Kitabı oku: «Hallo Amerika!», sayfa 2

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Mein erster Tag in Amerika

»Oh Papa! Papa!«, kreische ich und werfe die Arme um den scheuen, fremden Mann, dessen Gesicht sich jetzt aus der Menge schält. Er hat hohe Wangenknochen, einen markanten Kiefer, haselnussbraune Augen. Er ist groß und schlank und hat breite Schultern. »Papa!« Ich kann die Tränen nicht zurückhalten. Wie sehr mir diese hohen Wangenknochen, der markante Kiefer, die haselnussbraunen Augen fehlen! Wie sehr ich diese breiten, athletischen Schultern vermisse! Oh, Papa! Ich kann immer noch nicht glauben, dass du niemals mehr aus dem Dunst auftauchen wirst, in dem du ohne Abschied verschwunden bist. Ich kann nicht glauben, dass du für immer von uns gegangen bist. Für mich wird deine Rückkehr auf ewig ein Wunschtraum bleiben.

Mein Ausbruch erschreckt alle um mich herum, und ganz besonders den großen, schlanken Mann mit den haselnussbraunen Augen. Es ist Papas Bruder, der meine Umarmung über sich ergehen lässt und sich dann mit einem verlegenen Hüsteln hinter eine äußerst imposante Frau stellt. Das muss Tante Lilly sein, die Frau meines Onkels. Sie sieht anders aus als auf den Fotografien, die in diesen blauen Briefumschlägen aus Amerika kamen. Auch wenn sie eine unglaubliche Lebensfreude ausstrahlt, verschwindet ihr Lächeln jetzt, und ihre Augen füllen sich mit Tränen.

Mein Übereifer bringt in unsere erste Begegnung genau das, was wir zumindest am Anfang unbedingt vermeiden wollten: dass das Unaussprechliche ausgesprochen wird. Tante Lilly unternimmt den ersten Schritt zu einer Schadensbegrenzung. Sie wischt sich die Tränen ab und breitet in einer großen Willkommensgeste die Arme aus.

»Laura! Elli! Willkommen in Amerika.«

Für Mutter ist es ein Wiedersehen nach über zwanzig Jahren. Sie hat meinen Onkel und meine Tante das letzte Mal getroffen, noch bevor Onkel Abisch mit Frau und kleinem Sohn aus Europa weg nach Amerika ist. Die beiden Frauen – Mutter eher groß, schlank und leicht gebeugt, Tante Lilly eher klein und etwas füllig – halten sich an den Armen, mustern sich genau, suchen nach Anzeichen der vergangenen Jahre und fallen sich schließlich in die Arme.

»Gott sei Dank, dass ihr da seid. Wie haben schon ewig gewartet«, ruft Tante Lilly, um das Stimmengewirr zu übertönen.

»Wie seid ihr denn am Sabbat hierhergekommen?«, fragt Mutter ganz erstaunt.

»Zu Fuß. Unsere Wohnung ist in Gehweite. Hoffentlich seid ihr nicht zu müde für den Spaziergang. Aber er wird die Mühe wert sein, Laurie und Ellike. Ein gutes Sabbatmahl erwartet euch bei uns zu Hause«, sagt Tante Lilly mit fröhlichem Augenzwinkern.

Ein Sabbatmahl! Das Wort erreicht mich durch einen Nebel aus Müdigkeit, Aufregung und jahrelanger Distanz. Eine Einladung zum Sabbatmahl – wie lange ist das her? Wann haben wir etwas so Festliches, so herzerwärmend Irdisches zum letzten Mal erlebt? Etwas so Schönes?

»Was machen wir mit dem Gepäck?«, fragt Mutter.

»Vielleicht könnt ihr die Sachen bis zum Ende des Sabbat bei den HIAS-Leuten lassen. Dein Cousin Tommy kann dann später herfahren und sie holen.«

Die HIAS-Mitarbeiter sind wirklich so freundlich, das Gepäck bei sich aufzubewahren, woraufhin Mutter und ich unseren Gastgebern aus der stickigen Empfangshalle hinaus in den strahlenden Sonnenschein folgen.

Ein Spaziergang durch die Straßen von New York! Es kommt mir vor, als würde ich auf Wolken gehen. Die Schlichtheit der Lower East Side kann dem Glanz dieses Augenblicks nichts anhaben: Der Gang vom Hafen zur Wohnung meiner Verwandten in der Avenue D bleibt einer der aufregendsten, denkwürdigsten Momente meines gesamten Lebens.

Aber ich bin neugierig. Wo ist das großartige, reiche Amerika, von dem ich schon so viel gehört habe? Wo sind die breiten Straßen, die chromblitzenden Schlitten, die Himmelskratzer oder die auffällig gekleideten Amerikaner, die ich aus Filmen kenne?

»Dieser Teil der Stadt ist nicht sehr repräsentativ für Amerika. Und auch nicht für New York selbst«, erklärt Bubi. »Keine Sorge, Leanyka. Du wirst die Hochhäuser, Straßen und grell angezogenen Leute schon noch sehen«, verspricht er. »Schon bald wirst du alles sehen – und alles erleben«, fügt er in väterlichem, fast schon neckischem Ton hinzu. Auch wenn ich mich an den nur allzu gut erinnere, ist es schön, wieder einmal Leanyka, kleines Mädchen, genannt zu werden. Nach so vielen Jahren.

»Das ist eine riesige Stadt, eine Metropole. Man braucht Zeit und Geduld. Bist du denn immer noch so ungeduldig, oder besser: ungestüm wie früher?«

Mami geht mit Tante Lilly und Onkel Abisch voraus. Mein unverzeihlicher Ausbruch am Kai hat ein Loch in den Damm gerissen, und die Fragen – brennende, besorgte Fragen – bahnen sich jetzt ihren Weg. Bubi und ich gehen hinter den anderen her und können verfolgen, was da an Furchtbarem, aber Unvermeidlichem gesprochen wird. Alle drei sind leicht nach vorn gebeugt – Mami in Erwartung der Fragen, und die anderen, die amerikanischen Verwandten, in Erwartung der Antworten.

Onkel Abisch und Tante Lilly waren seit dem Ausbruch des Krieges im Jahr 1939 vollkommen von ihren Familien abgeschnitten. Und als der Krieg dann aus war und in aller Welt wieder Kontakt aufgenommen werden konnte, mussten sie feststellen, dass es gar keine Familie mehr zum Kontaktieren gab. Alle Verwandten von Tante Lilly waren umgekommen. Für Onkel Abisch, dessen Mutter, Bruder, Schwester und Schwager mitsamt ihren fünf Kindern umgebracht wurden, sind wir – die Witwe seines toten Bruders und ihre beiden Kinder – alles, was er noch an Familie hat. Nur wir können als lebendige Zeugen, als verkohlte, vom Feuer verschonte Überreste, von den Geschehnissen berichten.

Beim Gehen fällt Bubi in seine alte Rolle des großen Bruders, des Lehrers, der für mich ultimativen Quelle des Wissens. Zuerst gibt es eine Lektion in örtlicher Geografie. Er erklärt, dass New York aus fünf Boroughs, also Stadtteilen, besteht, und nennt ihre Namen – Manhattan, Brooklyn, Bronx, Queens und Richmond beziehungsweise Staten Island.

»Jetzt sind wir gerade in Manhattan. Tante Celia und Onkel Martin wohnen in Brooklyn.«

Tante Celia ist Mamis Schwester. Bei ihr und ihrem Mann werden wir wohnen, wenn wir Onkel Abisch und Tante Lilly besucht haben.

»Ich weiß. Bis wir eine eigene Wohnung haben, können wir bei ihnen wohnen, also in Brooklyn. Aber ist es wirklich so, dass man einen Pass braucht, um von Manhattan nach Brooklyn zu kommen?«, frage ich. »Mami und ich haben keinen Pass. Offiziell sind wir ›staatenlos‹.«

»Wer hat dir denn erzählt, dass man dazu einen Pass braucht?«, fragt Bubi überrascht.

»Der Kapitän von unserem Schiff. Er hat gesagt, dass Brooklyn Ausland ist. Dass man extra eine Brücke überqueren muss und dafür eben einen Pass braucht.«

»Das hat er im Ernst gesagt?«, kichert Bubi. »Schwesterchen, glaub mir: Er hat dich nur veräppelt. Brooklyn gehört zu New York City, genau wie Manhattan. Das mit der Brücke stimmt, weil Manhattan eine Insel ist. Egal wohin man will, es kommt immer zuerst eine Brücke. Auch in die Bronx. Oder nach Queens.«

»Der Captain hat gemeint, das sei ›kidding‹«, gestehe ich meinem Bruder. »Aber ich wusste nicht, was es heißt.«

Wir erreichen die Wohnung meines Onkels und meiner Tante. Sie ist klein, aber schön geschnitten und makellos sauber. Der Esstisch ist schon eingedeckt: ein Damasttischtuch, darauf feinstes Porzellan, Silberbesteck und Kristallgläser. Und es riecht herrlich nach einem traditionellen Sabbatmahl.

Mein Cousin Tommy, der einzige Sohn von Onkel und Tante, trifft jetzt mit Freunden der Familie ebenfalls ein. Die Goldsteins kommen ursprünglich auch aus Ungarn und begrüßen uns freudig. Ihre beiden halbwüchsigen Töchter, dreizehn und fünfzehn Jahre alt, tragen Lippenstift und Schuhe mit hohen Absätzen! Obwohl sie so jung aussehen, sind sie wie erwachsene Frauen angezogen.

Wir setzen uns zu unserem festlichen Sabbatmahl. Tante Lilly serviert eine erstaunliche Vielfalt an Gerichten – Gefilte Fisch, Hühnersuppe, Roastbeef, Kugel, Tscholent und Schnitzel –, alles in feinsten Porzellanschüsseln angerichtet. Aus geschliffenen Gläsern trinken wir Wein, Selters oder Bier. Und der Nachtisch – Apfelstrudel und Tee – kommt auf kleinen Extratellern und in hauchdünnen Porzellantässchen.

Mein Gott. In Amerika ist die Zeit stehengeblieben. Unglaubliche Mengen von Essen, das ohne viel Nachdenken verzehrt wird. Ein richtiger Überfluss an Nahrung und Getränken – der als selbstverständlich erachtet wird! Hier war kein Krieg. Hunger, Lebensmittelrationierung … all das gab es hier nie. Der Abgrund zwischen Vorher und Nachher ist einfach nicht vorhanden. Edles Porzellan, Silberbesteck, schönes Teegeschirr, eine Tischdecke aus Damast. Die Alte Welt, die Welt des Vorher, die uns verloren ging und jetzt einem Nimmer-Nimmerland angehört, ist in Amerika Gegenwart. In der Neuen Welt erfreut sie sich bester Gesundheit!

Wo gehöre ich hin? Werde ich den Abgrund zwischen diesen beiden Wirklichkeiten jemals überbrücken? Werde ich den amerikanischen Luxus je genießen können, ohne mich an Not und Elend zu erinnern und ein schlechtes Gewissen zu haben? Werde ich mich jemals daran gewöhnen, den Überfluss so beiläufig wie die Amerikaner zu genießen? Kann ich wirklich einmal werden wie sie?

»Mom, der Riemen an meinem linken Schuh ist gerissen«, sagt die ältere der Goldstein-Töchter.

»Das ist aber blöd«, meint ihre Mutter. »Die sind doch ganz neu. Ich habe sie passend zu deinem Kleid gekauft.«

»Was soll ich machen? Ohne Riemen kann ich nicht gehen!«, ruft das Mädchen verzweifelt.

»Gleich am Montag kaufe ich dir neue«, verspricht die Mutter, was das Mädchen zu beruhigen scheint.

»Kannst du den Riemen nicht flicken lassen?«, frage ich.

»In Amerika reparieren wir die Dinge nicht«, erklärt mir Frau Goldstein. »Wenn etwas kaputt geht, kauft man etwas Neues.«

»Gibt es hier denn keine Schuster?«

»Die sind eher selten, und eine Reparatur ist teuer. Manchmal ist es billiger, wenn man etwas Neues kauft. Oder auch etwas ganz anderes.«

»Und was passiert mit dem, was kaputt ist?«

»Man wirft es weg.«

»Wirft es weg?«, rufe ich erstaunt. Man wirft ein Paar Schuhe weg, nur weil ein Riemen gerissen ist? Ich sehe mir unter dem Tisch die Schuhe an. Es sind wunderschöne Pumps aus cremefarbenem Leder. Hätte ich doch nur so elegante Schuhe! Ich würde sie selbst reparieren. Mit ein paar Stichen wäre der Riemen wieder angenäht. Wirklich eine Schande!

Ich bin völlig schockiert. Das ist Amerika? Halbwüchsige Mädchen, die Lippenstift und hochhackige Schuhe tragen! Cremefarbene Lederpumps, die man wegen eines gerissenen Riemens wegwirft!

Wie mag sich sein anfühlen, wenn man für jedes Kleid ein passendes Paar Schuhe hat? Wie viele Schuhe haben diese Mädchen denn? Ich war bislang glücklich über das eine Paar, das ich hatte … auf ewig dankbar, dass sie passen … stets in Gedanken an die Schuhe, die ich in den Todeslagern tragen musste, an die Schmerzen bei den endlosen Märschen – in Schuhen, die zwei Nummern zu klein waren.

Werde ich diese Schmerzen jemals vergessen? Werde ich aufhören, Gott für den Luxus bequemer Schuhe zu danken? Werde ich je wie ein amerikanischer Teenager sein und ein Paar gute Schuhe wegwerfen, nur weil sie einen winzigen Fehler haben?

Bitte, lieber Gott. Hilf mir, mich in Amerika zurechtzufinden.

Der Broadway

Nachdem die Goldsteins mit Tommy als galanter Begleitung gegangen sind, meint Tante Lilly, wir sollten uns eine wohlverdiente Pause gönnen, bis Tommy uns dann abends nach Brooklyn bringe.

»Ich würde lieber eine Runde drehen, wenn Bubi ebenfalls Lust dazu hat«, sage ich und werfe meinem Bruder einen fragenden Blick zu.

»Okay«, meint Bubi, woraufhin wir uns von Mami, Tante Lilly und Onkel Abisch mit dem Schabbes-Gruß verabschieden.

»Wo möchtest du hin?«

»Einfach ein bisschen gehen. Irgendwohin. Gibt es einen Park in der Nähe?«

»Nicht wirklich.«

Ein paar Minuten lang gehen wir, ohne etwas zu sagen. Nach unserer vierjährigen Trennung wäre so viel zu besprechen, so viel zu fragen. Aber wo soll ich anfangen?

»Sag mal …« Mein Bruder spricht als Erster. »Als du heute Morgen Onkel Abisch am Kai gesehen hast – warum hast du da geweint und ihn Papa genannt? Hast du gedacht, es ist Papa? Hat er dich so sehr an ihn erinnert? Weil, eigentlich ist er gar nicht wie unser Vater, weder vom Aussehen noch von der Art her. Es gibt keinerlei Ähnlichkeit.«

Mir schießen die Tränen in die Augen.

»Für mich schon. Alles an ihm erinnert mich an Papa. Seine Figur, die hohen Wangenknochen, die braunen Augen … Er hat die gleiche Ausstrahlung wie Papa. Ach, Bubi, ich vermisse ihn so sehr!«

»Seit dieser Szene am Kai musste ich nachdenken. Du hast Papa nicht gut gekannt, das konntest du ja auch gar nicht. Du warst noch klein, als sie ihn abgeholt haben. Ich habe ihn gut kennengelernt, bevor das alles anfing, aber du … Wie viel Zeit hast du denn mit ihm verbracht? Also, um ihn wirklich kennenzulernen?«

»Aber das habe ich. Er hat mir Schwimmen und Radfahren beigebracht. Als du dann in Budapest studiert hast, hat er mich Schachspielen gelehrt. Stundenlang haben wir gespielt, oft bis spät in die Nacht. Erinnerst du dich an die Turngeräte. Die Ringe, die Reckstange und die Schaukel, die er im Garten aufgebaut hat? Und wie er uns gezeigt hat, wie man sie benutzt? Daher kommt, glaube ich, meine Liebe zum Sport.«

Wie glücklich Papa war, als ich in all dem aufging … wie stolz. Ich war ein Mädchen nach seinem Geschmack, sagte er dann. Wenn ich seither schwimme oder radfahre, ist immer Papa neben mir und feuert mich an. Bis heute höre ich seine Stimme:

Gut so, mach weiter! Nur noch ein bisschen! Nicht aufgeben! Gib niemals auf!

»Erinnerst du dich an sein Fremdwörterbuch? Wir haben gemeinsam darin geblättert. Er hat mir die Herkunft von Fremdwörtern im Ungarischen erklärt, und ich habe sie mir gemerkt. So entstand meine Liebe zu Sprachen.«

Den wahren Grund für meine Nähe zu Papa kann ich meinem Bruder nicht erklären. Als er schon auswärts studierte, hörte ich Mami einmal zu Papa sagen, Bubi sei so wie ihre Familie, also ihre Brüder, wohingegen ich eher Papa nachschlagen würde. »Bubi hat einen klugen Kopf«, gab er zu. »Aber Elli hat Sitzfleisch. Sie hat Durchhaltevermögen. Auf lange Sicht kann einen Durchhaltevermögen weiter bringen als ein kluger Kopf.«

»Ich kann mich gut an das Fremdwörterbuch erinnern«, sagt Bubi lächelnd. »Er hat sich sehr für die Etymologie der Wörter interessiert. Und klar erinnere ich mich auch an die Geräte, an denen er so gern geturnt hat. Dir hat das ja auch gefallen – im Gegensatz zu mir.«

Wir gehen durch die farblosen Straßen der Lower East Side und sprechen über die Donau daheim in der Tschechoslowakei, ihre silbrigblauen Wellen, das leuchtende Grün des Waldes und die langen, faulen Sommernachmittage, als Papa nach ausgiebigem Schwimmen erst mit uns Fußball spielte und dann Bubi in den Schatten am Flussufer zog, um mit ihm das Wochenpensum des Pentateuch oder eine Seite im Talmud durchzugehen.

»Nie werde ich den Abschnitt des Talmud vergessen, den wir am letzten Abend gelernt haben, also am Abend vor seiner Verhaftung«, sagt Bubi nachdenklich und fast schon heiser. »Er meinte: ›So möchte ich mich von dir verabschieden – beim Auswendiglernen eines Talmud-Abschnitts. Denk an diese Stelle, wenn du an mich denkst.‹«

Bubi bricht ab und wir gehen über das ausgebleichte Ziegel-Trottoir an geschlossenen Läden vorbei. Plötzlich tauchen die langen Schatten der Mietshäuser die Straße in Dunkelheit, und Bubi wird auf einen Schlag bewusst, wie spät es schon ist.

»Wir müssen zurück«, sagt er abrupt. »Wir sind viel zu weit gegangen. Wir müssen zurück in Onkel Abischs Wohnung, bevor der Sabbat vorbei ist.«

Wir sind tatsächlich zu weit gegangen. Obwohl Bubi und ich wie die Rennpferde durch dunkle Straßen und Gässchen galoppieren, brauchen wir über eine halbe Stunde bis zur Wohnung unserer Verwandten.

»Wo wart ihr denn?«

Die gesamte Familie Friedman ist außer sich vor Sorge.

»Ihr könnt aufhören, euch Sorgen zu machen«, instruiert Bubi, ganz der kühle Pragmatiker, unsere leicht erregbare ungarische Verwandtschaft. »Wir sind wieder da, trocken und gesund, und dabei ist noch nicht einmal der Schabbes vorbei.«

Tatsächlich ist der Schabbes vorbei, und zwar seit einiger Zeit. Tommy ist gegangen, um seinen Wagen zu holen und uns zuerst an den Kai, wo unser Gepäck ist, und dann nach Brooklyn zu bringen.

Mami und ich verabschieden uns von unserer amerikanischen Familie, die verspricht, uns bald in Brooklyn besuchen zu kommen.

Mir klopft das Herz, als ich auf der durchgehenden Vorderbank von Tommys neuem Wagen sitze, also zwischen Mami und dem Fahrer. Diese amerikanischen Autos sind so breit gebaut, dass man gut zu dritt vorne sitzen kann. Was für ein wunderbares Erlebnis, auf den entgegenkommenden Verkehr zuzusteuern, dieses Meer aus blendenden Lichtern und dröhnenden Hupen.

»Ist es in New York jeden Abend so?«, frage ich.

»Vor allem samstags. Am Samstagabend gehen die Leute aus. Sie kommen aus allen Stadtteilen hierher nach Manhattan, um ins Theater, Kino, Konzert oder Restaurant zu gehen. Zum Glück fahren wir in die andere Richtung, sonst würden wir mit im Stau stehen. Gleich sind wir an der Brooklyn Bridge. Um diese Zeit sieht sie besonders toll aus.«

»Ich habe noch nie im Leben so viele Autos gesehen!«, ruft meine Mutter.

Tommys Wagen erreicht die Abfahrt der Brücke und biegt dann in eine herrliche Avenue ein, eine breite, von Bäumen gesäumte Straße, die viele Meilen lang ist.

»Ist das der Broadway?«

»Der Broadway? Oh nein! Wir sind jetzt in Brooklyn. Vor zwanzig Minuten haben wir die Brooklyn Bridge überquert. Der Broadway ist drüben in Manhattan.«

»Und was ist das für eine Straße?«

»Die Ocean Avenue. Die Straße, in der Tante Celia und Onkel Martin wohnen«, ruft mein Bruder vom Rücksitz.

»Im Ernst? Ich hätte nicht gedacht, dass es in Brooklyn so breite Straßen gibt. Ich dachte …«

»Deshalb heißt es ja Avenue«, erklärt mein Bruder. »Eine breite Straße, so wie ein Boulevard.«

»Und der Broadway ist dann noch breiter? Ist er weit entfernt?«

»Willst du den Broadway sehen?«, fragt Tommy. »Wenn du willst, bringe ich dich morgen hin.«

»Wirklich? Ich kann es kaum erwarten, den Broadway zu sehen. Und die Himmelskratzer. Papa hat gesagt, am Broadway gibt es Himmelskratzer – Häuser mit mehr als hundert Stockwerken.«

»Nur eines ist so hoch«, sagt Tommy. »Das Empire State Building. Aber das ist nicht am Broadway.«

»Außerdem heißt es Wolkenkratzer«, schaltet sich Bubi erneut von hinten ein.

Ich erinnere mich gut daran, dass New York für Papa die Stadt seiner Träume war und er hoffte, eines Tages hierher kommen zu können. Aber ich darf nicht darüber sprechen. Nicht jetzt. Ich darf Tommy nicht erzählen, dass Papa mir das schönste Kleid kaufen wollte, das es auf dem Broadway gibt. Papa hat mir Bilder gezeigt und mit dem Finger auf eines dieser gewaltigen Gebäude gedeutet. »Das hier ist mehr als hundert Stockwerke hoch. Kannst du dir so etwas vorstellen? Irgendwann gehen wir beide, du und ich, den Broadway entlang und sehen hinauf zur Spitze des Gebäudes, die bis in den Himmel reicht. Deshalb nennt man sie wohl auch Himmelskratzer. Siehst du diese riesigen Schaufenster? »Wir gehen in eines dieser schicken, großen Geschäfte auf dem Broadway, und ich kaufe dir das schönste Kleid, das sie haben.« – »Oh Papa«, rief ich dann und schlang die Arme um ihn. »Oh Papa, ich hab’ dich so lieb.«

Das war unser Spiel in jener dunklen, schwierigen Zeit. Damals hatten wir bereits zwei Jahre darauf gewartet, dass auf der amerikanischen Immigrationsliste die Reihe an uns käme. Der Krieg tobte, und Hitlers Armeen rückten immer näher und sorgten bereits dadurch für Panik. Und von der Amerikanischen Botschaft war nicht zu erfahren, wann wir denn um Gottes Willen endlich unsere Einwanderungsvisa bekommen würden. Es schien hoffnungslos zu sein, aber trotzdem hielt uns Papa bei Laune, indem er Geschichten von der irrsinnigen Metropole erzählte, die wir ›irgendwann‹ erreichen würden.

»Da wären wir«, sagt Tommy, als er rechts heran fährt und den Wagen vor einem großen, prächtigen Gebäude parkt. »2010 Ocean Avenue.«

»Hier wohnt Tante Celia?«

»Ja«, meint Bubi. »Das ist das Haus.«

Ich sehe fasziniert an dem Gebäude hoch und gehe dann hinter Mami die drei oder vier Stufen zum Eingang hinauf und hinein in die geräumige Lobby. Die beiden Jungs folgen uns und tragen dabei das Gepäck bis ans Ende der Vorhalle. Ich traue meinen Augen nicht. Mit ihren blitzblanken Böden und dem großen Kamin wirkt die Lobby so vornehm wie ein Wiener Palais der Jahrhundertwende. Das entspricht schon mehr dem Amerika, das ich mir erträumt habe.

Am Ende der Lobby gehen wir die Treppe zum ersten Stock hinauf. Bubi klingelt ganz links in der Ecke an einer Tür, und ich merke, dass ich einen Frosch im Hals habe. Binnen Sekunden wird die Tür aufgerissen, und Tante Celia, genauso groß und schön wie in meiner Erinnerung, steht da und begrüßt uns.

»Laura! Elli!«

»Celia!«

Wir fallen uns glücklich in die Arme, wobei sich in die Freude auch Trauer mischt. Mir fällt ein anderes Wiedersehen ein, an einem anderen Ort und zu anderer Zeit. Wie lange ist das her? Wir sind festgefroren in einer schweigenden Umarmung, und plötzlich verwandelt sich das Treppenhaus um mich herum. Ich befinde mich an einem ausgetrockneten Ort im gleißenden, alles versengenden Sonnenlicht … und sehe in der Ferne eine dürre Gestalt umherwandern, die »Laura! Laura! Laura!« ruft. Es ist meine Tante, die jüngste von Mamis Schwestern, die auch jetzt noch, im grauen Sackgewand und mit geschorenem Kopf, unglaublich elegant wirkt. »Tante Celia!« Sie sieht mich ungläubig an und umarmt mich stürmisch. »Elli! Meine kleine Elli! Du bist hier? Wie ist das möglich? Und deine Mutter … wo ist deine Mutter?« Ihre Tränen verschmieren mir das Gesicht, als ich sie zu dem staubigen Loch führe, wo Mutter eingeschlafen ist. Tante Celia kriecht ebenfalls hinein, und die beiden Schwestern begrüßen sich in stillem Entsetzen, halten einander stiller umklammert und weinen still in diesem sengend heißen Dreckloch in Auschwitz, dem furchtbarsten aller Konzentrationslager … nur um dann auch wieder getrennt zu werden.

Wie lange ist das her? Und jetzt stehen wir drei, nach Jahren der Sehnsucht, erneut in einer innigen Umarmung. Diesmal aber in einer neuen Welt und an der Schwelle zu einem neuen Leben.

Das Glück unserer Wiedervereinigung ist vom Schmerz der Erinnerung getrübt. Unsere Tränen der Freude vermischen sich mit denen der Trauer über die unsäglichen Verluste, die wir seit jenem Treffen an unserem ersten Tag in Auschwitz erlitten haben. Der Geist des siebzehnjährigen Imre, dem einzigen, vielgeliebten Sohn von Tante Celia und Onkel Martin, ist in dieser Umarmung mit anwesend, während wir, immer noch weinend, von Tante Celia in ihr amerikanisches Zuhause geführt werden.

Onkel Martins strahlende Augen stehen bei der Begrüßung in krassem Gegensatz zu den deutlichen Spuren seiner Trauer – die tiefen Falten in dem jungenhaften Gesicht und die grauen Strähnen in seinem früher komplett roten Haarschopf.

»Wie geht es meiner allerliebsten Schachpartnerin?«, fragt er, als er meine Mutter umarmt. Und als ich dann an der Reihe bin, meinen geliebten Onkel zu umarmen, kann ich die Tränen genauso wenig zurückhalten wie heute Morgen beim Wiedersehen mit Onkel Abisch. Was ist nur mit mir los? Warum habe ich meine Gefühle nicht im Griff? Vor meinem neuen Cousin – wie peinlich. Und vor meinem Bruder. Er hat immer Heulsuse zu mir gesagt, auch wenn er jetzt zum Glück keinen Mucks macht.

Mein Weinen lässt Onkel Martins Augen rot werden, und er flüstert: »Es gibt so viel, über das wir reden müssen … Gott sei Dank seid ihr jetzt da.«

In der kargen, hell erleuchteten Küche ist ein Tisch für sechs gedeckt. Aber mein Bruder und mein Cousin lehnen die Essenseinladung dankend ab. Bubi muss wieder an seine Talmud- Hochschule, die Yeshiva University, und Tommy hat angeboten, ihn hinzubringen.

»Morgen um neun«, verspricht Tommy, »hole ich dich ab und wir fahren zum Broadway. Und zum Empire State Building.«

Nach dem Essen reden wir vier noch lange weiter. Es gibt so viel zu erzählen, so viel, woran wir uns erinnern müssen. Und so viel zu tun.

Es ist schon nach Mitternacht, als Celia und Martin das Castro-Sofa im Wohnzimmer aufklappen und in ein Doppelbett für Mutter und mich verwandeln. Als wir uns dann gute Nacht sagen und ich in die Federn krieche, kann ich erstmal nicht einschlafen. Was für ein langer Tag das gewesen ist! Die Flut an neuen Eindrücken umtost mein inneres Auge. Ich liege da und denke an alles, was ich seit dem Morgen erlebt habe.

Aber es gibt da noch etwas, das mich vom Schlafen abhält. Jede halbe Stunde ertönt ein ohrenbetäubendes Geräusch, das wie das Rattern eines vorbeifahrenden Zuges klingt. Wie soll man bei so einem Lärm schlafen?

»Das ist die Hochbahn«, erklärt mir Tante Celia am nächsten Morgen. »Die Brighton-Linie des U-Bahn-Netzes, nur vier Blocks von hier entfernt.«

»Du gewöhnst dich schnell daran«, sagt mein Onkel lachend. »Bald wirst du ohne sie gar nicht mehr schlafen können.«

Wir frühstücken zu viert. Es gibt Orangensaft, Roggenbrot mit Streichkäse und Instantkaffee mit Milch aus dem Pappkarton – mein erstes amerikanisches Frühstück. Dann geht Onkel Martin in die Fabrik, in der Mützen und Hüte für Kinder hergestellt werden.

Tommy ist pünktlich. Exakt um neun steht er vor Tante Celias Tür, bereit für den versprochenen Tagesausflug.

Der Broadway ist nicht so breit, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Und Tommy hat recht: Es gibt keine Wolkenkratzer, nur zwei-, drei- oder vierstöckige Gebäude.

»Warum heißt er Broadway, wo er doch gar nicht so breit ist?«

»Keine Ahnung. Es gibt sicher eine Geschichte zu dem Namen. Das ist fast immer so.«

Aber als wir Mid-Town Manhattan erreichen, wird der Broadway richtig spannend. Buntes Verkehrstreiben. Prächtige Schaufenster. Riesige Farbplakate und Leuchtschriften werben für alles Mögliche, von Theaterstücken über Filme bis hin zu Camel-Zigaretten. An einer der Reklamen kann ich mich gar nicht sattsehen. Sie zeigt einen Mann mit Filzhut, dessen Mund offen ist – und der zwischen den Lippen Rauch ausstößt! Eine rauchende Werbetafel! Tommy biegt vom Broadway ab und fährt Richtung Empire State Building.

»Ich parke hier irgendwo und wir gehen den Rest zu Fuß.«

Als wir das Empire State Building erreichen, verschlägt es mir fast den Atem. Ich lege den Kopf nach hinten, um bis hinauf zur Spitze zu sehen, und es scheint zu schwanken. Während oben die Wolken ziehen, sieht es aus, als würde das Gebäude in die Gegenrichtung kippen. Vor lauter Schreck muss ich mich fast übergeben.

Oh Papa, es ist Wirklichkeit geworden. Der »Himmelskratzer« ist tatsächlich so aufregend, wie du gesagt hast. Und die Geschäfte am Broadway sind genauso prächtig. Aber wo bist du, Papa? Du hast versprochen, dass du mit mir den Broadway entlang schlenderst und mir das schönste Kleid schenkst. Ich stehe hier am Fuß des Empire State Buildings, dem höchsten Gebäude in der Stadt deiner Träume, und das Massengrab in Bergen-Belsen überdeckt alles mit seinem gewaltigen Schatten. Und für einen Moment verwandelt sich die Aufregung zu Asche in meinem Mund.

Aber ich werde nicht zulassen, dass das Massengrab über deine Träume entscheidet! Die Träume sind nicht in Bergen-Belsen begraben. Ich sorge dafür, dass sie hier in New York weiterleben. Ich werde all deine Träume weiterleben lassen. Jeder einzelne davon wird wahr werden.

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