Kitabı oku: «Mord oder Absicht?», sayfa 3
Lustig stellte seinen Golf hinter einer Mercedes S-Klasse ab. Ja, dachte er, hier leben gut situierte Leute, und die Häuser besitzen alle Garagen, in denen es vermutlich herrliche Oldtimer zu bewundern gibt. Seine Erfahrung lehrte ihn allerdings, dass die Kriminalität in solchen Regionen nicht gering sein musste, und kurz flirrte der Bankenfall durch sein Gedächtnis und die Frau von Rattray und ihre Schwester – elegante Personen waren das. Besser gesagt, elegante und gefährliche Personen.
In der Straße war es völlig ruhig, geradezu Friedhofsruhe herrschte. Was soll ich hier?, dachte Ernst Lustig. Von die Luft zerpeitschenden Schüssen ist nichts zu hören. Er ging die Arndtstraße hinab in der Hoffnung, vielleicht doch noch etwas Verdächtiges zu hören oder zu sehen. Schließlich näherte sich ihm eine Frau um die sechzig. Sie sah überhaupt nicht elegant aus, eher etwas abgerissen, ihr Haar schien unfrisiert, ihre Schuhe waren ausgetreten, und ihr Regenmantel musste schon bessere Tage gesehen haben. Kurzum, sie sah nicht aus, wie es für diese Gegend angemessen wäre, und sie zog sogar einen wackeligen Einkaufswagen hinter sich her. Die Frau warf einen Blick zu ihm, als würde sie Ähnliches von ihm denken. Das hatte schon eine gewisse Berechtigung, denn Lustig wirkte mit seinem unrasierten Gesicht, seiner grauen unansehnlichen Joppe und seinen zu kurzen Hosen nicht gerade wie jemand, der gerade seinen Jaguar aus der Garage holen wollte. Freilich hielt ihn ihr Blick nicht davon ab, sie anzusprechen.
„Hier ist es ganz ruhig“, sagte er.
Die Frau erwiderte mit heller, klarer Stimme: „Warum auch nicht. Die Ruhe ist ein Labsal.“
„Vollkommen richtig. Ich suche sie immer, finde sie aber selten. Sie haben nicht zufällig einen kleinen Knall gehört?“
„Wie bitte? Einen Knall?“, fragte die Frau, „meinen Sie, jemand feiert vorzeitig Silvester?“
„So ungefähr“, stimmte Lustig zu.
„Ah, Sie sind vom Ordnungsamt. Da hat sich jemand beschwert.“
Lustig blieb nichts anderes übrig als zuzustimmen und teilte mit: „Wissen Sie, ein Knall zieht den nächsten nach sich, das wächst sich zur Böllerei aus – ein Erfahrungswert.“
„Hier nicht!“, erwiderte die Frau mit heiterer Stimme, „hier bleibt alles ruhig, und wenn es noch so knallt.“
Wenn es knallt, ist es doch gar nicht ruhig, dachte Lustig, wollte aber nicht naseweis erscheinen und sagte deshalb: „Ja, da haben Sie ganz recht, aber wir sind halt genötigt, solchen Knall-Beschwerden nachzugehen.“
Die Frau hob den Kopf: „Wissen Sie, ich freue mich direkt, wenn es mal knallt.“
„Tatsächlich?“, fragte Lustig.
„Ja“, nickte die Frau und beugte sich zutraulich zu ihm: „Ich bin nämlich etwas schwerhörig.“
Da bin ich ja an die Richtige geraten, ging es Lustig durch den Kopf, doch sein Gegenüber sprach schon weiter: „Wissen Sie, wenn ich einen Knall höre, weiß ich, dass ich noch am Leben bin.“
„Ja, ja“, murmelte Lustig und dachte: vorausgesetzt, der Knall rührt nicht von einem Schuss, der dich aus dem Leben befördert, ohne dass du es merkst.
„Was haben Sie gesagt?“, wollte die etwas schwerhörige Frau wissen.
„Nichts habe ich gesagt“, antwortete Lustig mit lauter Stimme, als ihm etwas einfiel: „Wohnen Sie hier in der Straße?“
„Reden Sie doch nicht so laut“, ermahnte ihn die Frau, um ihn mit leiser Stimme aufzuklären: „Ja, ich wohne hier, gleich im nächsten Haus.“
Ernst Lustig überlegte, ob er noch etwas von ihr erfahren könnte, aber was sollte er fragen? Leben Sie allein? Mit einer Katze? Oder nur mit einem wackeligen Einkaufswagen?
Die leicht Schwerhörige nahm ihm die Frage ab und teilte mit: „Hier in dieser Straße wohnen nur Prominente.“ Sie machte eine Pause, als wollte sie überprüfen, ob ihr Gesprächspartner beeindruckt war.
Lustig erkannte ihr Begehr, verzog seine Miene und nickte anerkennend.
„Das hätten Sie nicht gedacht, was!“
„Nie und nimmer“, stimmte Lustig zu, dachte aber: Wenn die alle so rumlaufen wie du, ist Prominenz nur ein anderer Ausdruck für Ebbe im Portemonnaie.
„Wissen Sie“, fuhr die Frau fort, „wer mein Nachbar ist?“
„Da bin ich überfragt“, antwortete Lustig.
„Nicht so laut!“, mahnte die Schwerhörige, obwohl Lustig ganz normal gesprochen hatte.
„Da bin ich überfragt“, wiederholte er wispernd.
Im gleichen Tonfall, als würde sie ein Geheimnis verraten, teilte sie ihm mit: „Mein Nachbar ist Frederick Reinhardt.“
„Aah“, machte Lustig, als wäre ihm eine Offenbarung zuteilgeworden, dabei konnte er mit dem Namen gar nichts anfangen.
„Ja, ja“, nickte sie, „ein angenehmer Mensch ist das, nur seinen Garten vernachlässigt er.“
Ernst Lustig dachte: Was nutzt mir ein angenehmer Mensch, wenn er nicht mordet? Offenbar mordet er lediglich seinen Garten durch Nicht-Pflege.
Laut fragte er allerdings: „Hat es bei dem vielleicht geknallt?“
Die Frau schüttelte den Kopf, griff nach ihrem Einkaufswagen und ging wortlos von dannen. Offenbar hielt sie die Fortführung des Gesprächs mit dem Mann vom Ordnungsamt für sinnlos, da der ja doch nur an Knallsündern interessiert war.
6 Schon von den Aufgewachten gehört?
Im Café Rondo in Schierstein war inzwischen ein weiterer Kaffee bei den Herren Spyridakis und Born angekommen. Volker Born schlurfte genüsslich an seiner Tasse, während Vlassi die seine vorsichtig an die Lippen hielt und ihm durch den Kopf ging, dass er eventuell schon zu viel von dem schwarzen Bohnensaft zu sich genommen hatte. Oder half ihm der eventuell sogar weiter, löste er seine Erinnerungsblockade?
Born räusperte sich: „Ich sagte, dass wir ins zeitgenössische Leben eintauchen müssen. Ich sagte, dass ich Sie aufklären will. Wohlan! Sind Sie bereit?“
„Auf jeden Fall. Wenn Sie mein Aufklärer sind, bin ich immer bereit“, erwiderte Vlassi und setzte seine Tasse ab, nachdem er einen winzigen Schluck getrunken hatte.
„Haben Sie schon von den Aufgewachten gehört?“, fragte Born.
„Die Aufgewachten“, sinnierte Vlassi und dachte: Das wäre was für mich, ich müsste auch aufwachen und mich an alles erinnern. Er sah sein Gegenüber an und schüttelte den Kopf: „Nö.“
„Die Aufgewachten gelten in gewissen Kreisen lediglich als Coronaleugner. Sie werden verwechselt mit den Querdenkern …“
Vlassi murmelte: „Querdenker kenne ich auch nicht. Oder meinen Sie mich?“
Born, der bisher entspannt dagesessen hatte, richtete sich auf und wirkte nun wie ein Lehrer, der einem störrischen Schüler das Pensum erklären muss: „Ich bitte Sie! Leben Sie denn gar nicht in der Gegenwart? Wer im Hier und Heute sein Dasein fristet, muss doch von Querdenkern und Aufgewachten gehört haben!“
Vlassi gestand: „Ich lebe wohl nicht so richtig im Hier und Heute. Vielleicht bin ich aus der Zeit gefallen.“
„Es ist ein großes Glück für Sie, dass Sie mich getroffen haben“, teilte ihm Volker Born mit.
Davon war Vlassi nicht überzeugt, denn was sollten ihm Querdenker und Aufgewachte, er kämpfte mit einem ganz anderen Problem.
Schon sprach Born weiter: „Die Querdenker lassen wir jetzt mal beiseite, das sind überwiegend Verschwörungsmystiker und Leute, die dem rechten Gedankengut zugetan sind …“
„Rechtsradikale?“, flocht Vlassi ein.
Born ging nicht auf seine Frage ein. „Aber wissen Sie, wie sich die Aufgewachten verstehen?“
Unser Kommissar schüttelte ratlos den Kopf.
„Die Aufgewachten“, erklärte Born, „haben erkannt, was in Deutschland und der Welt vor sich geht, nämlich …“
Vlassi fiel ihm ins Wort: „Mord und Totschlag.“
„Nein“, korrigierte Born, „Lüge und Verdummung sind an der Tagesordnung. So denken sie jedenfalls. Die Medien verdummen und verwirren uns angeblich. Und all jene, die das nicht glauben, nennen die Aufgewachten Schlafschafe.“
„Was wäre ich dann?“, fragte Vlassi nachdenklich, „bin ich vielleicht ein doppeltes Schlafschaf? Wo mir doch noch nicht mal die Aufgewachten geläufig waren, ich meine, ich kannte das Wort gar nicht.“
Born musterte ihn skeptisch, als würde ihm durch den Kopf gehen, dass Vlassi möglicherweise zu den Doppel-Schlafschafen gehörte. Dann sagte er: „Ich registriere Sie als Ausnahme. Als Ausnahme von der Regel. Sie sind höchstens ein Schlafschaf besonderer Art. Na ja, kein Wunder, Sie müssen sich ja fortwährend mit irgendwelchen Gräueltaten beschäftigen.“
„Eben!“, stimmte Vlassi zu, „mir fehlt die Zeit, um aufzuwachen.“
Und er dachte: Dabei würd’ ich nur zu gern aufwachen – aufwachen aus meiner Gedächtnisstarre.
Volker Born nahm einen Schluck Kaffee, dann sagte er: „Wissen Sie, was die Aufgewachten behaupten?“
Er wartete keine Antwort ab, sondern sprach sofort weiter: „Das Coronavirus halten sie für eine Erfindung. Die ganze Pandemie gilt ihnen als sorgfältig ausgetüftelter Plan von Bill Gates …“
„Gates, ist das nicht …?“, warf Vlassi ein.
„Ja, der Microsoft-Gründer. Er will mit Corona angeblich Geld verdienen.“
„Verdient er damit Geld?“, fragte Vlassi.
„Natürlich verdient er Geld, aber nicht damit. Er verdient Geld durch seine Computer, das sollten Sie doch wissen.“
„Richtig. Eben fällt’s mir auch ein.“
Born sandte ihm einen kritischen Blick: „Herr Spyridakis, mir scheint, dass Sie ein bisschen vergesslich werden.“
Der hat mein Problem erkannt, ging es Vlassi durch den Kopf, ob ich ihm vielleicht …
Volker Born redete weiter: „Wissen Sie, was die Aufgewachten auch behaupten? Dass es nur um die Frage geht, ob die Menschheit ausgerottet wird oder die Eliten hängen.“
„Das passt doch gar nicht zusammen“, entgegnete Vlassi und dachte: Das passt so wenig zusammen wie Mord oder Absicht – oder gibt es hier doch einen Zusammenhang?
„So könnte man meinen“, hörte er von seinem Kaffeegenossen.
„Soll das heißen, dass die Eliten gar nicht aus Menschen bestehen, sondern aus Maulwürfen?“, fragte Vlassi.
„Verquere Idee! Nein, es soll eine bürgerkriegsähnliche Situation heraufbeschworen werden. Entweder werden die Menschen ausgerottet oder, das ist die Alternative, man hängt die Eliten. Verstehen Sie?“
Vlassi nickte, obwohl er kaum verstand: „Das erinnert mich an die alte DDR. Dort hat man allerdings vergessen, die Eliten rechtzeitig aufzuhängen.“
„Nicht gleich so brachial werden“, schob der Theologe ein, „aber im Prinzip haben Sie recht. Sie sind offenbar wieder auf dem Damm, Sie scheinen zu verstehen.“
Vlassi war beruhigt, er hatte sich erinnert, wenn auch an einen Staat, der lange perdu war. Aber das wusste er ja schon, sein Gedächtnis funktionierte bei lang Zurückliegendem – aber vielleicht könnte er sich allmählich auch in die jüngste Vergangenheit zurücktasten.
„Eines muss ich Ihnen noch erzählen“, sprach Born, „die Aufgewachten behaupten auch, dass durch den neuen Mobilfunkstandard, man nennt ihn 5G, Nanopartikel in unsere Zellkerne vordringen und Krankheiten auslösen. Wir würden bald als Zombies durch die Welt gehen und außerdem unfruchtbar sein.“
Vlassi fiel ein, dass er vielleicht zu viel mit seinem Handy telefoniert hatte – könnte daher die Gedächtnisschwäche rühren? Aber sein Handy war vorsintflutlich, wie Julia Wunder öfter schon festgestellt hatte. Das sonderte bestimmt keine Nanopartikel ab – was auch immer das war. Außerdem lehnte er es ab, als Zombie durch die Welt zu gehen. Er war höchstens ein Toter ohne Kurzzeitgedächtnis.
„Stimmt denn das?“, wollte er wissen.
Volker Born spreizte beide Arme nach oben: „Natürlich nicht! Das ist Unsinn. Wie auch das, was die Aufgewachten über den bundesweiten Sirenen-Tag publizieren. Er findet, soviel ich weiß, am 10. September statt …“
Vlassi hob die Schultern, um sein Nichtwissen anzudeuten.
„Angeblich dient dieser Tag dazu, um die Schwingungen und das Erwachen zu blockieren“, fuhr Born fort und zog ein Gesicht, als habe er in eine furchtbar saure Pampelmuse gebissen.
„Was für Schwingungen?“, wollte Vlassi wissen.
Born beugte sich vor: „Endlich mal eine kluge Anmerkung. Eben! Was für Schwingungen? Das sind Hirngespinste, das ist alles nur Blabla von Verschwörungsanhängern.“
Vlassi nickte, dachte jedoch: Aber dass das Erwachen blockiert wird – könnte das nicht auf mich zutreffen? Was habe ich am 10. September gemacht? Vielleicht hat mich ein Sirenenton aus dem Gleichgewicht gebracht, als ich ahnungslos durch den Kurpark gelaufen bin?
„Es hat keinen Sinn“, brach Volker Born in seinen Gedankenstrom ein, „sich länger mit diesen verqueren Gedanken zu beschäftigen. Ich bin eigentlich nur darauf eingegangen, weil ich gemerkt habe, dass Sie keine Ahnung haben.“
„Sie wollten mich aufklären.“
„Genau! Wie Sie schon sagten, ich bin Ihr Aufklärer“, bestätigte Born, „mein Begehr ist, Sie zum Zeitgenossen zu machen.“
Vlassi erwiderte ernst: „Das hab’ ich dringend nötig. Zeitgenossenschaft und Vergangenheit, die gerade vergangen ist.“
„Die Vergangenheit vergeht nie“, teilte Born grinsend mit, „auch wenn uns mitunter das Gegenteil erklärt wird.“ Er machte eine kleine Pause: „Aber sich mit der üblen Gegenwart zu beschäftigen ist dringend nötig. Na ja, haben wir soeben getan.“
Vlassi nickte und griff zu seiner Tasse, einen Schluck könnte er sich noch gönnen, auch wenn der Kaffee inzwischen bestimmt kalt geworden war. Oder tot, wie sein Tischnachbar gesagt hatte.
„Es gibt aber auch Erfreuliches in der Gegenwart“, fuhr Born fort und machte ein geheimnisvolles Gesicht.
„Tatsächlich, gibt es das?“, murmelte Vlassi, der seine Tasse zurückgestellt hatte. Sein Kaffee war nicht nur tot, für ihn hatte er geradezu Leichengeruch angenommen.
„Ja, ja, das gibt es“, erklärte Born, „es gibt Erfreuliches. Man darf die Welt nicht nur mit den Augen des Pessimisten sehen. Was ist Pessimismus?“
„Ja … also …“, wollte Vlassi ansetzen.
„Ich sag’s Ihnen. Wenn man im Glück das Unglück erkennt, im Sieg die Niederlage sieht, im Schönen den Verfall wittert.“
Volker Born hielt inne: „Machen wir uns nichts vor. Pessimismus ist eine deutsche Grundtugend.“
Da bin ich inzwischen sehr deutsch geworden, ging es Vlassi durch den Kopf, sehe ich nicht in meinem schönen Geist auch bereits den hässlichen Verfall?
„Optimisten dagegen“, fuhr Born fort, „sehen im Unglück eine glückliche Fügung, in der Niederlage einen Sieg, und in Aschenputtel erkennen sie eine Prinzessin. Mit anderen Worten: Optimisten leben gesünder, glücklicher und länger.“
Vlassi horchte auf und wusste sofort: Er musste optimistischer werden. Der Zustand, in dem er sich befand, war ja äußerst ungesund. Wenn sich die Erinnerung sträubt, zu mir zurückzufinden, dachte er, konnte das nur in Siechtum und Hinfälligkeit enden, von Glück und langem Leben gar nicht zu reden. Wahrscheinlich breiten sich sogar schon allerlei Krankheiten in mir aus, Krankheiten, die mich dem ungesunden Grab entgegenschieben.
„Ja!“, stöhnte er, „ich möchte unbedingt dem Optimismus nähertreten.“
„Sie sind es bereits“, sagte Born gravitätisch, „denn Sie kennen mich.“
„Sie sind ein Optimist?“ In Vlassis Frage steckte ein Unterton von Zweifel.
„Aber natürlich! Alle pessimistischen Gedanken, die mich mitunter anfallen, verbanne ich sofort in den Orkus.“ Born machte eine kleine Pause: „Jetzt zum Beispiel fällt mir ein, dass wir ein Stück Kuchen essen könnten. Ein Gedanke, der meinem Optimismus entspringt, denn ich hoffe, nein, ich glaube, dass der Kuchen hier mundet.“
„Ah ja“, murmelte Vlassi, „dann lassen Sie uns mit Optimismus bestellen.“
Born drehte sich herum und winkte der Kellnerin. Als sie an den Tisch kam, sagte er: „Sie haben doch einen wunderbaren Schlupfkuchen, wie ich hörte.“
Die Kellnerin bestätigte.
„Bringen Sie uns bitte je ein Stück.“
Volker Born drehte sich zu Vlassi: „Ich lade Sie ein. Lassen Sie sich überraschen.“
Ich werde mir optimistisch den ersten Bissen in den Mund schieben, ging es Vlassi durch den Kopf, bestimmt schmeckt’s mir dann.
Born lehnte sich zurück: „Wir haben über die Aufgewachten geredet. Ich bin sehr kritisch, wie Sie wissen, aber man darf sie nicht über einen Kamm scheren.“
Vlassi nickte nachdenklich, sagte aber nichts.
„Es gibt da einen Mann, der ist wahrlich aufgewacht“, sprach Born weiter.
„Tatsächlich?“, flocht Vlassi ein.
„Ja, ja, ich habe ein Seminar von ihm besucht, es war hochinteressant.“
Vlassi sandte Born einen neugierigen Blick.
„Er sprach über die Banken und ihre unlauteren, ja verbrecherischen Methoden“, fuhr Born fort, „Sie werden diesen Mann nicht kennen. Aber Sie sollten ihn kennenlernen, er ist eine Bereicherung für uns alle.“
Eine Bereicherung, dachte Vlassi, in dem Wort Bereicherung steckt reich, ist das vielleicht einer, der mich reicher macht? Es muss ja nicht unbedingt in Penunze sein, neue Erkenntnisse sind auch was Schönes.
„Wenn Sie ihn sehen würden“, sprach Volker Born weiter, „würden Sie nicht denken, dass der so ungewöhnliche Gedanken hervorbringt. Er sieht ganz unscheinbar aus.“
„Ein Typ wie Albert Einstein?“, wollte Vlassi wissen.
„Na ja, nicht ganz, sein Haar ist nicht weiß und flattert nicht durch die Gegend, er ist relativ jung, etwa Mitte vierzig, sein Haupt ist kurz geschoren, und er trägt einen Vollbart, der seinem Gesicht einen schwarzen Rahmen gibt.“
In Vlassis Oberstübchen klickte es: „Trägt er eine Brille, eine randlose Brille?“
„Ja, genau, so eine Intellektuellen-Brille, wie wir früher sagten.“
In dem Moment kam die Kellnerin mit dem bestellten Schlupfkuchen. Sie stellte die Teller auf den Tisch und wünschte guten Appetit. Doch genau der schien Vlassi vergangen. Er rutschte auf seinem Stuhl zusammen, wirkte auf einmal wie ein Zwerg, und sein Gesicht verfärbte sich ins Weißliche.
„Was ist denn mit Ihnen los?“, fragte Born mit besorgter Stimme, „macht Sie der Anblick des Kuchens krank?“
Vlassi antwortete nicht, es schien geradezu, als wollte er überhaupt nicht mehr reden. Doch nach einer Weile bewegte er den Kopf verneinend hin und her.
„Was ist denn?“, wiederholte Volker Born, dessen Neugier erwacht war.
Es dauerte einen weiteren langen Moment, bis Vlassi stockend mitteilte: „Ich bin … aufgewacht …“
„Aufgewacht, was soll das heißen?“, unterbrach ihn Born.
Vlassis Gesicht sah nun nicht mehr nur weiß aus, es wirkte geradezu tot.
„Ich bin aufgewacht“, wiederholte er, „ich habe … mich erinnert … dieser Mann heißt Reinhardt …“
„Sehr richtig. Frederick Reinhardt heißt er“, bestätigte Volker Born, „kennen Sie ihn?“
Vlassi ließ einen Ton hören, der sich nach Verzweiflung anhörte: „Ja … meine Erinnerung … ist wieder da … ich weiß … wieder alles …“
Er machte eine Pause, um dann mit bitterer Miene zu erklären: „Ich habe diesen Mann ermordet.“
7 Da erfreut sich jemand eines
üblen Rufs
Während Vlassi auf ungewöhnliche Art seine Erinnerung wiederfand, saßen in Eltville im Café Schwab zwei Männer zusammen und unterhielten sich angeregt bei Kaffee und Kuchen. Sie hatten sich gerade über den Mord in Frankreich ausgetauscht, jene Enthauptung, begangen von einem Islam-Anhänger, und einer der beiden nicht mehr ganz jungen Männer im Café sagte gerade: „Die Ablehnung unserer Werte, der Meinungsfreiheit vor allem, ist bei den Islamisten doch gang und gäbe.“
Der andere stimmte ihm zu: „Nicht nur bei den Islamisten. In Frankfurt haben sich muslimische Mütter beschwert. Ihre Kinder seien durch den Besuch eines Klosters beschmutzt worden.“
„Tatsächlich? Da sieht man mal, dass diese Leute in unserer Gesellschaft nicht angekommen sind und vermutlich auch gar nicht ankommen wollen.“
Die beiden Männer schienen sich einig in der Beurteilung der Lage. Nachdem sie unisono von ihrem Kaffee getrunken hatten, sagte der eine: „Übrigens, der Bursche, den du mir geschickt hast, hat sich als Hallodri entpuppt.“
Sein Tischnachbar wusste sofort Bescheid: „Hallodri würde ich ihn nicht gerade nennen, obwohl mir das Wort gefällt.“
„Wie würdest du ihn denn nennen?“
„Also Kommissar Spyridakis ist doch eher ein schusselig-verträumter Typ.“
„Verträumt? Mein lieber Wolfgang, der Mann wollte mir weismachen, dass er seit Jahren unter Gedächtnisschwund leidet.“
Der Angesprochene nickte: „Ich habe mich schon oft gefragt, wie dieser Mensch in den Polizeidienst geraten konnte, aber Gedächtnisschwund …“
Sein Gegenüber trumpfte auf: „Gedächtnisschwund zieht sich nicht über Jahre hin. Das ist unmöglich. Obwohl ihm schließlich doch etwas einfiel. Mit dir will er vor langer Zeit mal Kaffee getrunken haben …“
„Vor langer Zeit? Seltsam“, überlegte der andere. „Du weißt ja, er ist ein Kollege meiner Tochter, und es ist noch gar nicht so lange her, dass wir hier in diesem Café zusammengesessen haben.“
Bei den beiden Männern handelte es sich um Wolfgang Hillberger und Dr. Niebergall, die sich mal wieder zu einem Kaffeeplausch getroffen hatten.
„Ich musste ihn hinauswerfen“, sagte Niebergall, „ich hatte das Gefühl, dass er sich einen Spaß machen wollte. Und ich habe ihm den Teufel empfohlen, mit dem er offenbar auf gutem Fuß steht.“
Hillberger ließ ein leises Lachen hören: „Etwas rabiate Methode, mein lieber Ernst, aber das wird er verkraften.“
„Durch Alkohol meinst du?“, fragte Dr. Niebergall.
„Nein, nein, der Spyridakis ist so gut wie abstinent, der trinkt doch meist nur diese scheußlichen Gesundheitstees.“
Niebergall legte den Kopf leicht nach hinten: „Da liegt er eigentlich richtig. Bloß keinen Alkohol.“
Hillberger streckte den Kopf vor: „Du wirst mir doch jetzt nicht mit deiner Familiengeschichte kommen?“
Dr. Niebergall nahm mit der Gabel den Rest seiner Schwarzwälder Torte und führte ihn zum Mund, um ihn sich genüsslich auf der Zunge zergehen zu lassen. Dann sagte er: „Die Familiengeschichte ist immer sehr wichtig, ich weiß, wovon ich rede. Sie verfolgt uns bis ins fünfte Glied.“
Wolfgang Hillberger konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen: „Bis ins Glied, noch dazu ins fünfte?“
Niebergall verstand die Ironie in seinen Worten: „Ich spreche als Psychiater, lieber Wolfgang. Psychiater wissen über diese Dinge mehr als Schulmeister.“
„Aber natürlich, mein lieber Ernst, und ich weiß ja auch, dass du familiär … wie soll ich sagen …“
„Du kannst es ruhig aussprechen“, nahm ihm Niebergall das Wort, „ich bin vorbelastet.“
„Und diese Vorbelastung gereicht dir zur Ehre“, erwiderte Hillberger und griff zu seiner Tasse.
„Ich heiße aus gutem Grund Ernst Niebergall, mein Vorfahr, auf den du anspielst, dagegen Ernst Elias Niebergall. Der zweite Vorname ist mir erspart geblieben. Elias war ein Trinker vor dem Herrn und mit Sicherheit auch ein Schnorrer.“
„Mag sein, Ernst. Aber du vergisst das Wichtigste. Er war ein Dichter. Er hat den Datterich geschrieben! Ein Schauspiel, das ich zu meiner aktiven Zeit in der Schule mit Vorliebe durchgenommen habe.“
„Was gibt es am Datterich durchzunehmen?“
„Ich bitte dich!“, entgegnete Hillberger, es ist ein wunderbares Theaterstück, das immer wieder ansehenswert ist.“
„Es ist ein Stück, das einen Trinker und Schnorrer darstellt. Soll das für Schüler vorbildhaft sein?“
„Mein lieber Ernst“, sagte Hillberger, „du siehst das zu eng. Wenn wir literarische Werke nur unter dem Gesichtspunkt beurteilen, welche Figuren im Mittelpunkt stehen und welche Schwächen …“
„Nenn’ mir andere Gesichtspunkte!“, rief Niebergall aus.
„Na ja, man könnte zum Beispiel fragen, wie der Datterich in diese Situation gekommen ist …“
Wieder unterbrach Dr. Niebergall seinen Freund: „In diese Situation? Durch eigenes Verschulden natürlich.“
Hillberger blieb gelassen: „Der Datterich ist unter die Spießbürger in Darmstadt verschlagen worden, wo er doch die Freiheit und das ungebundene Leben liebt. Der Wein ist ihm nicht nur Trost in dieser Umgebung, er ist ihm Heimat.“
„So also kann man seinen Alkoholismus rechtfertigen“, stellte der Psychiater sarkastisch fest.
„Ich will dich überhaupt nicht überzeugen, Ernst, aber wenn wir die Kunst unter dem Fallbeil der Moral beurteilen – da müssen wir uns von vielen großen Werken verabschieden.“
„Ja, soll denn die Kunst ohne Moral daherkommen?“, fragte der Ururur-Enkel des Datterich-Erfinders.
„Die Kunst soll nicht moralisieren“, erwiderte Wolfgang Hillberger, „das überlassen wir den Pfaffen. Die Kunst soll darstellen, was ist, und die Genießer dieser Kunst dürfen es beurteilen.“
Niebergall richtete sich in seinem Stuhl auf: „Ist das nicht ein bisschen wenig? Darstellen, was ist.“
„Das ist überhaupt nicht wenig. Warum ist Shakespeare so gut?“
„Das frage ich mich auch“, erwiderte Niebergall.
„Bitte werd’ nicht banal, Ernst. Du gehst schließlich hin und wieder auch mal ins Theater.“ Hillberger machte eine kleine Pause, um dann weiterzusprechen: „Shakespeare ist so gut, weil er nicht moralisiert. Er hat Falstaff und Othello und viele andere Figuren lediglich dargestellt, wie sie sind. Natürlich mit seiner wunderbaren Fantasie. Und Falstaff ist eine Figur, die man zu Beginn höchst unsympathisch findet, doch zum Schluss beinahe ins Herz schließt.“
„Ja, ja“, murmelte Dr. Niebergall widerwillig, „aber mein Vorfahr Elias ist kein Shakespeare.“
„Recht hast du. Der Ernst Elias Niebergall ist kein Shakespeare, aber ein Dichter eigener Art. Er hat den Leuten klargemacht, dass sie reden dürfen, wie man nicht reden soll. Tun sie’s, kommen sie ins Paradies.“
„Also jetzt übertreibst du maßlos“, entgegnete der Psychiater und hob seine Knollennase, „für mich ist mein Vorfahr lediglich ein Mundartdichter.“
„Ja, aber was hat er aus der Mundart herausgekitzelt“, erklärte Hillberger und fuhr in reinstem Darmstädter Dialekt fort: „Soviel mir bekannt is, Herr Niebergall, genieße Sie in de hiesiche Stadt und de umliegende Ortschafte net des best Renomeeh, sondern erfreie sich eines iwwele Rufs.“
Der Angesprochene senkte leicht den Kopf: „Ich ahnte es schon immer, dass du von meiner Tätigkeit und meinem Beruf nicht viel hältst.“
„Falsch, Ernst. Das war ein Zitat aus dem Stück deines Vorfahren, ich habe nur den Namen Datterich gegen deinen ausgetauscht. Der Herr Datterich erfreut sich eines üblen Rufs …“
„Das galt für seinen Autor wohl ebenfalls“, warf Dr. Niebergall ein.
„Ernst, hast du denn gar kein Sprachgefühl? Ist es nicht köstlich, dass sich jemand eines üblen Rufs erfreuen darf?“
Der Nachfahr des Darmstädter Autors schien nicht überzeugt, er sah betrübt auf seinen leeren Kuchenteller, als habe der ihn in dieses Gespräch reingeritten.
„Im Datterich, dem Stück“, fuhr Hillberger fort, „wird auch eine Schmeißfliege zum Schutzengel. Wunderbar, so ein Einfall.“
Dr. Niebergall kratzte von seinem Kuchenteller die letzten Krümel auf, offenbar konnte ihn auch dieser Einfall seines Urahns nicht beeindrucken.
Wolfgang Hillberger warf ihm einen bedauernden Blick zu: „Na, ich sehe, du bist und bleibst ein Psychiater, der allenfalls den Ernst, doch nicht den Witz in der Kunst erkennt.“
„Hältst du mich für beschränkt?“, fuhr Niebergall jetzt auf.
„Dich doch nicht. Aber viele deiner Kollegen sind es mit Sicherheit.“
Einen langen Moment herrschte Schweigen zwischen den beiden so ungleichen Männern, bis Hillberger schließlich sagte: „Weißt du, was man aus dem Datterich-Stück auch lernen kann?“
Dr. Niebergall murrte: „Na was?“
„Dass man sich nicht durch Misserfolge entmutigen lassen darf, dass man seiner Fantasie vertrauen soll und dass man anderen Leuten auf witzige Weise die Meinung sagen kann.“
„Das mach ich doch!“, erwiderte Niebergall, „ich sag’ den Leuten die Meinung, ganz ungeschminkt. Diesen Spyridakis habe ich sogar, wie ich dir schon erzählte, rausgeworfen.“
„Hast du es auch gewitzt getan?“, wollte Hillberger schmunzelnd wissen.
Die Antwort blieb aus, denn in dem Moment öffnete sich die Tür im Café Schwab und Julia Wunder kam herein. Wolfgang Hillberger sah sie sofort und winkte sie heran.
„Julchen, was machst du denn hier?“
„Ich weiß doch, wo ich dich antreffe, wenn du nicht daheim bist. Darf ich mich setzen?“
„Aber natürlich“, sagte ihr Vater. „Ich möchte dir Doktor Niebergall vorstellen, meinen neuen Kaffeebruder.“
Der Psychiater stand förmlich auf, um Julia die Hand zu reichen: „Niebergall. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“
„Ich kenne Sie bereits, wenn auch nur vom Namen her“, erwiderte Julia, legte ihren Mantel ab und hängte ihn an die Garderobe, die nur zwei Schritte entfernt war. Als sie zum Tisch zurückkam, erklärte sie: „Ich bin Julia Wunder, die Tochter von Herrn Hillberger.“
„Hauptkommissarin Wunder“, präzisierte Hillberger nicht ohne Stolz in Richtung seines Kaffeebruders.
Dr. Niebergall hatte wieder Platz genommen und fragte: „Dann haben Sie mir Ihren Kollegen geschickt, diesen Spyridakis?
„Ja, mein Vater hat Sie empfohlen.“ Julia räusperte sich: „Er hält große Stücke auf Sie.“
Wolfgang Hillberger nickte Ernst Niebergall von der Seite aus zu, als wolle er ihm bedeuten, dass seine Kritik an ihm zu relativieren sei. Große Stücke hielt er auf ihn, große Stücke waren schließlich keine Kleinigkeiten. Doch leider bemerkte der Psychiater seinen anerkennenden Blick nicht.
Die Kellnerin kam, und Julia bestellte lediglich einen Kaffee.
„Kein Kuchen?“, fragte ihr Vater, „du bist schließlich nicht nur unter Kaffee-, sondern auch unter Kuchenbrüdern.“
„Mir ist nicht danach. Außerdem wäre ich eine Schwester, eine Kuchenschwester, und die verschmähen meist Kuchen“, erwiderte Julia lächelnd.
Dr. Niebergall nickte anerkennend, der kleine Dialog schien ihm zu gefallen, was Hillberger nicht entging.
„Siehst du, lieber Ernst, meine Tochter und ich, wir sind theatererfahren und sprachbewusst, ich möchte sogar sagen Datterich-bewusst.“
„Datterich?“, wiederholte Julia fragend und wandte sich zu Niebergall: „Sind Sie ein Nachfahr des Darmstädter Autors?“
Hillberger nahm dem Psychiater die Antwort ab: „Ja, ja, das ist er, aber er gibt’s ungern zu.“
„Warum denn das?“, wollte Julia wissen.