Kitabı oku: «Mord oder Absicht?», sayfa 2
„Böse und gut sind wiederum theologische Begriffe, damit kommen wir auch nicht weiter.“
„Aber ich komme häufig damit weiter“, widersprach Vlassi zaghaft.
„In Ihrem Beruf vielleicht“, brummte Dr. Niebergall, „womit beschäftigen Sie sich gleich noch mal?“
„Ich bin Kommissar bei der Kriminalpolizei.“
„Kommissar sind Sie, und Sie haben etwas Böses getan?“
„Ich weiß es eben nicht.“
„Das Gedächtnis, richtig, es ist Ihnen abhandengekommen“, stellte der Therapeut fest. Er machte eine kleine Pause, sah einen Moment an die Decke und teilte dann mit: „Das Einzige, was für unsereinen zählt, ist die Verhaltensweise. Können Sie mir ein Beispiel sagen, das Sie an Ihrer Vernunft zweifeln lässt?“
Oh, da könnte ich mit vielen Beispielen aufwarten, ging es Vlassi durch den Kopf. Von den Enten im Kurpark, die mir keine Antwort gaben, darf ich überhaupt nichts erzählen, da ruft dieser Niebergall gleich den Notdienst an.
Der Psychotherapeut warf einen lauernden Blick zu ihm: „Sagen Sie, nehmen Sie Drogen?“
„Auf keinen Fall!“, rief Vlassi aus, „Drogen halte ich von mir fern.“
„Und Alkohol?“, wollte Dr. Niebergall wissen.
„Ich bin abstinent, ich trinke nur Moringa-Tee.“
„Was ist denn das?“, fragte Dr. Niebergall, wartete aber nicht die Antwort ab, da er sich gleich dachte, dass es sich um ein Gesundheitsgebräu handeln musste.
Er wollte stattdessen wissen: „Erinnern Sie sich, wann Sie zum letzten Mal diesen Tee getrunken haben?“
Vlassi legte den Kopf nach hinten, um schließlich mitzuteilen: „Das ist mir auch entfallen. Ich weiß aber, dass ich mit Herrn Hillberger in Eltville einen Kaffee getrunken habe.“
„Wann war das?“
„Vielleicht vor Jahren …“, sinnierte Vlassi.
Nun wurde es dem Therapeuten zu bunt: „Was? Vor Jahren? Wollen Sie mir einreden, dass Sie seit Jahren unter Gedächtnisschwund leiden?“
Vlassi räusperte sich: „Auch das kann ich Ihnen nicht beantworten, aber Sie haben wohl recht.“
Dr. Niebergall erhob sich mit einem Ruck von seinem Sessel: „Hinaus mit Ihnen!“
Vlassi ergriff wieder die Kante des Schreibtischs, da der kleine Sessel unter ihm die Aufforderung des Arztes wohl auf sich bezogen hatte und so bedenklich schwankte, als wolle er höchstselbst forteilen.
„Aber warum denn?“, fragte er den aufgebrachten Dr. Niebergall.
Der legte die Hände auf seinen Schreibtisch und teilte mit: „Es gibt keinen Gedächtnisschwund, der sich über Jahre hinzieht.“
„Bei mir vielleicht doch“, widersprach Kommissar Spyridakis. „Ich bin vermutlich eine medizinische Ausnahme, gewissermaßen ein Fall für die Lehrbücher.“
„Sie wollen mich wohl vergackeiern! Scheren Sie sich zum Teufel.“
Vlassi erhob sich von seinem wackeligen Sitz: „Ja, meinen Sie denn, der könnte mir helfen?“
„Ich hoffe es!“, rief der Psychiater und wies mit der Hand zur Tür, „bei dem sind Sie in den besten Händen, der wird Sie kurieren.“
4 Die Hölle schmeckt nicht übel
Vlassi fuhr die Rheinuferstraße entlang. Er war auf dem Rückweg in Richtung Wiesbaden. Nach dem Rauswurf bei Dr. Niebergall war er zum Geisenheimer Dom geschlendert und hatte überlegt, ob ein Besuch desselben ihn aufmuntern könnte.
War das etwa ein Anfall von Gläubigkeit? Konnte man in einer Kirche aufgemuntert werden? Lieber Gott, ich könnte eine Aufmunterung vertragen … nein, nein, so ein Ansinnen ist ja unmöglich … ich habe es mit einem menschlichen Problem zu tun, mit einem Vlassi-Problem, damit kann ich nicht den Höchsten belästigen, was soll der von mir denken.
Aber einen Kaffee könnte ich mir gönnen, überlegte Kommissar Spyridakis. Hier in diesem wunderbaren Geisenheim werde ich eine wohlverdiente Tasse Kaffee zu mir nehmen, das habe ich mir nach diesem quälenden Besuch bei Dr. Niebergall verdient.
Schon saß er im Garten eines nahe dem Dom gelegenen Cafés bei Kaffee und Kuchen. Der erste Schluck des heißen Getränks tat ihm gut, sodass er dachte, ich sollte vielleicht vollends zu Kaffee übergehen und den gesunden Moringa-Tee ganz beiseitelassen. Moringa könnte mir in meiner verqueren Lage jetzt auch nicht helfen, er würde mich einlullen und mir vorgaukeln, dass ich gesund bin und immer gesünder werde. Wo doch das Gegenteil der Fall ist! Ich bin nicht nur tot, ich bin ein totes Wrack – so fühle ich mich jedenfalls. Obwohl eigentlich alles an mir noch dran ist. Alles? Die Erinnerung fehlt halt.
Vlassi lehnte sich zurück. Das Gespräch mit dem psychologischen Psychotherapeuten ging ihm durch den Kopf. Schon die Berufsbezeichnung ist doch irgendwie übertrieben, eigentlich doppelt gemoppelt. Dieser Niebergall, überlegte er weiter, war zwar rabiat, doch dämlich kam er mir nicht vor.
Wir sind alle tot, sagte er, wissen es nur nicht. Das schien Vlassi auf einmal ein sehr wahres Wort zu sein. Die meisten wissen nicht, dass sie als tote Typen durch die Gegend irren, ich dagegen schon. Tot ist doch mal was anderes. Wer will denn schon immer leben. Jene Leute, die gerade dem Dom zustreben – sie glauben doch nur, dass sie lebendig sind, in Wirklichkeit werden sie lediglich durch ein Inneres aus Holzwolle aufrecht gehalten. Die sind vermutlich völlig unlebendig, haben aber keine Ahnung von ihrem desolaten Zustand. Aber was hilft es mir, dass ich es weiß …
Ihm fiel ein, dass Dr. Niebergall seine Eltern als Schuldige ausgemacht hatte, sie seien verantwortlich für seine jetzige Situation. Ach ja, immer die Altvorderen, das ist wohl ein bewährtes Rezept von solchen Niebergallen. Wenn ihnen sonst nichts einfällt, müssen die Eltern herhalten. Seinen Eltern, dachte Vlassi, konnte er überhaupt keinen Vorwurf machen.
Sie hatten ihn ins Leben gebracht und nicht in den Tod gestoßen, in dem er sich jetzt wähnte. Sie hatten getan, was sie tun konnten, hatten nicht nur seinen Plan, aufs Gymnasium zu gehen, gefördert, sondern auch seine Polizei-Ambitionen unterstützt. Ein Grieche in der deutschen Polizei! Das war ziemlich ungewöhnlich, aber bald schon Realität.
Vlassi kam in den Sinn, dass der Psychotherapeut an einer gewissen Stelle ihres Gesprächs ausgerastet war. Wollen Sie mir einreden, dass Sie seit Jahren unter Gedächtnisschwund leiden?, hatte er ausgerufen. Und danach kam der Hinauswurf. Einen Gedächtnisschwund, der sich über Jahre hinzieht, gäbe es nicht.
Vlassopolous Spyridakis griff nachdenklich zu seiner Tasse Kaffee. Vielleicht war der Besuch bei Dr. Niebergall doch nicht ganz umsonst gewesen. Vielleicht war Vlassis naseweiser Hinweis, dass er ein Fall für die medizinischen Lehrbücher sei, ganz daneben. Vielleicht lag der Arzt richtig mit seinem Zorn.
Es musste einen Vorfall geben, der ihm den Tod beschert und das Gedächtnis geraubt hatte – einen Vorfall, der nicht Jahre zurücklag, sondern in der jüngsten Vergangenheit siedelte. Die jüngste Vergangenheit? Gerade die war ihm abhandengekommen. Er konnte im Grunde froh sein, dass er noch seinen Namen kannte und wusste, was er beruflich trieb. Hätte er nicht auch der Vorstellung anhängen können, dass er bei der Müllabfuhr seine Brötchen verdiente? Am Bahnhof Klos reinigte? Oder beim Standesamt Heiratswilligen die Ringe ansteckte? Nein, er wusste, dass er bei der Polizei arbeitete, er wusste, dass Julia Wunder seine Chefin war, er wusste, dass er mit Carola befreundet war, er wusste sogar, dass Kriminalrat Feuer ein besserwisserischer Vorgesetzter war und seit Jahren nach Höherem strebte.
„Herr Doktor Niebergall“, murmelte Vlassi, „ich muss Abbitte leisten, Sie hatten recht, es handelt sich bei mir nicht um einen jahrelangen Gedächtnisschwund. Sie sind ein wahrer psychologischer Psychotherapeut.“
Er hielt inne und dachte: Und deshalb werde ich auch nicht den Teufel aufsuchen. Wie sollte der mir helfen, wahrscheinlich wäre er unzufrieden mit mir und würde mir sogar einen Aufenthalt in der Hölle verweigern. Obwohl ich einen Besuch dort ganz interessant fände, es muss ja nicht lang dauern, mehr so ein Hineinschnuppern könnte es sein …
Im selben Moment kam Vlassi der Gedanke, dass er sich eigentlich schon in der Hölle befand. Hölle! Hölle! Das ist doch nur das Pseudonym für eine ausweglose Situation! Wer sich nicht an die jüngste Vergangenheit erinnerte, wer als erinnerungsloser Toter durch die Gegend schlappte – war der nicht bereits in der Hölle angelangt? Er nahm mit der Gabel ein Stück von seinem Kuchen, einer Teigware aus Pflaumen und Streuseln, und trank einen Schluck Kaffee. Beides genoss er. Seltsam, dachte er, dass mir die Hölle schmeckt – sie schmeckt überhaupt nicht übel.
Keine zehn Minuten später stieg er in seinen Dienstwagen und trat die Heimfahrt an. Sein Blick schweifte von der Straße zum Rhein, und er überlegte, wohin sein Weg ihn führen sollte. Ins Büro zu Julia Wunder? Aber der könnte er nur von seinem Misserfolg bei Dr. Niebergall berichten. Dabei hatte sie sich solche Mühe mit ihm gegeben – konnte er sie da enttäuschen?
*
Hauptkommissarin Wunder machte sich zur gleichen Zeit tatsächlich Gedanken um ihren Assistenten. Sie saß im Büro an ihrem Schreibtisch, stand gerade auf und ging zum Fenster. Und wenn man genau hinschaute, konnte man eine Sorgenfalte auf ihrer Stirn entdecken.
Den Fensterblick liebte sie, sie hatte das Gefühl, dass der Blick in die Ferne, hinauf zum Neroberg, ihre Gedanken freier machte. Sie fragte sich, ob die Empfehlung ihres Vaters dem Kollegen Spyridakis geholfen hatte? Ihr Nachdenken fand ein jähes Ende, denn die Tür hinter ihr wurde aufgerissen, und Kriminalrat Feuer enterte das Zimmer.
„Guten Tag, Frau Wunder!“, rief er.
Sie drehte sich herum und erwiderte seinen Gruß.
„Sie machen ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter“, rief Robert Feuer gutgelaunt.
„Ich habe nur nachgedacht“, erklärte Julia.
„Nachdenken ist immer gut. Wer nachdenkt, wird klüger. Haben Sie heute schon den Wiesbadener Kurier gelesen?“
„Noch nicht.“
„Ich möchte Ihnen eine Lektüre empfehlen, einen Artikel für Zeitgenossen, die wir ja alle sind.“
„Ah ja“, murmelte Julia, und das wirkte ziemlich uninteressiert.
„Sie sollten sich ihn zur Brust nehmen“, teilte Feuer mit, um sich gleich zu korrigieren, „ich meine natürlich, Sie sollten sich ihn vor Augen führen …“
„Worum geht es denn?“
„Es geht um die Aufgewachten, haben Sie von denen schon gehört?“
Julia Wunder ging zu ihrem Schreibtisch. Während sie sich setzte, teilte sie mit: „Ich muss gestehen, nein.“
„Oh“, sagte Feuer und nahm ihr gegenüber auf Vlassis Stuhl Platz, um gleich fortzufahren: „Da ist Ihnen was entgangen. Das sollten Sie nachholen.“
„Handelt es sich um Kriminelle?“, wollte Julia wissen.
„Nein, nein“, wehrte Feuer ab, „wir haben mit denen nichts zu tun. Fernab von unserer Welt sind die. Aber Lesen bildet. Man sollte sich auch für Dinge interessieren, die etwas außerhalb der beruflichen Tätigkeit liegen.“
Julia nickte: „Werd’ ich machen.“ Und sie fügte mit leichtem Grinsen hinzu: „Sie wissen doch, dass mir Ihr Wunsch Befehl ist.“
Feuer fiel plötzlich etwas ein: „Sagen Sie mal, wo ist eigentlich Spyridakis, dieser unselige Kollege? Geht er immer noch spazieren, wie ich es ihm empfohlen habe?“
Jetzt war Julia etwas in der Klemme. Sollte sie Feuer etwa erzählen, dass sie ihn nach Geisenheim zu einem Psychiater geschickt hatte?
„Das Spazierengehen muss auch mal ein Ende haben“, murrte Feuer, „jetzt sitze ich schon auf seinem Platz, bin ich etwa sein Stellvertreter?“
Julia erwiderte: „Niemals könnten Sie sein Stellvertreter sein.“ Sich räuspernd, fuhr sie fort: „Ich meine es natürlich umgekehrt. Übrigens ist Kommissar Spyridakis auf einer Recherche. Ich habe ihn zu einem Mann entsandt …“
Sie kam nicht weiter, Robert Feuer beugte sich vor: „Etwas Kriminelles, von dem ich nichts weiß?“
Julia nahm den zugespielten Ball sofort auf: „Ja, das könnte möglich sein. Ich wollte Sie nicht damit belästigen, wir sind noch in den Vorarbeiten, in den allerersten. Wie gesagt, Recherche.“
„Wie heißt denn der Mann, zu dem Sie Spyridakis geschickt haben?“
„Niebergall“, antwortete Julia.
„Niebergall … Niebergall … der Name kommt mir irgendwie bekannt vor … woher kenne ich den?“, murmelte Feuer.
„Es gibt sicher eine Menge Niebergalls …“
Wieder fiel ihr Robert Feuer ins Wort: „Ist es ein Name aus Verbrecherkreisen? Er klingt ganz danach.“ Feuer hielt inne und murmelte: „Aber woher kenne ich ihn?“
Julia wollte ihm auf keinen Fall helfen: „Es wird Ihnen sicher noch einfallen.“
Der Kriminalrat erhob sich: „Nun gut. Halten Sie mich auf dem Laufenden was diesen Niebergall anlangt. Und ich will auch wissen, was Spyridakis bei ihm ermittelt hat.“
„Aber natürlich, Herr Feuer, ich erstatte Bericht, wenn ich mehr weiß.“
Robert Feuer ging zur Tür, während er den Namen Niebergall vor sich hinmurmelte. Kaum war er draußen, griff Julia zum Telefon. Sie wollte Vlassopolous Spyridakis anrufen, nicht allein Wissbegier trieb sie, es war auch pure Neugier – sie wollte unbedingt erfahren, ob Dr. Niebergall ihren Vlassi in Sachen Gedächtnisverlust geheilt hatte.
*
Vlassi fuhr inzwischen in den Wiesbadener Vorort Schierstein ein. Als er am Drogeriemarkt Rossmann vorbeikam, überlegte er, ob er nicht den Parkplatz im Hof aufsuchen sollte. Er könnte in der Drogerie nach einem Gesundheitstee fahnden. Nein, kein Moringa sollte es sein, sondern ein Tee, der seinem malträtierten Gedächtnis aufhalf.
Gedacht, getan. Kaum befand er sich im Laden, steuerte er die Tee-Abteilung an. Und war überrascht. Was gab es hier nicht alles, was einen maladen Körper und Geist wieder in Form bringen konnte. Er sollte auf jeden Fall den Nerven- und Schlaftee nehmen, auch den Leber- und Galle-Tee nicht verschmähen – vermutlich war seine Leber auch angeschlagen, eventuell sogar die Ursache für seinen Zustand. Und einen Verdauungstee konnte man immer gebrauchen, wahrscheinlich verdaute er schlecht und litt deshalb unter Gedächtnisschwund. Zur Unterstützung würde er gleich auch den Magen-und-Darm-Tee einpacken.
Und was sah er da? Kopf-Entspannungstee! Der war ja für ihn ausgesprochen wichtig. Sein Kopf, sein Geist musste sich enorm entspannen, dann konnte die Erinnerung wieder einströmen. Vielleicht würde auch der Brennnesseltee ihm weiterhelfen. Wofür war der eigentlich gut? Zur Durchspülung der Harnwege, stand auf der Packung. Meine Harnwege, ging es Vlassi durch den Kopf, sollten auf jeden Fall durchspült werden. Wer weiß, was da alles abtransportiert wird.
Eine junge Verkäuferin näherte sich ihm: „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“
Vlassi drehte sich zu ihr: „Ja … also, haben Sie etwas … fürs Gedächtnis?“
Die Frau nickte: „Nehmen Sie doch einen Ingwertee. Den trinke ich sehr gern.“
„Ah“, sagte Vlassi, „daran habe ich noch gar nicht gedacht, etwas Spezielles wohl?“
Die Verkäuferin nickte und lächelte.
Vermutlich ein guter Tipp, dachte Vlassi, offenbar hat die Dame auch Gedächtnisschwierigkeiten. Er bedankte sich und griff zu einer Packung Ingwertee. Die junge Frau erkannte, dass Vlassi einen Einkaufskorb brauchte. Sie warf ihm einen liebevollen Blick zu und brachte ihm einen solchen Korb.
Ach, überlegte Vlassi, als er zur Kasse strebte, hier werde ich öfter herkommen, hier wird mein Leiden intuitiv erkannt, noch dazu von einer Frau in meinem Alter, hier hilft man mir auf die Beine. Beim Bezahlen merkte er, dass er eine Tasche für seine vielen Tees brauchte, aber das war für die Dame an der Kasse ein leicht zu lösendes Problem. Sie reichte ihm einen Papierbeutel: „Da gehen all Ihre Tees hinein.“
Draußen auf der Straße wollte Vlassi zu seinem Auto im Hof der Drogerie eilen, als eine Gestalt auf der gegenüberliegenden Straßenseite ihm zurief: „Wen sehe ich denn da! Das ist doch Kommissar Spyridakis.“
Vlassi hatte den Burschen nicht gesehen und fragte sich sofort, ob sich sein Gedächtnisschwund jetzt schon auf seine Sehkraft legte. Hätte er vielleicht noch einen Augen-Tee mitnehmen sollen? Er warf einen suchenden Blick nach drüben, und jetzt erkannte er, wer ihn da angerufen hatte. Es war Volker Born, der mit einem anderen Mann dastand.
„Bleiben Sie, wo Sie sind!“, rief Born, „mit Ihrem Riesenbeutel müssen Sie nicht über die Straße kommen.“
Er wartete ab, bis alle Autos vorüber waren, dann schlenderte er hinüber zu Vlassi. Der Bekannte von ihm kam mit.
„Freut mich, Sie zu sehen“, begrüßte Volker Born den Kommissar, „Sie wollten wahrscheinlich in die Buchhandlung zu Andreas Dieterle. Aber ich fange Sie vorher ab.“
Vlassi warf einen neugierigen Blick auf seinen Begleiter.
„Das ist ein guter Bekannter von mir, darf ich vorstellen, Karl-Friedrich Oberembt.“
Er wandte sich zu dem Genannten: „Herr Oberembt, Sie machen die Bekanntschaft von Vlassopolous Spyridakis, einer Spürnase von hohen Graden.“
Karl-Friedrich Oberembt war ein schlanker, mittelgroßer Mann mit klaren, gutgeschnittenen Gesichtszügen. Er musste Ende vierzig oder Anfang fünfzig sein, sein volles dunkelbraunes Haar ergraute bereits an den Seiten, dennoch wirkte er recht jugendlich. Sympathischer Typ, dachte Vlassi.
Zu Born sagte er grinsend: „Wenn ich eine Spürnase bin, sind Sie ein Anfänger.“
Ihm war es gar nicht unrecht, den Theologen Born zu treffen. Wie oft hatte der ihm schon bei kniffligen Problemen geholfen. Und zwar ohne es zu merken, was das Beste war. Beim letzten Fall hatte er den Tod als Verjüngungskur gedeutet – vielleicht etwas ungewöhnlich, aber doch sehr hilfreich bei den Ermittlungen. Und wer hatte den Mörder schließlich aufgetan? Niemand anderer als er, Vlassopolous Spyridakis.
„Jetzt, wo ich Sie abgefangen habe“, teilte Born mit, „könnten wir eigentlich mal wieder einen Kaffee trinken gehen.“
„Ich bin dabei“, stimmte Vlassi zu und dachte: Eigentlich bin ich ja auf dem Tee-Trip, auf dem Gesundheitstee-Trip, aber man muss auch mal fünfe gerade sein lassen.
„Vielleicht kommen Sie mit, Herr Oberembt?“, fragte Born.
„Würde ich gerne, aber ich hab’ noch so viel zu tun. Ein andermal gern.“
Oberembt nickte Vlassi zu, der nickte zurück, und der sympathische Bekannte von Born ging in Richtung Buchhandlung davon.
„Ist das ein Kollege von Ihnen?“, fragte Vlassi.
„Kann man so sagen“, erwiderte Born und kam gleich auf ein anderes Thema: „Was schleppen Sie eigentlich in dieser riesenhaften Tüte mit sich herum?“
„Oh, das sind Tees, spezielle Tees.“
Born sah ihn streng an: „Spezielle Tees? Sie meinen sicher Gesundheitstees. Herr Spyridakis, ich habe Ihnen doch schon bei unserem letzten Treffen erklärt, dass Spezialisten herausgefunden haben, dass kein anderer Stoff als Kaffee die Gesundheit am besten fördert.“
Vlassi legte den Kopf leicht in den Nacken: „Stimmt. Jetzt fällt es mir auch ein. Das haben Sie gesagt.“ Er lachte laut und wie befreit auf, was sein Gegenüber irritierte.
„Warum lachen Sie so grell?“, fragte Born.
Vlassi war deshalb in ein so unnatürliches Lachen ausgebrochen, weil ihm gerade bewusst geworden war, dass sein Gedächtnis funktionierte. Es war schließlich eine Weile her, dass er mit Born einen Kaffee getrunken hatte. Und er wusste es noch. Verloren war er also nicht, die Verlorenheit, in der er sich nach dem Besuch bei Dr. Niebergall wähnte, konnte er abstreifen, er konnte gewissermaßen aus der Verlorenheit heraussteigen. Ja, er war sich jetzt sicher, dass die Vokabel Verlorenheit überhaupt nicht zu ihm passte.
5 Schwarzer Humor springt aus dem Sarg
Wenige Minuten später saßen die beiden Männer im Café Rondo am Schiersteiner Hafen. Auf dem Weg dorthin wollte Volker Born wissen, woran Vlassi gerade arbeite: „Sie wissen doch, ich interessiere mich stark für grauenhafte Morde. Und möglichst blutig sollten sie sein.“
Vlassi erwiderte ausweichend: „Sie haben mich beim letzten Fall schon sehr inspiriert …“
„Nicht nur beim letzten“, fiel ihm Born ins Wort, „denken Sie nur daran, was ich Ihnen für wertvolle Infos beim Kunstfall gegeben habe, jene Mona-Lisa-Angelegenheit. Sie erinnern sich doch?“
Vlassi überlegte angestrengt, hier handelte es sich gewissermaßen um eine Nagelprobe für sein Gedächtnis. Doch auf einmal fiel ihm die Szene ein, wo er Born als Kunstjünger bezeichnet hatte – und er lachte befreit vor sich hin.
„Sie befinden sich in einer Lachphase“, stellte Born stirnrunzelnd fest.
Vlassi merkte, dass er es mit seinem Erinnerungslachen nicht übertreiben durfte, und sagte: „Mir ist gerade eingefallen, dass ich Sie als Dadaist bezeichnet habe.“
„Was gibt es da zu lachen? Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Sind Ihnen etwa jetzt Zweifel gekommen, und lachen Sie deshalb?“
„Auf keinen Fall“, stellte Vlassi klar, „Sie sind nach wie vor ein geborener Dadaist …“
„Das will ich hoffen“, nahm ihm Born das Wort ab, „so wie die Dadaisten schwimme auch ich gern gegen den Strom.“
„Und mir fällt auch noch ein“, ergänzte Vlassi, der glücklich über seine Erinnerungsleistung war, „dass Sie nichts dagegen hatten, Polizeipräsident zu werden.“
„Stimmt. Nach wie vor hätte ich gar nichts dagegen, gäbe mich aber auch mit dem Posten eines Kriminalrats zufrieden.“
„Richtig!“, jauchzte Vlassi auf, „Kriminalrat kam auch infrage.“
Die beiden waren inzwischen am Rheinufer angekommen und steuerten den Außenbereich des Cafés an. Nachdem sie einen freien Tisch gefunden hatten und sich gerade setzten, fragte Volker Born: „Warum sind Sie eigentlich auf den letzten Fall gekommen? Warum reden wir über die Vergangenheit?“
Wieder befand sich Vlassi in einer gewissen Erklärungsnot, wusste sich aber Rat: „Ich wollte Ihren Humor mal wieder hervorkitzeln. Ihr Humor ist zwar schräg, aber mitunter doch ganz hilfreich.“
Born rümpfte die Nase: „Mitunter? Ich möchte doch hoffen, dass er unentwegt hilfreich ist.“ Er machte eine kleine Pause: „Wissen Sie, was Humor ist?“
„Ja, also …“, setzte Vlassi an.
„Ich sage es Ihnen“, erklärte Born, „Humor ist die beste Überlebensstrategie. Erfordert allerdings das Talent, lachen zu können. Am besten über sich selbst.“
Vlassi nickte: „Besser hätte ich es auch nicht sagen können.“
„Das habe ich mir gedacht“, lächelte Born, „und wissen Sie auch, was eine humorfreie Zone ist?“
„Das ist eine Zone, die des Humors entbehrt.“
„Nicht schlecht formuliert“, teilte Born mit, „aber man muss klarer werden. Die humorfreie Zone ist eine schauerlich unfruchtbare Gegend, die sehnsüchtig auf Düngung wartet.“
„Ah ja“, nickte Vlassi und retournierte, indem er Borns Worte wiederholte: „Das habe ich mir gedacht. Aber die Frage ist doch: wie kann man diese Gegend düngen?“
„Sie meinen, womit? Das ist doch ganz einfach. Man muss diese unfruchtbare Gegend mit Humor düngen.“
„Richtig“, bestätigte Vlassi, „Sie haben ja so recht. Mit Humor düngen, damit alles fruchtbar wird.“
Eine Kellnerin kam, die beiden orderten je einen Kaffee, und kaum war die Bedienung fortgeeilt, fragte Vlassi: „Aber wissen Sie auch, was schwarzer Humor ist?“
„Schwarzer Humor ist mein Lieblingshumor“, teilte Born mit ernstem Gesicht mit.
„Das habe ich mir schon gedacht“, grinste Vlassi, „und ich kann Ihnen sogar Ihren Lieblingshumor erklären.“
Volker Born streckte seinen Kopf vor: „Legen Sie los.“
„Schwarzer Humor ist, wenn man aus dem Sarg heraus einen Witz über das Jenseits macht.“
Born sah Vlassi einen Moment an, dann lachte er: „Sehr gut. Gefällt mir.“ Er machte eine kleine Pause: „Ich wusste schon immer, dass Sie ein sprachtüfteliger Kommissar sind.“
In dem Moment fiel Vlassi sein ureigenes Problem ein: „Man könnte auch sagen: Schwarzer Humor ist, wenn man aus der Erinnerungslosigkeit einen Witz über das Diesseits macht.“
„Nein, nein“, widersprach Born, „Sie verderben ja die Pointe. Bleiben Sie bei der ersten Fassung, die ist druckreif.“
Die Kellnerin kam und brachte ihre Kaffees. Born nahm einen Schluck, um dann sein Gegenüber zu fragen: „Erinnerungslosigkeit, wie kommen Sie denn darauf?“
„Ich bin doch sprachtüftelig. Da fällt einem so was ein.“
Born setzte seine Tasse ab: „Trinken Sie einen Schluck Kaffee. Der macht Sie weniger sprachtüftelig. Zu viel Sprachtüftelei ist ungesund.“
Vlassi schaute auf seinen Kaffee, nahm schließlich die Tasse in die Hand, ohne sie an den Mund zu führen.
„Trinken Sie nicht? Warten Sie auf eine Eingebung von oben?“, fragte der Theologe Born.
Jetzt setzte Vlassi die Tasse an seine Lippen und trank, allerdings etwas zögerlich. Dann setzte er sie ab und sagte zu Born: „Wissen Sie, ich frage mich manchmal, weshalb wir eine Erinnerung haben. Wenn wir keine hätten, wäre doch alles jeden Tag neu. Wir könnten uns in dieselbe Frau verlieben, würden es nicht wissen, und alles wäre wie beim ersten Mal.“
„Weil uns die Erinnerung fehlt“, stimmte Born zu. „Aber denken Sie daran, was uns die Erinnerung gibt.“ Sein Gesicht verwandelte sich in ein Fragezeichen, und Vlassi wusste, dass er dieses Fragezeichen auflösen sollte.
Er kramte in seinen grauen Zellen, um schließlich vorsichtig zu antworten: „Die Erinnerung … gibt uns die Vergangenheit, wir wissen dann … was geschehen ist.“
Born nickte: „Richtig. Auch das vermag sie. Aber das Wichtigste ist, dass sie uns an die Liebe gemahnt. Wer die Liebe vergessen hat, der hat das Wichtigste …“
Vlassi stimmte sofort ein: „Die Liebe, ja, ja.“
Denn er erinnerte sich, dass er Carola liebte, jedenfalls war da eine tiefe Zuneigung. Erleichtert stöhnte er auf und griff zur Tasse, um einen weiteren Schluck zu nehmen.
Volker Born fragte: „Sie stöhnen. Sie denken doch hoffentlich nicht an Erotisches jetzt?“
„Nein, überhaupt nicht, mir ist nur meine Freundin eingefallen und ihre Kochkünste.“
Der Theologe sah ihn scharf an, erwiderte aber nichts, sondern trank einen Schluck von seinem Kaffee.
Vlassi deutete seinen Blick richtig: „Sie denken jetzt, ich liebe sie nur wegen ihres guten Essens. Nein, ich liebe sie auch ohne Essen.“
Und er dachte: Es ist mir sogar lieber, wenn sie nicht kocht, bei ihren nicht ausgelebten Kochkünsten entgehe ich einem unerwarteten Vergiftungstod am Esstisch.
Als hätte Volker Born seinen Gedanken gehört, stellte er fest: „Nun ja, es gibt auch Menschen, die aus Liebe morden, Sie brauchen sich nur an Ihren letzten Fall zu erinnern.“
Vlassi dachte sofort scharf nach. Ja, es fiel ihm ein. Der letzte Fall hatte ihn doch in diese Schauspieltruppe geführt und nach Rüdesheim zu dieser … wie hieß sie nochmal … Lisbeth. Sein Gedächtnis schien wieder zu funktionieren, und er erinnerte sich auch, dass er bei seiner Schauspielerei sogar mit dem Tod geprobt hatte. Das war ein Bursche von der Sorte Nimm, aber ansonsten gar nicht unsympathisch, dieser Herr Tod. Doch er, Vlassi, war ihm nicht auf den Leim gegangen, den tödlichen.
Born sprach weiter: „Aber Mord aus Liebe ist eine Verirrung, das habe ich Ihnen schon einmal gesagt.“
„Eben!“, stimmte Vlassi zu, „ich erinnere mich sehr gut, dass Sie mir diesen Hinweis gegeben haben.“
Volker Born grinste: „Einen bedeutenden Satz vergisst man nicht so schnell, und ich neige zu bedeutenden Sätzen.“
„Da kann ich zustimmen“, sagte Vlassi, der sowohl die Ironie in den Worten Borns erkannte als ihm auch ein Kompliment machen wollte. Überhaupt war er froh, den Theologen getroffen zu haben, der kitzelte Dinge aus ihm heraus, die ihm alleine wahrscheinlich gar nicht eingefallen wären. Der Mann war ja geradezu ein Erinnerungs-Hervorlocker.
In dem Moment beugte sich Volker Born vor: „Lassen Sie uns nicht weiter von der Vergangenheit reden. Die Gegenwart ist spannender.“
„Wirklich?“, fragte Vlassi.
Born schwang zurück: „Lass Moder den Erlösten, lass Schimmel den Verblichenen, lass Fäulnis den Verwesten.“
„Das denke ich mir auch immer bei meinen Mordfällen“, stimmte Vlassi zu, „aber der Moder weht mitunter in die Gegenwart, und die Fäulnis kann ich sogar riechen.“
„Ich weiß, was Sie meinen. Es ist Ihr Beruf, sich damit zu beschäftigen, Ihnen bleibt nichts anderes übrig.“
„Ihnen doch eigentlich auch nicht“, erwiderte Vlassi und dachte dabei an Born als Pfarrer, der die Verblichenen beerdigen und die Trauernden trösten musste.
„Ich rede doch nicht vom Tod“, erklärte Born, „ich rede vom Leben.“ Er machte ein verschmitztes Gesicht und wiederholte: „Lass Moder den Erlösten.“
Vlassi sah ihn verdutzt an: „Kann Ihnen im Moment nicht ganz folgen.“
„Herr Spyridakis“, sagte Born gravitätisch, „ich will Sie sogleich aufklären. Vorher sollten wir aber noch einen Kaffee bestellen. Meiner ist mittlerweile kalt, um nicht zu sagen tot. Und es widerstrebt mir, toten Kaffee zu trinken.“
*
Während Vlassi mit Volker Born ein Gespräch führte, das ihm nach und nach die Lücken seiner Erinnerung füllte, saß sein Kollege Ernst Lustig in Mainz an seinem Schreibtisch und starrte in die Luft.
Er hatte gerade einen Anruf von seinem Chef bekommen, der ihn an einen Tatort beorderte. Was denn passiert sei, wollte Lustig wissen. Das eben solle er herausfinden, Genaues wisse man nicht, doch eine Frau habe angerufen, weil sie Schüsse gehört habe. Schüsse verheißen nichts Gutes, erklärte ihm der Chef, vor allem, wenn sie in einem Vorort wie Gonsenheim die gutbürgerliche Ruhe zerschneiden.
Lustig war dieser Auftrag gar nicht recht. Es ging auf den Feierabend zu, und den verbrachte er lieber im Weinhaus Michel in der Altstadt als in einem kugelverseuchten Vorort. Er seufzte laut auf und erhob sich. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als nach Gonsenheim zu fahren, um nach dem Rechten zu sehen.
„Immer bleibt so was an mir hängen“, murmelte er, „hätte ich einen Assistenten wie den Spyridakis, könnte ich den schicken.“ Und er dachte: In unserem Rheinland-Pfalz, diesem armseligen Rüben- und Reben-Land, hat man ja kein Geld für die Polizei, hier folgen großen Worten immer nur kleine Taten. Kleine Taten? Sagen wir besser: klitzekleine Taten – wenn überhaupt welche.
Kriminalhauptkommissar Lustig musste in die Arndtstraße. Er wusste, wie man da hinkam, setzte sich in seinen betagten Golf und fuhr los. In Gonsenheim steuerte er die Breite Straße an, die gar nicht fürchterlich breit ist, sondern ihren Bewohnern nur vorgaukeln soll, dass sie auf einer Art Avenue flanieren, fuhr an der Maler-Becker-Schule vorbei, um schließlich in die Lennebergstraße abzubiegen. Nach einigen Querstraßen fuhr er rechts ab und erreichte die Arndtstraße. Ein schmales und nicht sehr langes Sträßchen war das, auf dem sich kein Mensch befand und auch nur wenige Autos am Rand parkten.