Kitabı oku: «Als Großvater im Jahr 1927 mit einer Bombe in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen», sayfa 2
Kapitel 3
Und dann war es Winter geworden. Der Winter, in dem Großvater und Herbert beschlossen hatten, eine Bombe zu bauen und sie in einer Machtzentrale der herrschenden Klasse detonieren zu lassen. Genosse Franks Besuch lag nun über ein halbes Jahr zurück und es war nichts passiert. Absolut gar nichts. Herbert hatte es satt.
»Wenn ich nicht bald ein Fahrrad bekomme, trete ich aus der Kommunistischen Partei wieder aus!«
Großvater legte ihm die Hand auf die Schulter. Wie bei einem Pferd. »Von nichts kommt nichts«, sagte er, »wir müssen etwas tun, hörst du?«
»Du bist gut«, sagte Herbert. »Was denn?«
Großvater überlegte relativ lange, aber er wusste es auch nicht. Doch dann, auf einmal, fragte er: »Wo ist eigentlich das Traktat?«
»Welches Traktat?«
»Welches Traktat wohl? Na, das von Genosse Frank!«
Sie fanden es und lasen schließlich auch die Seiten vier und fünf, also die Seiten, auf denen nicht nur die Vorzüge der Weltrevolution, sondern auch der Weg dahin beschrieben wurde. Zwangsrequirierung, Kollektivierung, Säuberung, Elektrifizierung, Entkulakisierung, Neutralisierung … Großvater und Herbert schwirrte der Kopf. Sie verstanden nichts, absolut nichts.
Irgendwann war Herbert dann auf die Idee mit der Bombe gekommen. Seiner Ansicht nach wurden die größten Wirkungen generell durch Lärm erzeugende Phänomene erreicht. Gewitter waren ein gutes Beispiel dafür oder der tobsüchtige Schuhmacher. Wenn etwas Krach verursachte, wurde ihm augenblicklich die uneingeschränkte Aufmerksamkeit zuteil. Das war so. Eine Detonation von irgendwas schreckte die Leute mehr auf als alles andere. Dass eine Bombe imstande war, für ordentlich Furore zu sorgen, lag auf der Hand. Wenn es mit einer Bombe nicht funktionierte, womit dann? Allerdings war eine Bombe nun auch kein Spaß mehr. Wo eine Bombe im Spiel war, floss garantiert Blut, und im Gegensatz zu Herbert, der seinen Lebensunterhalt mit Blutvergießen bestritt, war Großvater gegen Gewalt und hielt noch immer das Verbot von Dummheit für die effektivere Methode, die Welt zu verbessern.
»Gerechtigkeit erreicht man nicht durch Ungerechtigkeit«, sagte er.
»Aber die da oben haben schließlich damit angefangen!«, widersprach Herbert, der sein Fahrrad schon wieder in Gefahr sah.
»Das ist noch lange kein Grund, es ihnen nachzumachen«, sagte Großvater.
»Wieso denn nicht?« Herbert griff sich an den Kopf. »Die haben es doch nicht besser verdient! Ich möchte nicht wissen, wie viele Fahrräder die haben!«
»Genosse Frank hat auch eines«, sagte Großvater.
»Das ist doch was anderes!«, brüllte Herbert. »Das weißt du ganz genau!«
Großvater versuchte, Herbert zu beruhigen. »Warte ab, uns fällt schon noch was ein!« Er nahm das Traktat noch einmal in die Hand, blätterte darin herum und tippte nach einer Weile mehrmals mit seinem Zeigefinger auf ein längeres Wort auf Seite vierzehn. »Hier, sieh mal!«, sagte er. »Warum versuchen wir es nicht damit?«
Herbert stellte sich hinter Großvater und blickte über dessen Schulter auf das Traktat. »Agitprop«, las er. »Was soll das denn sein?«
»Keine Ahnung«, sagte Großvater.
»Na, toll«, sagte Herbert.
»Wenn Frank wiederkommt, frage ich ihn«, sagte Großvater und klappte das Traktat zu.
»Bis dahin haben wir die Bombe längst fertig«, meinte Herbert.
Draußen fiel der Schnee so dicht, dass die Baumkronen schon nicht mehr zu erkennen waren, und wenn jemand die Tür öffnete, blies der Wind einen Schwall weißer Flocken bis in die Mitte des Raumes.
»Versteh mich doch«, sagte Großvater, »ich finde es einfach nicht richtig!«
»Weißt du, was ich denke?«, fragte Herbert. »Du bist nur zu feige, es durchzuziehen!«
»Jetzt red nicht so einen Stuss«, sagte Großvater.
»Gib’s doch wenigstens zu!«, sagte Herbert und drehte seinen Kopf von Großvater weg in Richtung Fenster.
»Da gibt’s nichts zuzugeben!«, sagte Großvater.
»Du bist ein Schisser«, sagte Herbert, »was denn sonst?«
»Ich weiß überhaupt nicht, was du auf einmal hast. Bist du auf Streit aus, oder was?«, fragte Großvater.
Herbert antwortete ihm nicht. Er blickte weiter in Richtung Fenster und hörte einfach auf, mit Großvater zu sprechen.
»He, Herbert, ich habe dich was gefragt«, sagte Großvater.
Herbert reagierte nicht. Zehn Minuten oder noch länger sagte er kein einziges Wort.
»Ich muss nach den Hühnern sehen«, murmelte er schließlich und stand auf.
Großvater legte beide Hände auf den Tisch und sah zuerst auf seine Hände und dann zu Herbert hinüber, wie er seine Jacke vom Haken nahm und sie sich anzog und schließlich ohne ein Wort hinausging, die Tür hinter sich zuschlug und hinunter ins Dorf lief, die kaum geräumte Straße zwischen den schneebedeckten Häusern entlang, aus deren Schornsteinen grauer Rauch stieg, grauer, stinkender Rauch, der schon wenige Meter über den Dächern im Frost erstarrte.
Natürlich bauten sie die Bombe. Großvater ertrug es nicht, andere Menschen vor den Kopf zu stoßen, und schon gar nicht Herbert. Wie gesagt, beide waren Freunde. Großvater baute die Bombe aus Zuneigung zu Herbert. Außerdem hatte er unterschrieben, die Welt besser zu machen, gerechter. Auch dafür musste er etwas tun. Und so kam es zu den Experimenten mit Düngemittel, Backpulver und Benzin, in deren Folge an einem Winterabend der Schuppen abbrannte, und ein Schimmer der Weltrevolution Großvaters und Herberts Dorf erleuchtete.
Kapitel 4
Dann war es wieder Frühling geworden, bereits im März war der ganze Schnee getaut, und der Boden war zerzaust und aufgewühlt, und in den Gräben stand das Regenwasser, und durch das verwelkte Gras des letzten Jahres fuhr knisternd der Wind. An einem sonnigen Morgen Anfang April, als die Tage immer länger und wärmer geworden waren, zog sich Großvater seinen schwarzen Anzug an, band sich die gestreifte Krawatte um, verpackte die Bombe in einen stabilen Koffer und sprang damit in den Dorfbach. Der Dorfbach war das flachste Gewässer im Umkreis von mehreren Kilometern, aber weil Großvater damals noch ein wirklich dünner Hering war, jemand, der nicht einmal sechzig Kilo wog, riss ihn die Strömung mit sich, und viel schneller, als er es jemals gedacht hätte, erreichte er die nächstgrößere Stadt. Natürlich hätte er auch zu Fuß gehen können. Aber das hätte viel zu viel Zeit gekostet. Großvater wollte die Weltverbesserung so schnell wie möglich hinter sich bringen. In ein, zwei Tagen hoffte er wieder zurück zu sein. Ein, zwei Tage hielt er für ausreichend, um eine Machtzentrale der herrschenden Klasse zu finden, dort die Bombe zu deponieren, zu zünden und wieder zu verschwinden. Wenn sein Plan aufging, bedeutete das für Herbert und ihn, noch vor dem Sommer ein Fahrrad zu besitzen. Dann würde die Welt tatsächlich um einiges besser sein. Dann auf jeden Fall. Großvater dachte während der letzten vier im Dorfbach zurückgelegten Kilometer ausschließlich an Fahrräder, an verchromte Speichen und Gangschaltungen, an Schutzbleche und Dynamos, an Pedale, Luftpumpen und Rücklichter. Als ihm zu guter Letzt, also nachdem er an Bremsen, Gepäckträger, Sattel und Lackierungen gedacht hatte, sogar noch einfiel, dass ein Fahrrad, weil sich mit ihm Entfernungen schneller bewältigen ließen, den Klassenkampf erheblich erleichterte, wenn nicht sogar überflüssig machte, schwemmte ihn der Bach ans Ufer. Abrupt, brutal und völlig überraschend. An einer Böschung mit rundgespülten Kieselsteinen und vom Wasser freigelegten, langen, zerfaserten Wurzeln blieb Großvater einfach im Schlamm stecken. Schwarzer, fauliger Unrat bedeckte ihn von oben bis unten, und wer sah, wie er mit weit nach vorn geschobener Unterlippe nach Luft schnappte, hätte ihn für einen Fisch oder ein anderes Wassertier halten können. Er war ein wenig benommen und stand nicht sofort auf, sondern blieb in dem flachen Gewässer sitzen und betastete den Koffer mit der Bombe, seine aufgeschlagene Hand und seine vor Nässe triefende Kleidung. Als er schließlich seinen Kopf hob, blickte er zuerst auf die Fassade eines viergeschossigen Wohnhauses, in dessen Fenstern sich die Sonne und die Fassade eines ihm gegenüberstehenden, noch höheren Wohnhauses spiegelten. Hinter den Fenstern befanden sich Gardinen und Blumentöpfe und ein Käfig mit einem Kanarienvogel und eine Katze auf einer Wolldecke, und eines der Fenster stand offen, und ein Mann sah heraus und blies den Rauch einer dicken, braunen Zigarre in die Luft.
»Hm«, sagte Großvater und betastete noch einmal seine an der Haut klebende Kleidung.
Die Bombe hatte den Koffer verbeult, und der Knoten seiner gestreiften Krawatte hatte sich gelöst, und als er versuchte, einige Algen aus seinem Gesicht zu entfernen, berührte er etwas Lebendiges, einen Wurm oder einen Lurch, woraufhin es ihn vor Ekel schüttelte, und als er danach seinen Kopf wieder hob, blickte er in das Gesicht einer jungen Frau.
»Hm«, sagte Großvater, und dann noch einmal: »Hm.«
Eigentlich war ihm danach, noch mehrere Male »hm« zu sagen. Weil er sich so wunderte. Weil er mit allem gerechnet hatte, aber nicht damit, hier einer Frau zu begegnen. Er hatte mit Polizisten gerechnet, mit Landstreichern oder einer Gruppe lärmender Fabrikarbeiter, aber nun war es eine junge Frau. Hm. Großvater begann sich noch unwohler zu fühlen als vorher. Niemand begegnet gern einem Fremden, wenn er in einem schlammverkrusteten Anzug im schmutzigen Wasser eines Dorfbaches sitzt, und schon gar nicht einer hübschen jungen Frau. Denn hübsch war sie, das hatte Großvater auf den ersten Blick bemerkt. Sie trug kurz geschnittenes Haar, und das machte ihre Augen groß, viel größer, als sie es bei langem Haar gewesen wären, und weil sie ein schmales, beinahe dünnes Gesicht besaß, wirkte auch ihr Mund viel größer, als er eigentlich war. Großvater fand beides phänomenal.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«
»Nichts«, sagte Großvater, »das sieht schlimmer aus, als es ist.«
Allerdings wusste er überhaupt nicht, wie schlimm es aussah. Tatsächlich sah es extrem schlimm aus. Noch schlimmer konnte etwas eigentlich nicht aussehen. Die junge Frau bückte sich und streckte ihren Arm zu Großvater herunter.
»Sind Sie verletzt?«, fragte sie. »Da, nehmen Sie meine Hand!«
»Unsinn«, sagte Großvater, »das geht schon!«
»Nun stellen Sie sich nicht so an!«, sagte die junge Frau. »Sie können ja nicht ewig da unten sitzen bleiben!«
»Na gut«, sagte Großvater. »Wie Sie wollen!«
Er fasste nach der ihm entgegengestreckten Hand und versuchte, sich aufzurichten. Es gelang ihm nicht sofort. Mehrmals gab der Boden unter ihm mit einem glucksenden Geräusch nach und Großvater rutschte wieder zurück ins Bachbett. Aber es war seltsam. In dem Moment, als er nach der Hand der jungen Frau fasste, geschah etwas Unglaubliches: Er hatte plötzlich das Gefühl, sie nie wieder loslassen zu können. Das passierte ihm später noch häufig, aber weil es das erste Mal war, irritierte es ihn gewaltig. So was Verrücktes, dachte Großvater, wenn ich das später irgendjemandem erzähle, das glaubt mir keiner. Dann aber schaffte er es, die Böschung zu überwinden, hievte den Koffer nach oben, und erst als er sich bückte, um seine Schuhe auszuziehen und das Wasser herauszuschütteln, ließ er die Hand der jungen Frau wieder los.
»Vielen Dank«, sagte er, »das war sehr freundlich von Ihnen!«
»Schon gut«, sagte sie. »Ich dachte, es wäre etwas Ernstes«.
»Zum Glück nicht«, sagte Großvater, und dann fiel ihm plötzlich nichts mehr ein, was er hätte sagen können. Deswegen sagte er wieder einmal: »Hm.«
»Was haben Sie denn eigentlich da unten gemacht?«, fragte die junge Frau.
»Ach, nichts«, sagte Großvater. »Ich habe etwas zu erledigen, verstehen Sie?«
»Nein.« Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Was denn?«
»Ich muss eine Bombe in einer der Machtzentralen der herrschenden Klasse zünden, das ist alles«, sagte Großvater.
»Was?«, rief die junge Frau.
»Eine Bombe«, sagte Großvater.
»Halten Sie das für eine gute Idee, davon gleich dem ersten Besten, dem Sie begegnen, zu erzählen?«, fragte die junge Frau.
»Das kann ruhig jeder wissen!«, sagte Großvater.
»Glauben Sie wirklich?«, fragte die junge Frau.
»Absolut«, sagte Großvater.
»Na, wenn Sie denken«, sagte die junge Frau. »Aber erst müssen wir Ihre Sachen trocknen. Sie sehen vielleicht aus!«
»Ach, das wird schon«, sagte Großvater.
»Das wird überhaupt nicht«, sagte die junge Frau und machte ihre Augen noch größer, als sie ohnehin schon waren.
»Na schön«, sagte Großvater, hauptsächlich wegen ihrer Augen. Und dann nahm er wieder ihre Hand und ging mit ihr die Straße an den großen Wohnhäusern entlang hinein in die Stadt.
Die Straße bestand aus grauen, runden Pflastersteinen, und lange, dunkle Frühlingsschatten lagen vor den Mauern. Großvater spürte, wie die Kälte an ihm hochzukriechen begann, aber er ließ es sich nicht anmerken. Genauso, wie er es nicht zeigte, dass es ihm unangenehm war, wenn sich die Leute nach ihm umdrehten, weil er einen nassen, zerknitterten Anzug trug. Es half ja nichts. Nachdem sie ein Stück gelaufen waren, veränderte sich das Stadtbild. Die Häuser wurden kleiner und kaputter, und überall auf den Wegen, Zäunen und Dächern saßen Scharen von Tauben. Man hatte ihretwegen spitze Nägel auf den Dächern angebracht, aber die Tauben hockten zwischen ihnen und hoben und senkten ihre Köpfe auf der Suche nach Futter.
»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte Großvater die junge Frau. Wenn er mit ihr reden wollte, war es einfacher, ihren Namen zu kennen.
»Else«, sagte sie.
»Und ich heiße Bruno«, sagte Großvater, und dann sagte er: »Wollen wir vielleicht du zueinander sagen?«
»Ja, klar, warum nicht?«, sagte Else.
Ein Mann kam vorbei. Er hinkte, und auf der rechten Seite, dort, wo sein Bein kürzer war, bog er seinen Kopf seitlich nach unten. Als er Großvater in seinen nassen, schmutzigen Kleidern sah, hob er den Kopf und schüttelte ihn mehrmals hin und her. Aber Großvater bemerkte ihn nicht. Weil er nur Augen für Else hatte.
»Bruno«, sagte Else nach einer Weile, »hier gibt es keine Machtzentrale!«
»Muss es aber«, sagte Großvater.
»Ich wüsste nicht wo«, sagte Else.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, rief Großvater.
»Das Beste wird sein, du wirfst die Bombe weg, hörst du?«, sagte Else.
»Das fehlte noch!«, sagte Großvater. »Die Bombe wegwerfen! Also wirklich!«
Else strich mit ihrer Hand langsam an Großvaters nassem Unterarm entlang. Er war wirklich ungeheuer nass.
»Weshalb ist es denn überhaupt nötig, die Bombe zu zünden?«, fragte sie.
»Um die Welt gerechter zu machen«, sagte Großvater, und er sagte es so ernst und bestimmt, dass Else ganz beeindruckt war.
»Hm«, sagte sie, obwohl es eigentlich Großvaters Art war, immer »hm« zu sagen.
»Es ist doch für eine gute Sache«, versuchte Großvater zu erklären.
»Eine Bombe bleibt eine Bombe«, sagte Else.
»Ich weiß«, sagte Großvater. »Ein Verbot von Dummheit wäre mir viel lieber gewesen, das kannst du mir glauben!«
»Ein Verbot von Dummheit?«, wunderte sich Else. »Das gefällt mir auch viel besser. Ja, aber wie soll man das machen?«
»Eben«, sagte Großvater.
Auch das Dach des Hauses, in dem Else wohnte, war voller Nägel, und auch hier hockten die Tauben zwischen ihnen, und sie flogen selbst dann nicht weg, als Else die Tür öffnete und hinter sich und Großvater wieder ins Schloss fallen ließ.
»Warte hier«, sagte sie und ging in das Zimmer nebenan.
Großvater blieb an der Tür stehen und schaute sich um. Elses Wohnung war klein und ein wenig dunkel, und wenn man aus dem Fenster sah, blickte man auf einen Hof hinter dem Haus, in dessen Mitte sich eine Art Garten befand, auf den nie ein Sonnenstrahl fiel, es sei denn, es war Mittag und die Sonne stand genau im Zenit. Es dauerte nicht lange, bis Else zurückkam und Großvater ein Handtuch und ein paar Kleidungsstücke gab.
»Zieh das an«, sagte sie. »Es gehört meinem Vater.«
Elses Vater musste eine seltsame Gestalt besitzen. Die Hosen waren Großvater viel zu kurz und das Hemd viel zu lang und zu breit, aber es war sauber und trocken, und Großvater wäre es nie eingefallen, sich damit nicht zufriedenzugeben.
Else lachte, als sie Großvater sah, aber dann strich sie sich zwei Mal mit der Hand über ihr kurzes Haar und sagte: »Chic siehst du aus!«
»Na ja«, sagte Großvater.
Später gingen sie noch einmal zurück in die Stadt. Es wurde Abend und der Frühling verschwand für eine Nacht, aber dort, wo der Bach durch die Stadt floss, stand eine Frau in der Dämmerung und fütterte ein paar Schwäne. Auf der anderen Seite des Baches befand sich ein Haus mit einer großen Eingangstür und einer breiten Treppe davor, und die Fenster darüber reichten vom Dach bis zum Erdgeschoss und bestanden aus buntem Glas.
»Was ist das da für ein Gebäude?«, fragte Großvater.
»Das Rathaus«, antwortete Else.
»Ein Rathaus ist eine Machtzentrale«, bestimmte Großvater.
»Unsinn«, sagte Else.
»Was denn sonst?«, fragte Großvater.
»Ein Verwaltungsgebäude«, sagte Else, »für den Bürgermeister und so.«
»Hat ein Bürgermeister etwa keine Macht?«, fragte Großvater.
»Der bestimmt nicht«, lachte Else. »Seine Machtzentrale heißt Margitta und ist mit ihm verheiratet!«
»Dann zünde ich die Bombe eben bei ihr«, sagte Großvater.
»Lieber nicht«, sagte Else, »das würde böse enden.«
Sie ging ein paar Schritte zum Wasser hin, und die Schwäne drehten ihre Köpfe zu ihr herüber, und als das die Frau mit dem Futter bemerkte, drehte auch sie ihren Kopf dorthin, wo Else stand.
»Was gibt’s denn?«, fragte die Frau.
Else zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht«, sagte sie, »keine Ahnung.«
Die Frau presste die Tüte mit dem Futter an ihre Brust. »Gehen Sie weg!«, sagte sie, und dann noch einmal: »Sie sollen weggehen! Haben Sie nicht gehört?«
»Schon gut«, sagte Else und lief genau dieselbe Anzahl von Schritten wieder dorthin zurück, wo Großvater auf sie wartete.
»Sie denkt, ich will ihr das Futter wegessen!«, sagte Else. »Verrückt, oder?«
Ein leichter Nebel war aufgekommen und verwischte die Umrisse und Farben der Häuser und Gärten, und die Pflastersteine der Straße glänzten matt und dunkel wie nach einem langen, kalten Regen.
»Was ist eigentlich mit der Polizei?«, versuchte es Großvater, ohne auf die Frau bei den Schwänen einzugehen, noch einmal. »Die Polizei ist ein Machtorgan. So habe ich es in Genosse Franks Traktat gelesen.«
»Die Polizei?«
»Ja.«
»Die Polizei ist natürlich auch im Rathaus«, sagte Else, aber es war ihr anzusehen, dass sie es lieber nicht gesagt hätte.
»Also doch!«, rief Großvater.
»Du willst doch die Bombe nicht etwa im Polizeirevier zünden?«, rief Else.
»Das scheint mir das Vernünftigste zu sein«, sagte Großvater.
»Vernünftig? Hast du tatsächlich vernünftig gesagt?« Else konnte es nicht fassen.
»Die Welt kann nicht so bleiben, wie sie ist«, sagte Großvater. »Es kann nicht sein, dass ein paar wenige alles haben und die anderen nichts. Wir müssen etwas dafür tun, dass es besser wird!«
»Und du glaubst, dadurch, dass du eine Bombe hier im Rathaus zündest, wird irgendetwas besser?«, rief Else.
»Es ist ein Anfang«, verteidigte sich Großvater. »Einer muss anfangen. Alles andere ergibt sich von selbst.«
»Und dieser Eine bist du?«, fragte Else.
»Herbert wollte es nicht machen«, sagte Großvater.
»Ist Herbert vielleicht der Schlauere von euch beiden?«, fragte Else.
»Unsinn«, antwortete Großvater.
»Wirf sie weg«, sagte Else.
»Ausgeschlossen!«, sagte Großvater.
In seinem Kopf begann es wieder zu arbeiten. Er dachte an die Ausbeutung der Massen und an die Diktatur des Proletariats und seltsamerweise dachte er auch an den Hackstock, auf dem Herbert den Hühnern die Köpfe abschlug, und an das Beil, mit dem er es machte, und an die Federn, die durch die Luft schwirrten, wenn die Klinge in das Holz krachte und der Hühnerkopf in den Staub fiel. Und dann dachte er an einen Topf mit heißer Hühnersuppe auf dem Küchenherd und daran, dass eben manchmal etwas Schlechtes getan werden musste, um etwas Gutes zu erreichen. Es gab kein Licht ohne Schatten. Die Welt funktionierte nun einmal auf diese Weise. Es war fast zu einfach. Das Richtige war immer auch das Falsche und das Falsche gleichzeitig das Richtige. Genauso, wie man nie wissen konnte, ob das Kluge das Dumme oder das Dumme das Kluge war. Trotzdem musste man anfangen. Bevor man es nicht getan hatte, war es weder das eine noch das andere. Bevor man es nicht getan hatte, war es nichts.
»Ich habe es schließlich versprochen«, sagte er leise.
Else sah ihn an. »Komm, ich mache uns was zu essen«, sagte sie, nahm Großvater an der Hand, und dann gingen sie zurück in ihre Wohnung. Else kochte Kartoffeln, und als sie gegessen hatten, räumte sie die Teller vom Tisch und wusch sie ab. Zuletzt zeigte sie auf das Kanapee, das ein Stück vom Tisch entfernt unter der Dachschräge stand, und sagte: »Wenn du müde bist, kannst du dort schlafen.«
»Danke«, sagte Großvater, »auch für das Essen und alles.«
Er war tatsächlich hundemüde, so müde wie damals, als er und Herbert zwei Nächte lang darüber diskutiert hatten, ob es Sinn hatte, sich eine Luftpumpe zu kaufen, noch bevor sie ein Fahrrad besaßen. Herbert war der Ansicht gewesen, dass der Erwerb einer Luftpumpe die Wahrscheinlichkeit vergrößerte, irgendwann in den Besitz eines Fahrrades zu gelangen. Ihm erschien der Gedanke nicht völlig abwegig, mit einer Luftpumpe ein Fahrrad anlocken zu können. »Manchmal führt das eine zum anderen«, hatte er gesagt. »Manchmal ist es gut, gewisse Vorbereitungen getroffen zu haben«. Großvater hielt die Idee für völligen Unsinn und hatte das auch gesagt, aber Herbert war nicht zu überzeugen gewesen. »Du solltest jedenfalls eine Luftpumpe kaufen«, hatte er Großvater aufgefordert. »Für alle Fälle, du weißt schon!«
Herbert besaß die Begabung, selbst dem Unsinnigsten einen Anschein von Vernunft zu verleihen. Außerdem verstand er sich darauf, die Loyalität seiner Freunde auszunutzen. Denn natürlich hatte Großvater die Luftpumpe gekauft, was denn sonst.
Großvater schloss die Augen, machte sie wieder auf und sah Else an. Ihr kurzes Haar, ihre großen Augen.
»Gute Nacht!«, sagte er.
»Ich bin immer noch dafür, dass du die Bombe wegwirfst«, sagte Else. Dann ging sie in das Zimmer, aus dem sie am Nachmittag die trockene Kleidung geholt hatte.
Und Großvater schaute ihr nach, hörte, wie sie die Tür von innen schloss, und dass sie noch einige Schritte durch das Zimmer ging, und dann legte er sich auf das Kanapee, das wahrscheinlich für Elses Vater gemacht worden war, denn es war sehr breit und unglaublich kurz, und hart war es auch.