Kitabı oku: «Was sie nicht umbringt», sayfa 2

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Mein Zuhause war ein aufgebockter Wohnanhänger.

Der Besitzer von dem ganzen Krempel kauft nicht nur gebrauchte PKWs und Nutzfahrzeuge, sondern manchmal auch Caravans und Wohnmobile. Meine Kiste hatte fast ihr ganzes Leben in der Gegend von Poole Harbour in Dorset verbracht, und wenn das Wetter feucht genug ist, mieft die Einrichtung immer noch nach Salzwasser und Meeresschimmel.

Ich hätte ja lieber einen fahrbaren Untersatz mit Rädern, dann könnte ich ihn im Notfall an einen Wagen hängen und mit Sack und Pack umziehen. Um einen stillgelegten Hänger vom Fleck zu kriegen, musst du ihn auf einen Laster hieven, und so was braucht seine Zeit. Aber als der Besitzer mich eingestellt hat, konnte er mir nur diese Kiste ohne Räder anbieten. Und – Mief hin oder her – ich musste zugeben, ein Platz im Obdachlosenasyl konnte dagegen nicht anstinken.

Zu der Zeit passte mein gesamtes Hab und Gut noch in eine Plastiktüte. In den sechs Monaten, die ich in dem Hänger wohne, hat sich ein bisschen mehr angesammelt, aber ich kann mir etwas darauf einbilden, dass ich trotzdem im Falle eines Falles innerhalb von zehn Minuten mit dem Nötigsten bepackt und abmarschbereit sein könnte.

Ich will dir ein Geheimnis verraten – ich schleppe ständig eine Zwei-Unzen-Tabaksdose mit mir herum, und in dieser Dose habe ich alles, was ich zum Licht- und Feuermachen, zum Kochen und für kleinere Wehwehchen brauche. Wachsstreichhölzer, eine flach geschabte Kerze, Skalpellklingen, Draht, ein Sägeblatt, wasserfestes Pflaster, Nadel und Faden, Aspirin, Teebeutel und Brühwürfel. Schon erstaunlich, was man alles in einer Zwei-Unzen-Tabaksdose unterbringen kann, wenn man wissenschaftlich vorgeht.

Die Idee habe ich aus dem SAS Survival-Handbuch. Ich fühle mich sicherer damit, und ich kann es nur jedem empfehlen, der regelmäßig mitten in der Nacht hochschreckt, weil er vor Überschwemmungen, Feuersbrünsten, radioaktiven Niederschlägen oder Obdachlosigkeit Angst hat. Lass dir eins gesagt sein: Sei stets auf das Schlimmste gefasst, dann schläfst du besser.

Die Nacht ist für mich die schlimmste Zeit. Ich gehe lieber weg und unternehme was, als dass ich alleine im Dunkeln liege und nicht einschlafen kann. Darum ist dieser Nachtwächterjob auch so ideal für mich. Ich darf nicht einschlafen, und wenn ich Gesellschaft brauche, sind immer Ramses und Lineker da oder ich kann durch den Zaun mit irgendwelchen Nachtschwärmern ein paar Worte wechseln.

Nachdem ich meinen Rundgang beendet hatte, ging ich zum Hänger, weil ich Kohldampf hatte. Ein Briefumschlag klebte an der Tür. Ich riss ihn auf und las den Zettel im Licht der Taschenlampe. Er war von heute, und es stand eine Nachricht darauf: Morgen Abend um sechs, Mr. Cheng.

Mr. Cheng macht nie viele Worte. Mr. Cheng ist überhaupt ein sehr zugeknöpfter Mensch. Wahrscheinlich glaubt er, ich kann nicht lesen und er tut mir einen Gefallen, wenn er mir kurze Briefe schreibt. Er meint, alle Nicht-Chinesen wären dumm, und verglichen mit Mr. Cheng sind sie es vielleicht sogar. Ich könnte ihn jederzeit kleinkriegen und in die Tasche stecken. Aber das würde ich mir nie erlauben, weil sich Mr. Cheng nämlich keine Unverschämtheiten gefallen lässt.

Ich steckte den Zettel ein und schloss die Tür auf.

Ich war sehr zufrieden. Was Mr. Cheng auch von mir wollte, es lief auf jeden Fall darauf hinaus, dass ich mir morgen ein bisschen Knete nebenbei verdienen konnte. Extraknete ist nie zu verachten. Mit diesem Job verdiene ich mir das Nötigste – ein Dach über dem Kopf und was zum Essen –, aber wenn ich was auf die hohe Kante legen oder mir die Zähne richten lassen will, brauche ich einen kleinen Nebenverdienst. Deshalb das Catchen und Mr. Cheng.

Ich ließ die Hängertür offen, damit der Meeresmief abziehen konnte. Ehrlich gesagt, miefte ich selber nicht schlecht. Wegen dem Krach mit dem Macker der Blonden Bombe hatte ich mich in Rübenstadt nicht waschen können.

Harsh sagt, ein Kämpfer muss in Dingen der Körperpflege immer hundertprozentig auf sich achten, also pumpte ich mir Wasser hoch und setzte zwei volle Kessel aufs Gas.

Ich habe auch einen Heißwasserboiler, aber der braucht Strom, und ich verbrauche im Hänger keinen Strom. Wer Strom verbraucht, kriegt Stromrechnungen. Der Hänger ist ans Netz angeschlossen und hat einen Zähler, aber der Mensch, der den Zähler abliest und entscheidet, was ich zu blechen habe, ist Mr. Gambon. Und nachdem er mich in den ersten Monaten ein paarmal saftig übers Ohr gehauen hat, habe ich beschlossen, dass ich auf den Scheißstrom verzichten kann. Ich habe Taschenlampen, und ich habe Gas. Wenn das Gas alle ist, besorge ich mir eine neue Flasche, und wenn die Batterien leer sind, kaufe ich mir neue.

Ich bin mein eigener Herr. Stimmt’s?

Nachdem ich mich gewaschen hatte, zog ich mir einen sauberen Trainingsanzug an. Dann machte ich mir eine Kanne Tee und wärmte ein paar Büchsen Eintopf auf. Harsh sagt, ich soll grünes Gemüse essen, aber in dem Eintopf waren nur Kartoffeln und Möhren. Zwar nicht gerade grün, aber immerhin Gemüse, das musste reichen. Harsh sagt auch, dass ich kein Weißbrot essen soll. Aber ich mag kein Graubrot und vor allem kein Vollkornbrot, mit den ganzen Körnern drin. Es kommt vor, dass man sich Zahnschmerzen einfängt, wenn man draufbeißt.

Es kommt auch manchmal vor, dass ich denke, Harsh redet nur Scheiße. Fast alles, was er mir rät, ist entweder anstrengend oder es schmeckt nicht.

Kompromissbereit aß ich zwei Schnitten Weißbrot und zwei Schnitten Graubrot.

Beim Essen starrte ich mein Plakat an. Ich hatte die Taschenlampe so hingestellt, dass das Licht voll darauf fiel. »Eva Wylie«, stand darauf, »Die Londoner Killerqueen«.

Auf dem Foto sah ich nach rechts in die Kamera. Ich war ganz in Schwarz und ließ meinen Bizeps spielen. Kein schlechter Bizeps, auch wenn ich es selber sage.

»Brutal«, sagte ich zu mir. »Echt brutal.«

Es gab mir das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Es gab mir das Gefühl, real zu sein.

Aber nach einer Weile sah ich nach unten in den Topf. Ich sollte nicht aus dem Topf essen, ich weiß, aber ich bin ja alleine, also macht es nichts. Die verkrusteten Eintopfreste auf dem Boden erinnerten mich irgendwie an die toten, von vielen Wagen plattgefahrenen Füchse auf der Straße.

Ich fragte mich, wo wohl die Zeit geblieben war, und schon ging es mir nicht mehr so gut. Die Zeit macht das manchmal – offenbar spielt sie Bockspringen mit sich selber. Und dann fühlt man sich ganz verloren.

Lineker bellte, also riss ich mich zusammen und sah nach, was anlag.

Lineker ist ein schönes Tier. Nichts als Muskeln. Sein kurzes Fell ist so glänzend, dass es aussieht, als hätte ihn einer mit der Spraydose eingesprüht. Aber sein Bellen … irgendwie fistelig und übergeschnappt, wie die Stimme eines kleinen, rothaarigen Mannes.

Ramses hat O-Beine und einen Stiernacken. Er bellt nicht oft, aber wenn er bellt, hört es sich an wie ein Elektrobass – eigentlich ziemlich melodisch, aber auch gefährlich.

Vor dem Zaun standen zwei Jugendliche, die mit Stöcken nach Lineker stocherten. Lineker war total aus dem Häuschen. Aber Ramses stand im Dunkeln und wartete.

Wenn du zwei Jungs auf einem Haufen siehst, hast du zwei Leute vor dir, die was im Schilde führen. Das weiß jedes Kind. Ich wette mit dir um einen Wochenlohn, dass drei Viertel von allem Unheil auf dieser Welt von männlichen Jugendlichen im Alter zwischen acht und achtzehn Jahren angerichtet wird.

Was soll’s? Solange sie in meinem Revier nichts anrichten, kann es mir egal sein.

Ich sagte: »Ihr seid aber spät noch unterwegs.« Bloß nichts überstürzen, das ist die Devise. Ich hätte sie sofort wegjagen können, aber ich behielt meine relaxte mentale Einstellung bei. Wenigstens mal jemand, mit dem man reden konnte.

Der Bursche mit dem Stock trat vom Zaun weg. Sein Kumpel sagte: »Wir haben bloß mit dem Hund geredet.«

»Seid lieber vorsichtig«, sagte ich. »Er ist ziemlich bösartig.«

»Mein Bruder hat einen Dobermann«, sagte der Junge mit dem Stock zu niemand Bestimmtem. Sein Kumpel glotzte mich komisch an.

»Du bist ja gar kein Kerl«, sagte er plötzlich. »Du bist ja ’ne Tussi.«

»Das gibt’s doch nicht!«, sagte sein Kollege.

»Ungelogen.«

»Godzilla!« Er schmiss den Stock an den Zaun, und sie hauten ab. Lineker stürzte mit wütendem Gebell hinter ihnen her.

»Verpisst euch, ihr Arschgesichter!«, brüllte ich.

Eigentlich schade. Seit die Polizei die Mädels aus der Mandala Street umquartiert hat, ist es in dieser Ecke ein bisschen ruhig geworden. Ich hätte schon Glück haben müssen, wenn ich bis um halb acht, wenn ich den Männern den Platz aufsperrte, noch mit irgendwem ein Wort wechseln konnte.

Die Typen reden nicht viel mit mir, aber sie respektieren mich.

Sie respektieren mich aus zwei Gründen. Erstens – ich kann mit den Hunden umgehen. Zweitens – es sind keine Diebstähle mehr vorgekommen, seit ich hier das Kommando habe. Nicht ein einziger.

Mehr erwarte ich auch gar nicht. Nur ein bisschen wohlverdienten Respekt.

4

Ich wachte ungefähr um zwei Uhr nachmittags auf. Sonnenlicht quetschte sich durch die orangeroten Vorhänge, und im Hänger sah es aus, als ob es brannte.

Die riesige Schrottpresse malmte und krachte, begleitet von der vertrauten Geräuschkulisse aus Geschepper, Gepolter und Männergeschrei.

Auf einem Schrottplatz ist es nie zu leise zum Schlafen.

Ich sprang auf und brachte rasch meine Dehnübungen hinter mich.

Ich wollte meine Ma besuchen, und ich musste vor drei Uhr bei ihr sein.

Das ist die beste Zeit, wenn du mit meiner Mutter reden willst, solange sie noch alle beisammen hat. Vor eins steht sie nicht auf, und ansprechbar ist sie erst, wenn sie den ersten Schnaps intus hat. Dann hat sie ein paar gute Stunden, aber danach geht es rapide bergab mit ihr, bis sie ungefähr um vier Uhr in der Früh wieder ins Bett geht.

Sie hat es im Leben nicht leicht gehabt, also kannst du dir deine Vorwürfe sparen.

Wenn man sagt, dass jemand es im Leben nicht leicht gehabt hat, stellt man sich doch einen alten Menschen vor, oder? Na los, du kannst es ruhig zugeben.

Dabei ist meine Ma noch nicht mal vierzig, und sie könnte auch noch ziemlich gut aussehen, wenn sie nur ein bisschen auf sich achten würde. Wenn sie abends ausgeht, aufgedonnert und aufgetakelt wie ein Christbaum, sieht sie richtig knackig aus – wenn ihr das Licht nicht gerade ins Gesicht strahlt. Du glaubst es kaum, dass sie stockbesoffen ist und dass ihr schon in ein paar Stunden das Make-up verschmiert am Kinn klebt.

Sie wohnt in einem Hochhaus, im zweiten Stock – was von Vorteil ist, weil nämlich der Aufzug nie funktioniert. Und wenn man bedenkt, in was für einem Zustand sie immer nach Hause kommt, würde sie die meisten Nächte auf der Treppe verbringen, wenn sie nur eine Etage höher wohnte.

Der Wind pfiff trotzdem durchs Treppenhaus, und ziemlich eklig sogar, auch weiter unten. Ich klopfte bei ihr an und wartete.

Als sie kam, öffnete sie die Tür nur einen Spalt und lugte hindurch wie ein verschrecktes Kaninchen. Jedes Mal, wenn sie die Tür aufmacht, sieht sie aus, als ob sie Angst hat, was mich bei ihrem Lebenswandel auch gar nicht wundert.

Als hinter mir ein paar Kids auf dem Skateboard vorbeizischten, zuckte sie zusammen.

»Komm lieber rein«, sagte sie und drehte sich um.

Als sie an der Schlafzimmertür vorbeikam, zog sie sie zu. Das bedeutete, dass sie letzte Nacht einen Kerl an Land gezogen hatte, der noch immer seinen Rausch ausschlief.

Wie schon gesagt, du darfst ihr keine Vorwürfe machen – irgendwie muss jeder zusehen, wie er das Geld für die Miete zusammenkriegt.

Wir gingen in die Küche durch.

Du denkst jetzt womöglich, dass es von allen Zimmern in diesem Loch, das meine Mutter ihr Zuhause nennt, in der Küche am schlimmsten aussieht. Falsch gedacht. Es sieht am besten aus. Und das erklärt sich ganz einfach dadurch, dass sie die Küche nie benutzt, höchstens mal, um sich eine Tasse Pulverkaffee aufzubrühen. Das Essen kommt in Mas Leben erst nach dem Trinken. Wenn sie Hunger hat, holt sie sich einen Hamburger.

In der Küche sagte sie als Allererstes zu mir: »Wenn er reinkommt, sagst du, du bist meine Schwester, ja?«

Ich lachte, und sie muss mir wohl irgendwas angemerkt haben, denn sie sagte: »Vergiss es – du bist eine Nachbarin.«

Ich sagte: »Wo wir gerade von Schwestern reden …«

»Fang bloß nicht wieder damit an«, fiel sie mir ins Wort. »Mir platzt der Kopf.«

Ich setzte schweigend den Kessel auf und machte uns zwei Tassen Pulverkaffee. Sie holte eine Flasche aus dem Schrank unter der Spüle und kippte sich einen Schuss in die Tasse.

»Nur damit es weggeht«, sagte sie. Sie kann das Lügen nicht lassen, meine Ma.

Ich gönnte ihr ungefähr eine Minute, dann sagte ich: »Es ist wichtig, Ma. Hast du was gehört?«

»Das ist der einzige Grund, warum du herkommst«, sagte sie. »Um mir wegen ihr Löcher in den Bauch zu fragen. Alles andere ist dir doch scheißegal, sogar deine arme, alte …«

»Mutter«, ergänzte ich. Sie kann sich nicht überwinden, das Wort in den Mund zu nehmen.

»Du sollst das nicht sagen«, fauchte sie und warf über die Schulter einen Blick auf die Tür. Sie trat sie zu. Sie hatte nackte, dreckige Füße, und ihre dicken Onkels waren schief, weil sie immer in zu spitze Schuhe gequetscht wurden.

»Was soll ich denn sonst zu dir sagen?«, fragte ich. Ich wurde langsam wütend.

»Ich habe schließlich einen Namen.«

»Und ich habe eine Schwester!«

»Jetzt halt endlich den Rand!«, schrie sie. »Sie will nichts mit dir zu schaffen haben. Guck dich doch an.«

»Woher willst du das wissen?«, schnauzte ich sie an. »Wir haben uns immer gut vertragen.«

»Das ist ewig her.«

»So lange auch wieder nicht.«

Dann hörten wir, trotz der Brüllerei, plötzlich die Klospülung.

Ma stand auf. Sie nahm ihre Tasse und den Kaffee, den ich mir gemacht hatte. Sie wollte ins Schlafzimmer.

»Die Tür findest du alleine«, sagte sie zum Abschied.

Am liebsten hätte ich was zerdeppert.

Aber frühes Training zahlt sich aus, und wenn wir als Kinder überhaupt eine Lektion gelernt haben, dann war es die, immer auf Zehenspitzen um Mas Männer rumzuschleichen. Wenn Ma einen Mann im Haus hatte, sind wir entweder schnell verduftet oder wir haben so getan, als wären wir nicht da. Ma war nie besonders wählerisch mit den Typen, die sie anschleppte.

Das war im Grunde ihr Unglück.

Ich ging ins Wohnzimmer. Mir kam der Gedanke, dass Ma eigentlich nie Kinder hätte haben dürfen. Aber sie hat sich welche angeschafft. Und eins davon war ich.

Das andere war Simone.

Das Wohnzimmer war die reinste Müllkippe. Alter, kalter Rauch hing dick in der Luft. Bierdosen und Aschenbecher waren vom Couchtisch auf den Fußboden gewandert. Irgendwer hatte am Fernseher eine Flasche zertrümmert, und ein angebissener Hamburger war in den Teppich getreten worden. Im Großen und Ganzen sah es aus wie auf einer von dieser Landstraßen, für die ich nichts übrighabe.

Hätte Ma mal einen Freund wie Harsh gehabt, dachte ich, wäre alles viel sauberer gewesen. Und Harsh wäre vielleicht mein …

Daran durfte ich nicht denken.

Das, wohinter ich her war, lag hinter dem Fernseher unter einem Stapel von Mas »Wahre Liebe«-Illustrierten. Sie liest den Schrott nicht mehr – sogar meine Ma lernt manchmal noch was dazu –, aber immer, wenn sie umzieht, schleppt sie den alten Plunder mit, ihre Bücher, wie sie dazu sagt.

Unter Mas Büchern lag ein altes Fotoalbum. Unsere Oma hat es Ma hinterlassen, als sie gestorben ist. In dem Album klebte ein Bild, das ich sehen wollte. Es war das letzte Foto, auf dem Simone und ich zusammen drauf waren.

Ich blätterte das Album rasch durch. Die Bilder von Ma als jungem Mädchen wollte ich nicht sehen. Davon kriege ich immer einen Kloß im Hals, weil sich Simone als Zehnjährige und meine Ma als Zehnjährige sehr ähnlich gesehen haben. Unheimlich ähnlich.

Ich fand die Seite. Da waren wir, bei unserer Oma im Wohnzimmer.

Ich weiß noch ganz genau, wann das Bild gemacht worden ist. An Simones zwölftem Geburtstag, zwei Tage, bevor sie in Pflege kam und weggeholt wurde. Also war es zwei Tage vor dem Tag, an dem ich sie zum letzten Mal gesehen habe.

Sonst waren wir immer zusammen weggeschickt worden. Und wenn wir zurückdurften oder abgehauen waren, haben wir uns bei Ma wiedergetroffen. Und wenn wir Ma nicht finden konnten, sind wir zu unserer Oma gegangen.

Aber damals haben sie uns getrennt. Und ungefähr ein Jahr später ist dann meine Oma gestorben.

Simone ist nie wieder nach Hause gekommen.

Ich habe später gehört, dass sie zu Pflegeeltern gekommen ist, und bei denen muss es ihr wohl gefallen haben, weil sie dageblieben ist. Oder, was eher wahrscheinlich ist, sie hat ihnen gefallen, und sie haben sie zum Dableiben überredet.

Es war schwer, Simone nicht zu mögen, aber ich muss dir sagen, dass sie kein charakterfester Mensch war. Sie ließ sich leicht überreden. Vor allem, wenn ich nicht bei ihr war und sie nicht daran erinnern konnte, wo wir hingehörten.

Ich starrte lange auf das Gesicht von früher. Sie war so hübsch. Kaum einer wusste, dass wir Schwestern waren. Ich war größer als sie, obwohl ich ein Jahr jünger bin. Und hübsch bin ich noch nie gewesen.

Am allerwichtigsten war es, ihr Gesicht nicht zu vergessen. Manchmal habe ich einen Alptraum. Ich gehe die Straße runter, und eine Bettlerin hält mir die Hand hin. Und ich gehe einfach vorbei. Ich erkenne Simone erst, als sie mich ruft. »Eva«, sagt sie. »Ich hätte dich überall wiedererkannt. Aber du hast mich vergessen.«

Aber ich habe sie nicht vergessen. Und eines Tages finde ich sie. Es muss einfach so kommen, weil schließlich jeder sagt, dass Blut dicker ist als Wasser. Und deshalb weiß ich auch, dass Simone nach mir sucht. Sie sucht mich bestimmt. Und sie kann mich nur finden, wenn sie zuerst Ma findet, weil ich viel erlebt habe, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.

Ma hat auch viel erlebt, aber wenigstens ist sie im selben Stadtviertel geblieben. Und darauf setze ich. Darum gehe ich Ma alle paar Monate besuchen. Darum und natürlich auch, weil Blut nun mal dicker ist als Wasser, und das gilt sogar für Ma.

Irgendeiner muss schließlich die Familie zusammenhalten.

5

Die Geräusche, die aus Mas Schlafzimmer kamen, hörten sich so an, als ob jemand einen Asthmaanfall hatte.

Ich wusste, dass ich noch ein bisschen länger ungestört im Wohnzimmer rumschnüffeln konnte. Dazu hatte ich nicht oft Gelegenheit. Ich klappte das Album zu und fing an, den Rest des Bücherstapels nach Briefen zu durchsuchen.

Bei Ma musste man nämlich auf alles gefasst sein. Sie war imstande, Briefe ungeöffnet wegzuwerfen, wenn sie Angst hatte, es könnten Rechnungen oder Vorladungen sein.

»Nichts wie Scherereien«, sagte sie dann. »Scherereien mit einer Briefmarke auf dem Umschlag.«

Manchmal, wenn sie wieder ein paar Schnäpse zu viel gekippt hat, befördert sie einfach alles, was durch die Tür kommt, mit einem Fußtritt in die Ecke. Sie könnte eine halbe Million im Toto gewonnen haben oder am nächsten Tag wegen Sozialhilfebetrug vor Gericht müssen. Sie würde es nie erfahren.

Ich musste mit einer Sozialarbeiterin auf die Beerdigung von meiner Oma. Dafür haben sie mich extra rausgelassen.

Ma war nicht da. Sie sagte, es wäre ihr zu sehr an die Nieren gegangen, aber wenn du mich fragst, hatte sie einfach einen im Kahn.

Ich ging hin, weil ich dachte, Simone wäre da. Und – jetzt hältst du mich bestimmt für eine richtige Kuh – ich war Oma richtig dankbar dafür, dass ich ihretwegen aus dem Jugendheim rauskonnte und Simone sehen durfte.

Aber Simone war auch nicht da.

Das war die große Frage, die sich mir hinterher gestellt hat: Warum nicht? Warum war Simone nicht gekommen?

Ma wusste es nicht. Sie war stinksauer auf mich, weil ich sie deswegen andauernd gelöchert habe.

Monate später, als ich meine Strafe abgesessen hatte und wieder zu Hause war, fand ich einen Brief. Er war von Simones Sozialarbeiterin, und sie hatte geschrieben, sie wäre nach eingehenden Gesprächen und Beratungen mit Simones neuer Familie zu dem Schluss gekommen, dass es nicht im Interesse des Kindes wäre, es einer solchen emotionalen Belastung auszusetzen.

Mit anderen Worten, sie hatten es ihr verboten.

Hätte Ma mir das gesagt, hätte ich mir nicht monatelang Gedanken und Sorgen machen brauchen.

Aber Ma hatte den Brief noch nicht mal aufgemacht.

Verstehst du jetzt, was ich meine?

»Nicht im Interesse des Kindes« – tolle Phrase, was? Als Kinder hatten wir einen Witz. Der ging so. Frage: Was ist der Unterschied zwischen einem Sozialarbeiter und einem Pitbullterrier? Antwort: Der Pitbullterrier rückt das Kind wieder raus.

Ich musste aufhören, an die alten Zeiten zu denken. Ich hatte schon einen Kloß im Hals.

Aber bei dem Gedanken an Sozialarbeiter kam ich auf eine Idee.

Es war Jahre her, seit ich das letzte Mal Simones Pflegeeltern besucht hatte. Vielleicht konnte ich die Adresse rauskriegen und ihnen einen Besuch abstatten. Freuen würden sie sich nicht darüber. Beim letzten Mal hatte es ihnen auch nicht gefallen, aber damals war ich noch ein Kind gewesen. Damals wusste ich noch nichts von Selbstdisziplin und einer relaxten mentalen Einstellung.

Das asthmatische Gekeuche aus Mas Schlafzimmer ebbte ab. Als es ganz still wurde, stand ich auf und ging zur Tür.

Dann sagte eine laute Stimme: »Wo zum Henker ist meine Brieftasche?«

Ich hätte früher wieder gehen sollen.

Ma sagte was, was ich nicht verstehen konnte.

Dann sagte er: »Her damit, du Schlampe!«

Und damit fing der Ärger an.

Ma kam ins Wohnzimmer gestürmt, die Haare hingen ihr ins Gesicht, sie hatte nichts an. Sie verkroch sich hinter dem Sofa.

Als er hinter ihr herkam, zog er sich noch den Reißverschluss an der Hose hoch. Er hatte kein Hemd an, und seine Tätowierungen waren nicht zu übersehen.

Ma sagte: »Du musst sie im Club vergessen haben, du musst sie im Club verloren haben, du musst …«

Aber so blöd war er denn doch nicht. Er sagte: »Ich habe nirgendwo was verloren. Rück sie raus, du Schlampe.«

»Dann muss sie im Auto sein. Im Treppenhaus …«

»Schnauze!«

»Ich helf dir suchen …«

Er langte über das Sofa, packte ihr Handgelenk und drehte es gemein herum.

»Du Mistkerl!«, kreischte Ma.

»Du diebisches Flittchen!«, sagte er und ballte die Faust.

Daraufhin krallte ich mich mit der einen Hand in seine Haare, mit der anderen in seinen Hosenboden. Ich stellte mich hin, als wäre ich im Ring, riss ihn um und hob ihn gleichzeitig hoch.

Er flog im hohen Bogen bis zur Tür, wo er auf dem Hintern landete.

Ma wurde über die Rückenlehne mitgerissen und fiel in die Polster. Das Sofa kippte um.

Sie musste die Brieftasche des Mistkerls wohl unter ein Polster gestopft haben. Kaum lag das Sofa nämlich auf der Seite und die Polster waren überall auf dem Boden verstreut, konnte ich sie deutlich sehen.

Ma sah sie auch, sie hörte nämlich auf zu kreischen und setzte sich drauf.

Ich fühlte mich großartig.

Der Gipskopf auf dem Boden sagte: »Wer bist du denn?«

»Abmarsch, Mister.«

Er wollte aufstehen, aber ich trat ihm den Arm weg, und er kippte wieder um.

Er wollte nicht kämpfen. Schade eigentlich, weil ich wirklich in Stimmung war. Er rutschte irgendwie auf dem Hosenboden aus dem Zimmer. Im Korridor rappelte er sich hoch und schoss wie ein Windhund aus der Startbox zur Wohnungstür raus.

Ich ging ins Schlafzimmer, sammelte seine restlichen Klamotten ein und brachte sie ihm nach draußen.

Er stand fröstelnd in dem zugigen Treppenhaus. Tätowierungen halten nicht besonders gut warm.

Er sagte: »Die hat meine Brieftasche geklaut.«

»Du hast ja gehört, was sie gesagt hat«, meinte ich. »Du musst sie verloren haben. Und jetzt zieh Leine, sonst gehe ich noch nach unten und spring dir auf die Karre.«

Wenn du einen Mann kleinkriegen willst, brauchst du bloß seinen Wagen bedrohen. Er nahm seine Klamotten und ging.

Als ich wieder reinkam, hockte Ma immer noch auf dem Fußboden. Irgendwo hatte sie eine Flasche aufgetrieben, die sie sich nun hinter die Binde goss.

Sie sagte: »Er hat mir wehgetan. Er hat mir den Arm verrenkt.« Ein Geplärre wie von einem Kleinkind.

Ich sagte: »Zieh dir was über.«

Ich war richtig gut drauf, aber ich konnte es nicht leiden, dass Ma nichts anhatte. Sie sah so schwach und jämmerlich aus.

»Zieh dich an«, wiederholte ich.

»Mein Arm tut weh«, sagte sie, an der Flasche nuckelnd. »Ich glaube, ich muss zum Arzt.« Sie blieb einfach sitzen.

Mir reichte es. Ich war schon draußen und hatte die Tür hinter mir zugeknallt, da fiel mir Simones alte Adresse wieder ein. Ich klopfte und wartete. Ich klopfte noch mal.

»Ja?«, schrie Ma hinter der Tür.

»Die Familie«, schrie ich zurück. »Simones Pflegeeltern. Wo wohnen die?«

»Du bist eine Nervensäge«, sagte sie durch den Briefkastenschlitz. »Weißt du das? Du bist eine richtige Nervensäge.«

Ich wartete. Irgendwie dachte ich, sie würde vielleicht dieses eine Mal was für mich tun. Aber es passierte nichts. Also ging ich.

Solange ich denken kann, wird Ma schon von Männern verprügelt. Das kann man ihnen nicht mal unbedingt verdenken. Manchmal würde ich ihr am liebsten selber eine scheuern.

Ich kann bloß nicht verstehen, warum sie sich das immer noch gefallen lässt.

Man braucht sich doch nur im Fitnessstudio ein bisschen Kraft antrainieren. Wenn man stark ist, nehmen sich die Männer keine Frechheiten raus.

Mich schlägt keiner mehr – es sei denn, ich werde dafür bezahlt.

Ich hoffe, Simone ist stark. Wenn irgendwer Kraft wirklich nötig hat, dann ein hübsches Mädchen.

Natürlich war ich von Geburt an im Vorteil. Ich bin schon immer ziemlich bullig gewesen. Aber die Statur allein macht es auch nicht. Bullige Schwächlinge kennen wir doch alle.

Nein. Lass dir einen Tipp geben – wenn du dir auf dieser Welt Respekt verschaffen willst, sieh zu, dass du was anderes in die Arme kriegst als Pudding.

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22 aralık 2023
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9783867548847
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