Das eine Licht brannte noch.
»Jetzt will ich allein gehen«, sagte Anuschka, »und ich danke euch für alle eure Liebe, Katja und Osa.«
Sie küßte Katja, und dann gab sie ihren Mund Osa. Der Mund Anuschkas war breit und schmallippig, er war nicht schön. Der junge Mann küßte ihn anders, als er je eine Frau geküßt hatte.
»Du mußt Alphonse nicht vergessen, ich werde ihn auch nicht vergessen, Osa.«
»Gott befohlen, Anuschka. Es kann niemand über seine Kraft.«
»Du bist gut zu mir gewesen, Osa. Hier, willst du etwas haben, um an mich zu denken?«
Der junge Mann nahm das kleine Bild und steckte es in die Brusttasche zu dem harten Platindiadem. »Ich vergesse dich nicht.«
Das Mädchen ließ sich den alten Koffer geben, und dann lief sie die Steintreppe hinunter und winkte, und Wichmann und Katja winkten ihr nach und hörten das Poltern ihrer Füße und das Kläffen des Hundes, als sie wieder auf das Schiff sprang. Die breite Gestalt des Schiffers zeigte sich, und Anuschka ging mit ihm in die Kajüte. Noch einmal kam sie heraus und nickte und winkte zum Abschied, dann hatte der dicke Kahn sie verschluckt.
Katja und Wichmann konnten nicht gleich gehen. Sie schauten noch auf das leise schaukelnde Wasser, das die Schiffsleiber streichelte, und auf den Mond, der im Himmel schwamm wie ein runder, wunderbarer Fisch.
Als sie sich endlich wandten, bot Wichmann Frau Korsakoff den Arm, und sie sprachen lange nichts, während sie am Ufer zu dem Hause zurückwanderten, aus dem Anuschka fortgegangen war. Auf der Bank unter dem Kastanienbaum trocknete Frau Korsakoff noch einmal ihre Tränen, und unter dem Schein der nächsten Laterne zog sie den Spiegel und tupfte das hellhäutige Gesicht.
»Frau Marion ist eine Zauberin, große, und unter dem Stern der Venus geboren, wissen Sie?«
»Ich glaube es Ihnen, gnädige Frau.«
Der Buick war verschwunden.
Oskar Wichmann küßte Frau Korsakoff die Hand, ehe sie an der Glastür nach dem Klingelzug griff.
Als Musas Stimme hörbar wurde, stand Wichmann schon wieder unten im Hausflur.
9
Sehr langsam ging der junge Mann durch die Nacht seinem Heime zu. Alles Wirkliche schien unwirklich, nach dem das Unwirkliche wirklich geworden war.
Wenn ich nun schlafe, alter Heiliger, wirst du dann deine reichen Faltengewänder ablegen und im leinenen Kittel übers Land gehen, um Anuschka zu grüßen? Ich bin müde und verwundert wie ein Kind, das mehr gesehen hat, als es noch begreifen kann. Drüben rauscht der Ahornbaum im Wind, und es ziehen wieder Wolken über den Mond. Das Haus im Garten schläft, es schläft der Trauer und dem Leid entgegen. Weißt du das, alter hölzerner Mann? Der früheste Morgen fand den Schläfer wieder wach. Noch brach kein Sonnenstrahl durch die graue Helle, als Oskar Wichmann schon an seinem Renaissance-Schreibtisch saß. Vor ihm, auf der großen saffianledernen Schreibmappe, lag das Diadem mit seinen funkelnden Diamanten. Der Betrachter kam sich vor wie jene Jünglinge in der Sage, denen sich des Nachts Zauberkammern der Unterirdischen aufgetan haben und die des Morgens, noch mit irgendeinem Zeichen in der Hand, herumirren vor nie wieder auffindbaren Türen. Wie ein solches Zeichen aus versunkenem und verbotenem Wunderreich lag die kleine Krone vor ihm. Er erinnerte sich an den Abend, an dem er sie zum erstenmal im Lichtschimmer des Schaufensters als Königin zwischen blitzenden Ringen und matten Perlenketten gesehen hatte. Das war damals gewesen, als er in das Ministerium eintrat. Die Melodien Verdis schwangen um diesen Reif. Der junge Mann sah Aida in schwarzer Spitze mit gelben Rosen und um sie die Fülle des Lichts, das sich in Kristall und auf der Politur edler Hölzer spiegelte. Er spürte wieder den herben Duft ihres Haares. Unter dem Stern der Venus war diese Frau geboren.
Anuschka hatte sie eine böse Frau genannt.
Das Herz wand sich. Über die ersten Stunden hatten ihm Anuschka und der Schlaf hinweggeholfen, aber jetzt brannte das Feuer. Die Betäubung verging, der Schmerz wurde hell wach. Musa – der Bebrillte – der Schwätzer – er ist es wert gewesen, daß du dich weggeworfen hast, Marion – daß du einen Justus Grevenhagen verraten und mit meinen Träumen gespielt hast. – Und liebst du denn jetzt diesen? Kannst du überhaupt lieben? Oder willst du dich nur mit dem Besonderen, dem Aparten, dem Auffälligen seines Daseins schmücken, wie du dich mit Grevenhagenschem Stolz und Reichtum geschmückt hast? Bist du gekommen, du Elfenblütige, um unter den Menschen zu tanzen und sie in den Schlamm und stinkenden Tang deines Sees zu ziehen?
Still, ohne Antwort, zierlich und spöttisch glitzerte das Diadem auf der Saffianmappe.
Wie war einem Fisch an dem Angelhaken zumute? Wichmann wußte es, ja, er wußte es. Aber lieber die Zunge zerreißen, als sich noch einmal herbeiziehen lassen.
Hätte er ihr’s vor die Füße geworfen!
Jetzt lag es da und glitzerte.
Was tun, Anuschka? Gehen, fortgehen, wie du gegangen bist, in eine andre Stadt, unter andre Menschen. Eine andre Arbeit tun? Man war jung, und die Kräfte waren noch unverbraucht.
Nein, Anuschka, wir sind ein Mann und wollen dies erst zu Ende bringen.
Was tat ein Gentleman an Oskar Wichmanns Stelle? Was? Ja, was? Er wollte sich nicht rächen. Nur eine Genugtuung wollte er genießen, die, daß er Marion beschämte. Es war ein Gedanke wie Balsam, Marion Grevenhagen dreißigtausend Mark zu überweisen – da – nimm das Geld, um das es dir zu tun war. Die Gedanken mochten einmal diesen Weg laufen. Wie, wenn der Assessor über Sonntag in seine Heimatstadt fuhr und den alten vornehmen Juwelier Helmbrecht aufsuchte, der mit seinem Vater bekannt gewesen war und mit dessen Kindern Oskar gespielt hatte? Ein Diadem – sehr kostbar – eine Familie ist in Verlegenheit – sie möchte den Verkauf nicht öffentlich bekannt werden lassen. Vielleicht gibt sich eine günstige Gelegenheit unter der Hand …? Ja. Und dann? Was dann? Was tat Oskar Wichmann mit einem Betrag, nun, sagen wir, von zwanzigtausend Mark? Auf das Gutskonto überweisen, auf das Konto, das Marions leichtsinnigem Bruder auch offenstand? Oder ihr selbst den Betrag überbringen? Sie noch einmal sehen – aber wo und wie, ohne bemerkt zu werden? Vielleicht ergab sich wochenlang keine Gelegenheit, und wenn sie sich ergab, durfte er dann Justus Grevenhagen noch in die Augen blicken? Der Gatte hatte das Diadem gekauft, ohne Zweifel, mit Geldern seines Vermögens. War es ehrenhaft, wenn Oskar Wichmann sich von Marion anstiften ließ, es heimlich zu verschachern? Schomburg drängte. Drängte er wirklich? War er nicht vorläufig zufrieden, nachdem er gehört hatte, daß Grevenhagens Beamteneinkünfte noch nicht angetastet waren?
Fragen, Fragen ohne Antwort.
Du bist kein guter Geist, Marion. Verwirrung begleitet dich. Felonie, Felonie …
Oskar Wichmann hätte noch einmal fünf Jahre alt sein mögen, heimlich heulen wie ein trotziger Junge und die Tränen abwischen, ehe die Mutter sie sah, die ja doch alles wußte.
Dirne.
Wichmann faßte das Schmuckstück an wie Nesseln. Er packte es hastig ein und verschloß es in dem mittleren Fach des kleinen Schranks, zu dem er den Sicherheitsschlüssel besaß und in dem er auch einiges Wertvolle aus eigenem Besitz aufzubewahren pflegte.
Nun konnte sie ihn des Diebstahls bezichtigen! Warum denn nicht. Die Haussuchung entlarvte ihn als Verbrecher. Draußen war die Sonne aufgegangen, die Strahlen spielten am Fenster. Wichmann sehnte sich nach der Ruhe, der weltüberwindenden Stimmung des vergangenen Abends. Anuschka hatte sie ihm gegeben. Aus eigener Kraft vermochte er sie nicht wiederherzustellen. Sie war dahin. Widerwärtige Eifersucht bedrängte ihn, sein Gefühl wurde zu einem brodelnden Kessel mit häßlichen Blasen. Er haßte sich und das Weib; er haßte den Dienst, in dem er dem Namen Grevenhagen wieder begegnen mußte. Du hast recht gehabt, Anuschka, ein böser Käfer hat sich in meine Knochen gefressen, und nun wühlt er. Nichts mehr ist heiter und rein.
Assessor Dr. Wichmann kam an diesem Tag um halb acht Uhr mit den Amtsboten zum Dienst. Aber auch die Fäden der Arbeit wollten sich ihm nicht ordnen, und sein ›Wi‹ hatte einen zerfahrenen Zug. Ein unsichtbarer Angelhaken reichte bis in das Ministerium. Die Gedanken drehten und wanden sich. Marion hätte diesen Platinreif Schomburg unmittelbar als Pfand für seine Forderungen geben können. Warum denn die Umwege? Hatte sie gehofft, aus Wichmann einen höheren Betrag herauszuziehen? Allerdings, gnädige Frau, ein Verehrer, der ohne Umschweife zwanzigtausend Mark auf den Tisch gelegt hat, der besitzt wohl hunderttausend oder zweihunderttausend nach Ihrer Rechnung. Irrtum, Marion, es gibt Menschen, die bereit sind, alles zu schenken, wenn sie lieben, die alles schenkten, wenn sie liebten – es war einmal. Nimm dein Platin wieder, du kannst es ja jetzt mit Schomburg versuchen. »Wir sind mit Schomburg in großen Schwierigkeiten«? Wir? Wer? Marion und ihr Bruder Luftikus? Oder Marion und ihr Gatte? Alles blieb offen. Warum sprach Schomburg nicht mit Grevenhagen selbst? Warum wählte er die Hintertüren für seine Erkundigungen? Hatte er etwas zu verbergen? Hatte er den Gatten zu scheuen? Auch er?
Pfui, Wichmann. Wohin bist du geraten.
Nein – was hast du dir schon vorzuwerfen? Gedanken – Träume – keine Sünden, die die Welt faßt. Einmal hatten ihre Hände an seinen Wangen gelegen, einmal hatte ihr Kopf an seiner Schulter gelehnt. Ich habe dich nie geküßt, Marion. Warum muß in einem schönen Körper nicht auch eine schöne Seele wohnen? Wie du die Zigarette hieltest, Marion – ich hätte dich getötet, wenn ich nicht ein Feigling wäre.
Sie sind bieder und schal – Kasper, Korts, die Hüsch und Dieta. Du warst einmal anders als alle – aber wenn du Frau Musa sein wirst … Marion, bist du kein Geheimnis mehr – und Anuschka ist größer als du.
Anuschka, es ekelt mich hier alles an. Es ekelt mich vor mir selbst. Ist solches Gedankengewimmel eines Mannes würdig? Du hast ganz einfach gehandelt. Das wollen wir auch tun. Laß uns doch einmal ruhig nachdenken und ordnen, was ist. Wir sind um einen wunderbaren Traum ärmer geworden. Gestehen wir, daß es schmerzt, und arbeiten wir.
Wichmann wartete an den folgenden Tagen darauf, ob in der ›Stillen Klause‹ von dem Abend bei Musa gesprochen werde. Niemand erwähnte ihn. Loeb war schweigsam.
Als das Wochenende kam, meldete Oskar Wichmann ein Ferngespräch zu seiner verheirateten Schwester an und teilte mit, daß er vom Sonntagmittag bis zum Abend bei seinen Verwandten sein werde, Sonntag vormittag wolle er gern unbehelligt streunen und eine kleine persönliche Angelegenheit ins reine bringen. Er werde des Nachts hin- und herfahren – ja, mit Schlafwagen, natürlich.
In Wahrheit natürlich nicht, liebe Schwester Olga, denn Oskar hat zwanzigtausend Reichsmark verliehen und eine Barschaft von dreihundert Reichsmark am vorigen Abend in Anuschkas Manteltasche gesteckt. Er ist heute auf die Bank gegangen und hat hundert abgehoben, was nicht zu tun er doch entschlossen gewesen war.
Die Nachtfahrt war langweilig und ermüdend, aber als Wichmann in der Morgenfrühe des Sonntags durch die stillen, besonnten Straßen ging, die er alle kannte, und als die Leute ihn grüßten, die alle noch von seinem Vater Professor Ludwig Wichmann wußten, da hoben sich seine Stimmung und seine Kräfte. Er pfiff vor sich hin. Ein Frühstück in der kleinen Kneipe, in der er als Primaner den ersten heimlichen Rausch gehabt, erfreute ihn sehr. Er aß Würstchen mit Senf, ein Paar, ein zweites und ein drittes Paar. Die Sonne schien herein, und der Wirt ließ sich erzählen, was man in der großen Stadt denn am Sonntag tue und wie es wohl in den Restaurants zugehe, in denen man ein halbes Hundert Mark für ein einziges Essen mit unbewegter Miene auf den gedeckten Zahlteller legte.
Als zehn Uhr vorbei und die Würstchen verzehrt waren, machte sich der Gast auf den Weg zur Helmbrechtschen Wohnung. Sie befand sich in einem alten, gediegenen, nur zweistöckigen Haus der gartenreichen Seitenstraßen, und als der Ankömmling die Klingel drückte, kam Emmeline, das Faktotum, um zu öffnen.
»Nein, aber was, der junge Herr Doktor!« Sie lief fort, um anzumelden.
Als Wichmann bei dem alten Herrn in dem vertrauten, altväterisch reich möblierten Zimmer stand, wurde er in einen Sessel genötigt und mußte erzählen. Man sprach dies und das, von Politik, von der Arbeit, von der Stadt, von den gemeinsamen Bekannten. Es wurde Wichmann doch schwer, mit seinem Anliegen herauszurücken. Die sehr hellen blauen Augen des zierlichen alten Mannes beschworen eine Erinnerung. Endlich gab Wichmann sich einen Ruck. Zu lange konnte man einen Vormittagsbesuch nicht ausdehnen.
»Bitte stellen Sie sich vor, Herr Helmbrecht, daß ich Sie heute als Geschäftsmann – vertraulich – um ein Gutachten bitten möchte. Sie sind der einzige, zu dem ich mit diesem Anliegen kommen kann, und ich habe, ehrlich gestanden, darum die Reise hierher unternommen.«
Der Gesichtsausdruck des Juweliers mit dem weißen Henri-Quatre-Bart wechselte. Er wurde sofort ernst, es war, als ob ein dünner Vorhang vor seinen Augen niederginge. »Und was für ein Gutachten wäre das, lieber Oskar?«
Wichmann öffnete ein Paketchen und klappte den Deckel der Schmuckschatulle auf, die er sich zur Aufbewahrung des Diadems verschafft hatte.
»Der Gegenstand hier gehört einer mir gut bekannten und sehr angesehenen Beamtenfamilie, deren Namen ich zunächst nicht nennen möchte. Eine Verlegenheit – es handelt sich wohl um die Schulden eines Verwandten, die bezahlt werden sollen – eine Verlegenheit gibt Anlaß zu dem Wunsch, dieses Stück hier in nächster Zeit zu verkaufen oder zu beleihen. Der Kaufpreis war achtundzwanzigtausend Mark. Die Familie möchte sich unter der Hand und ohne Aufsehen erkundigen, ob sich eine mehr oder weniger zufällige Möglichkeit auftun kann, das Diadem ohne allzu großen Verlust abzugeben, oder zu welchem Preis ein Juwelier es heute übernehmen würde.«
»Ja, mein lieber Herr Oskar, das sind sehr schwierige Fragen.«
Der alte Herr holte eine scharfe Brille und ein Vergrößerungsglas.
»Im Juweliergeschäft rechnet man mit langen Lagerzeiten und großen Verdienstspannen beim einzelnen Stück. – Es ist auch ein wenig Spekulation dabei, und damit sieht es jetzt schlecht aus, denn die Geschäftsleute fangen an zu jammern. Man spricht mehr von Baisse als von Hausse. Das Stück ist gut, das sehe ich schon. Aber es muß einen Liebhaber finden. Haben Sie schon einmal einen Fachmann gefragt?«
»Nein.«
»In einer sehr großen Stadt finden sich natürlich immer mehr reiche und kauflustige Leute als gerade bei uns.«
»Sicher. Aber die Familie möchte die Sache nicht an die große Glocke hängen und nicht in der Oper ihrem eigenen Schmuck wiederbegegnen.«
»Tja … ja. Platin ist natürlich wertvoll, und der Stein ist schön. Ich weiß nicht, wann der Preis von achtundzwanzigtausend Mark bezahlt worden ist. Heute und bei uns – da muß ich Sie leider sehr enttäuschen – gibt ein Juwelier für dieses Stück nicht mehr als sagen wir – sechs- bis siebentausend Mark, wenn er es auf Lager nehmen muß und nicht zufällig schon einen privaten Interessenten an der Hand hat.«
»Das bedeutet allerdings einen beachtlichen Verlust – zweiundzwanzigtausend Mark Verlust. Und wie steht es mit den möglichen privaten Interessenten?«
»Reiner Zufall. Ich glaube nicht, daß eine der eingesessenen Familien bei uns das Ding kauft. Sie kennen ja die Leute hier. Höchstens ein Ortsfremder, irgendein reicher Gast, dergleichen Herren zeigen sich manchmal. Man muß warten können.«
»Was würden Sie in dem Fall raten?«
»Guter Rat ist teuer. Wenn die Familie nicht gezwungen ist zu verkaufen, würde ich den Besitz jetzt halten bis zu besseren Zeiten. Wenn sie aber verkaufen muß aus irgendwelchen Gründen, und zwar bald – dann allerdings so schnell wie möglich! Denn die Preise werden vorläufig kaum besser, wahrscheinlich aber noch schlechter.«
»Können Sie vielleicht eine Zeichnung und Beschreibung des Diadems hierbehalten, Herr Helmbrecht, für den Fall, daß einmal ein Deus ex machina in Gestalt eines englischen Lords oder eines reichen Amerikaners auftaucht?«
»Das kann ich natürlich, wenn Sie darauf Wert legen. Ich möchte Ihnen nur keine Hoffnungen machen.«
»Ihre Auskunft war mir schon sehr wertvoll und durchaus genügend. Ich danke Ihnen, Herr Helmbrecht, für die Freundlichkeit, mit der Sie sich am Sonntagmorgen meinetwegen geschäftlich bemüht haben. Vielleicht lasse ich das Stück bis heute abend hier – um diese Zeit fahre ich zurück –, und Sie werden bis dahin die Zeichnung und Beschreibung machen lassen?«
»Ich bin Ihnen dankbar, Herr Oskar, wenn es so geht und ich die Sache nicht überstürzen muß. Auf meine Diskretion können Sie sich verlassen.«
Man plauderte noch von vergangenen Zeiten und von Oskar Wichmanns Vater, dann verabschiedete sich der Assessor. Er wurde bei seinen Verwandten zum Mittagessen sehr erfreut und ein klein wenig neugierig empfangen und spürte die Versuche der älteren Schwester, über die Ursache seines plötzlichen Auftauchens etwas zu erfahren. Mit Lächeln wich er aus und blieb bei der Unterhaltung mit dem Schwager, der als Geschäftsmann über die Stimmung der Großstadt manches zu erfahren wünschte. Wichmann erreichte auch, daß er nicht an die Bahn gebracht wurde, so daß er unbemerkt noch einmal bei Helmbrecht vorbeigehen und dann in das Abteil 3. Klasse einsteigen konnte. Die Zahl der Mitreisenden war diesmal geringer, und der Heimreisende konnte sich einige Stunden auf der Bank ausstrecken. Er hatte den früheren Zug gewählt und kam schon um sechs Uhr fünfzehn morgens in der rußgeschwärzten weiten Bahnhofshalle an. Es blieb Zeit, vor dem Dienst in die Kreuderstraße zu gehen und sich zu erfrischen. Die Frau Geheimrat hatte das versäumte Sonntagsfrühstück auf den Montag verlegen lassen.
Als Wichmann an seinem Fensterplatz seinen gewohnten guten Frühstückskaffee trank, wurde drunten die Straße gekehrt. Die Uhr war noch nicht auf acht gerückt, und der Assessor griff nach der Zeitung, die Martha immer noch regelmäßig zum Frühstück mitbrachte. Nach halb neun Uhr, wenn der Ministerialdirigent im Kabriolett zum Dienst gefahren war, wollte Oskar Wichmann in der Kreuderstraße 3 ein Paketchen für Frau Grevenhagen abgeben. Vermutlich wunderte sich niemand darüber, und wenn sich die Wißbegier von irgendeiner Seite doch regte, stand Marion gewiß eine Ausrede zur Verfügung.
Die Ahornblätter hatten sich mit ihren Flächen zur Sonne gestellt. Die Rosenbeete zwischen Weg und kurzgeschnittenem Rasen standen in voller Pracht. Knospen und Blüten drängten sich und leuchteten mit ihren Farben durch die Eisenzierden des Gartentores. Das eine Fenster des Hauses, das auch im Sommer nach der Straße sichtbar blieb, lag in schimmerlosem Graublau. Wichmann hatte die Zeitung sinken lassen und schaute hinüber. Der Klang von Schritten kam an sein Ohr. Zwei Menschen gingen, der Rhythmus des Ganges verriet den ungleichen Wuchs. Von dem hellgrauen Pflaster im Morgensonnenschein hoben sich die beiden Gestalten in dem schwarzglänzenden Tuch der Reitkleidung ab. Die gemeinsame Schönheit der schlanken und aufrechten Linie ließ den Herrn und die Dame wie ein einziges Zusammengehöriges empfinden. Das hellgraue Haar des zurückkehrenden Reiters, sein schmales, Gesicht und die schlanken Hände waren die Einzelheiten, die den Charakter seiner Erscheinung dem Bewußtsein verdeutlichten. Seine Begleiterin war dunkel und weich in der Bewegung. – Er ging zwei Schritte voran und öffnete das Rosentor, und sie trat auf den sandbestreuten Weg, der das Geräusch ihrer Schritte schluckte. Die Pforte klinkte zu; der Betrachter sah die hell behandschuhte Rechte, die den Rosengriff wieder schloß. Der Kavalier führte seine Dame zwischen den blühenden Beeten und den grün schwellenden Rasenpolstern dem Hause zu. Das Schwarz der eleganten Reitkleidung, besonders wirkende Note im hellen Sommer, entschwand dem Auge des Außenstehenden.
Wichmann sah auf die Zeitung, ohne die Buchstaben zu erkennen. Er zweifelte einen Augenblick an sich selbst und daran, daß die Dame, die er soeben beobachtet hatte, dieselbe gewesen sei, die bei Alfons Musa gewesen war. Aber das Diadem in der Schatulle zeugte für die Wahrheit des bösen Traumes.
Der Assessor stand auf und ließ sich von Martha ein kleines Stück gutes Packpapier bringen.