Kitabı oku: «Ringelpietz mit Abmurksen»
»Du kannst den Menschen aus dem Ruhrpott holen, aber niemals
den Ruhrpott aus dem Menschen«, sagt Lotte Minck, und sie
muss es ja wissen: 1960 im Schatten der Zeche General Blumenthal
in Recklinghausen geboren, war sie viele Jahre in Bochums
Veranstaltungs- und Medienbranche tätig. Nach 50 Jahren im
turbulenten Ruhrgebiet entschied sie sich fürs andere Extrem:
Heute lebt sie an der friesischen Nordseeküste, wo sieben Autos an
einer Ampel bereits als Stau gelten. Ihre Heldin Loretta Luchs
und alle Personen in Lorettas Universum sind eine liebevolle
Huldigung an Lotte Mincks alte Heimat.
Besuchen Sie Lotte Minck im Internet:
www.lovelybooks.de/autor/Lotte-Minck/ www.roman-manufaktur.de www.lotteminck.de
Ruhrpott-Krimödien mit Loretta Luchs bei Droste:
Radieschen von unten
Einer gibt den Löffel ab
An der Mordseeküste
Wenn der Postmann nicht mal klingelt
Tote Hippe an der Strippe
Cool im Pool
Die Jutta saugt nicht mehr
Voll von der Rolle
Mausetot im Mausoleum
3 Zimmer, Küche, Mord
Darf’s ein bisschen Mord sein?
Ruhrpott-Krimödien mit Stella Albrecht bei Droste:
Planetenpolka
Venuswalzer
Sonne, Mord und Sterne
Lotte Minck
Ringelpietz
mit Abmurksen
Eine Ruhrpott-Krimödie mit Loretta Luchs
Droste Verlag
Figuren und Handlung dieses Romans sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und
nicht beabsichtigt.
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
2020 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf
Umschlaggestaltung: Droste Verlag unter Verwendung
einer Illustration von Ommo Wille, Berlin
eISBN 978-3-7700-4178-7
E-Book-Konvertierung: Bookwire Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH
Inhalt
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Epilog
Die Liebe in Zeiten des Internets
Prolog
»Und? Was machst du so?«, fragte der Mann, der mir gegenübersaß.
Ich seufzte innerlich.
Ich sitze hier und langweile mich so sehr, dass ich mir am liebsten die Haare anzünden würde, nur damit etwas passiert, hätte ich am liebsten geantwortet, aber ich verkniff es mir, schließlich bin ich ein höflicher Mensch.
Außerdem: Er war hier, wie die anderen auch, um endlich die Liebe zu finden.
Und ich war hier, weil mir meine lieben Freunde Bärbel und Frank einen Gutschein für dieses Speed-Dating geschenkt hatten. Um genau zu sein: Es waren Gutscheine für drei Speed-Datings gewesen, und ich büßte gerade das zweite davon ab.
Sie hatten mir damit eine Freude machen wollen, und dafür liebte ich sie. Sie hatten sich dafür bedanken wollen, dass sie dank meiner Vermittlung nun stolze Betreiber eines kleinen, aber sehr lebendigen Lebensmittellädchens in meinem Viertel waren.
»Unser Leben hat sich um tausend Pimpillionen Prozente verbessert«, pflegte Frank zu sagen, »und dat nur wegen Loretta.«
Sie hatten lange überlegt, wie sie sich bedanken könnten, hatte Bärbel mir verraten, als sie mir den Umschlag mit den Speed-Dating-Gutscheinen übergeben hatten.
Ich hatte nicht gewusst, ob ich lachen oder weinen sollte.
Wirke ich wirklich derart bedürftig?, hatte ich mich spontan gefragt.
Gut, ich war seit einiger Zeit Single, und die glücklichen Paare um mich herum schienen zu glauben, dass dies kein Zustand war, mit dem man zufrieden sein konnte. Das galt nicht nur für Frank und Bärbel, sondern auch für Doris und Erwin sowie für Diana und Okko, die sich allesamt Sorgen um mein Seelenheil machten, wie ich aus Anlass der Gutschein-Übergabe erfuhr. Man hatte konspirativ beratschlagt und war zu dem Schluss gekommen, dass es an der Zeit war, mich auf die Piste zu schicken.
Bei dem Gedanken an die zahlreichen Telefonkonferenzen, bei denen es um mein nicht vorhandenes Liebes- beziehungsweise Sexleben gegangen war, wurde mir ganz anders.
Und jetzt saß ich Marc gegenüber, der bestimmt Muttis Liebling war, wie ich messerscharf aus dem eindeutig selbst gestrickten Pullover schloss, der seinen Oberkörper eine Spur zu knapp umspannte. Mit monoton dahinplätschernder Stimme hatte er mir Auskunft über sich gegeben – Bauarbeiter, siebenundvierzig Jahre –, und seine rot glänzende Halbglatze spiegelte seine Aufregung deutlich wider. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Es war nicht sein Äußeres, das diese spontane Abneigung, gepaart mit bleierner Müdigkeit, in mir ausgelöst hatte. Nein, es war seine Stimme. Vor meinem geistigen Auge erschien das Bild, wie er in unserer gemeinsamen Wohnung am Tisch saß und vor sich hin leierte, während ich hinter ihm stand und die hoch über meinen Kopf erhobene Bratpfanne mit Schmackes auf seinen Haarkranz niedersausen ließ. Endlich Ruhe. Hihihi, dann würde Kommissarin Küpper mich verhören und könnte mich endlich in den Knast befördern, was sie sich vermutlich schon etliche Male heimlich gewünscht hatte. Es sei denn, ich käme mit Notwehr durch.
Moment mal. Was hatte er mich gefragt? Genau. Der Gedanke an Notwehr hatte mich erheitert, stellte ich fest.
»Ich arbeite in einem Callcenter«, sagte ich, »für eine Online-Bank.«
»Wow. Das hätte ich nicht gedacht. Du siehst nicht so aus, als hättest du einen seri…« Er brach ab und stierte mich erschrocken an.
»Als hätte ich einen seriösen Job?«, soufflierte ich mit einem Lächeln. »Online-Bank. Alles passiert am Telefon. Ich muss nicht im schicken Kostümchen am Schalter stehen. Außerdem bin ich in der Administration tätig. Ich sitze also nicht an der Hotline und habe keinen Kundenkontakt. Ein ganz normaler, langweiliger Job in der Verwaltung.«
»In meiner Freizeit gehe ich angeln«, sagte er. »Und du? Hast du ein Hobby?«
»Fotografieren«, erwiderte ich.
Sein Gesicht hellte sich auf. »Das passt doch super. Dann kannst du die Fische knipsen, die ich geangelt habe. Weißt du, am liebsten gehe ich auf Karpfen. Und es gibt so eine Website, auf der man seinen Fang posten kann. Das stelle ich mir nett vor, mit dir zusammen loszuziehen und …«
Ein Gutes hatte diese Vorstellung: Er würde beim Angeln nicht reden. Aber alles andere an seiner Fantasie erfüllte mich mit geradezu lähmendem Entsetzen. Im Morgengrauen losziehen, dann stundenlang in der Pampa an irgendeinem Tümpel hocken und darauf warten, dass so ein bedauernswerter Fisch, der bis dahin ein schönes Leben geführt hatte, luftschnappend aus dem Wasser gezerrt wurde, nur um seinen sinnlosen Tod auf einer Website für angelnde Angeber zu dokumentieren? Nur über meine Leiche. Und selbst dann noch nicht.
Ein Glöckchen ertönte, und ich atmete innerlich auf. Denn dieses silberhelle Bimmeln bedeutete, dass Marcs und meine gemeinsame Zeit vorüber war.
»Oh, schon vorbei?« Marc war sichtlich enttäuscht. »Das waren doch nie und nimmer sieben Minuten!«
Doch, mein Lieber, das waren sogar sieben Ewigkeiten, dachte ich, setzte ein bedauerndes Lächeln auf und zuckte mit den Schultern.
Zögernd erhob er sich und trottete zum nächsten Tisch, während sich auf dem nun leeren Stuhl bereits der nächste Kandidat niederließ.
»Hi, ich bin der Jimmy.«
Ein Hauch von Sandelholz wehte mich an.
Auch er bestach optisch durch Gestricktes, allerdings hatte er das ausgeleierte Teil vermutlich selbst geklöppelt, an langen Abenden bei Räucherstäbchen, Fencheltee und indischer Sitarmusik.
Auf seine Frage hin tischte ich auch ihm die Lüge auf, ich sei bei einer Online-Bank angestellt, wie ich es Fremden stets erzählte. Dass ich bei einer Sexhotline arbeitete, wusste nur mein enges Umfeld, und das reichte auch vollkommen.
»Bei einer Baaaaaaank?«, fragte er skeptisch und verzog das Gesicht. »Dann hast du ja voll den kommerziellen Job. Das ist ja noch schlimmer als Sabine – die arbeitet als Bulle, das muss man sich mal vorstellen. Wie kann man für einen solchen Fascho-Verein knechten? Freiwillig? Unfassbar. Mit so einer Frau könnte ich niemals … also, dazu bin ich ein viel zu sensibler Mensch. Ich bin nämlich Künstler.«
Das erklärte seine Miene, denn mein Beruf war aus seiner Sicht offenbar ziemlich uncool. Aber immerhin war ich keine Faschistin.
Was für ein Schwachkopf.
»Künstler? Tatsächlich?« Ich bemühte mich, Interesse zu heucheln.
Jimmy nickte. »Ja, ich bin Lebenskünstler.« Er grinste stolz. »Ich bin Musiker, und bürgerliche Normen finde ich spießig. Das ist nicht so mein Ding.«
Höflich bleiben, Loretta, höflich bleiben … »Du verdienst deinen Lebensunterhalt als Musiker?«
»Mal mehr, mal weniger. Ich wohne zurzeit in der Schrebergartenlaube eines Kumpels, ganz im Einklang mit der Natur. Ich brauche nicht viel, du verstehst?«
Oh ja, ich verstand. Ich ahnte, was er spießig fand: regelmäßig frühmorgens aufstehen und arbeiten gehen, Steuern und Miete zahlen … diese langweiligen, bürgerlichen Dinge halt. Ich konnte ihm nur wünschen, dass er hier eine gleichgesinnte Lebenskünstlerin traf. Dann konnten sie zusammen in der Laube hocken und von dem leben, was sie im Wald an Beeren und Wurzeln fanden. Oder Bienen den Honig klauen.
»Ich finde es übrigens sehr unangenehm, dass du dich mir gegenüber so abfällig über Sabine geäußert hast«, sagte ich, »das gehört sich nicht.«
»Du bist ja noch spießiger, als ich dachte. Ich darf ja wohl meine Meinung sagen.«
»Das finde ich faschistisch, Jimmy: dass du in deinem Hochmut glaubst, das Recht zu haben, andere mit Dreck zu bewerfen. Sag deine Meinung, wem du willst, aber verschone mich mit deinen biederen und gestrigen Parolen über vermeintliche Spießer und angeblich faschistoide Polizisten.«
»Dich würde ich nicht mal mit der Kneifzange anfassen«, zischte er.
Ich hob die Brauen und grinste. »Ist das ein Versprechen?« Als in diesem Moment das Glöckchen erklang, fügte ich hinzu: »Und jetzt verpiss dich, du Heiopei.«
Ha, das tat gut.
Geh mit Gott, aber geh, dachte ich, und verschwinde rückstandslos aus meinem Leben.
Ich lernte noch den ruhigen Gärtner Kai kennen und traf den sympathischen Rocker Hajo wieder, den ich bereits von letzter Woche kannte. Außerdem waren da noch die Spaßkanone Didi und der sehr gepflegte Dönerbudenbesitzer Cem. Zuletzt saß ich noch einem alten Bekannten gegenüber: Mike, dem ich ebenfalls bereits bei meinem ersten Speed-Dating begegnet war.
»Ich habe mich sehr auf dich gefreut. Was muss ich tun, damit du dich für mich interessierst?«, schmalzte er mich sofort an und blickte mir tief in die Augen.
Eigentlich unnötig, denn wir hatten ja schon bei der ersten Begegnung festgestellt, dass wir uns sympathisch waren.
Aber ich spielte gerne mit und zuckte grinsend mit den Schultern. »Versuchs mit einem Brilli, der die Größe einer Eierkohle hat.«
Er lachte so schallend, als hätte ich den Gag des Jahrtausends gerissen. »Dein Humor ist unwiderstehlich«, schnaufte er, als er sich wieder eingekriegt hatte. Dann wurde er ernst. »Wie sieht es aus: Bekomme ich deine Mail-Adresse?«
»Könnte sein.«
»Das hört sich doch gut an.« Er räusperte sich und deutete auf mein halb volles Glas. »Sag mal, trinkst du das noch? Mein Mund brennt wie Feuer, die ganze Zeit schon.«
Ich hielt ihm mein Glas hin, und er schüttete sich den Inhalt mit einem Schluck in den Rachen.
»Puh, schon besser. Echt erstaunlich, wie viele Gemeinsamkeiten wir haben«, gurrte er dann und sah mir tief in die Augen. »Darüber habe ich während der letzten Woche oft nachgedacht.«
Damit hatte er allerdings recht – verblüffend viele Gemeinsamkeiten sogar. Wir schienen das gleiche Essen, die gleiche Musik und den gleichen schwarzen Humor zu schätzen, und dennoch schlug mein Instinkt plötzlich und vollkommen unerwartet Alarm. War der Blick eine Spur zu feurig? Die Stimme eine Spur zu gurrend? Seine Trinkgewohnheiten eine Spur zu gierig? Seinen Begrüßungssekt hatte er ebenfalls in einem großen Schluck runtergekippt, sich über den Geschmack beschwert und sich dennoch umgehend nachschenken lassen. Wieder hatte er das Glas auf ex geleert.
Loretta, der Typ ist nicht koscher, wisperte ein Stimmchen in meinem Kopf, und ich war geneigt, auf diese Warnung zu hören. Er war wirklich sehr charmant und sehr interessiert, aber trotzdem …
Ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen. Die restlichen Minuten plänkelten wir hin und her, bis Denise, die Moderatorin, unter fröhlichem Glöckchenschwenken das Ende der heutigen Dates einläutete.
»Oha, die Totenglocke durchtrennt gnadenlos unsere Schicksalsfäden«, raunte Mike mir mit einem neckischen Zwinkern zu, und ich rang mir ein Lächeln ab.
»Wir machen jetzt eine kurze Verschnaufpause«, zwitscherte Denise. »Ihr könnt euch vorne einen Kaffee holen oder ein Kippchen rauchen. Danach erkläre ich euch, wie es weitergeht. In zehn Minuten sehen wir uns wieder.«
»Meine Beine fühlen sich an, als wären sie eingeschlafen. Ich sollte mich mal ein bisschen bewegen. Ich muss sowieso mal kurz für kleine Königstiger«, sagte Mike, womit er mir eindeutig zu viel Information geliefert hatte. Er stand auf, taumelte ein wenig und musste sich am Tisch festhalten. »Hui … mir ist schwindelig. Du verwirrst meine Sinne.«
Sauf halt weniger, dachte ich gallig.
Wir verließen den Raum, und die Gruppe zerstreute sich. Mir war nach einem Espresso, aber ich hatte nicht vor, später zu den anderen zurückzukehren.
Ich ging hinaus auf die kleine und sehr idyllische Terrasse des Cafés und entdeckte einen Tisch, der von üppigen Büschen umgeben und von der Tür zum Innenbereich aus nicht zu sehen war. Rocker Hajo und Lebenskünstler Jimmy standen in einer Ecke, pafften hastig ihre Glimmstängel und waren in ein angeregtes Gespräch vertieft. Ob sie sich wohl über die Auswahl der Damen austauschten? Innerlich zuckte ich mit den Schultern. Konnte mir wurscht sein.
Um diese Zeit – es war beinahe sechs Uhr – waren nur noch wenige Gäste hier. Die Kaffeezeit war vorüber, und das Servicepersonal begann bereits damit, die frühlingshafte Dekoration von den Tischen zu räumen. Ich bestellte einen Espresso und ein kleines Glas Wasser, was mir blitzartig serviert wurde.
Ich lehnte mich zurück, blinzelte in die Sonne und hoffte, dass Mike nicht auf die Idee kam, hier nach mir zu suchen. Irgendwas an ihm hatte mich heute abgetörnt, nachdem ich mich doch zunächst auf unser Treffen gefreut hatte. Merkwürdig. Aber mein Bauchgefühl ließ mich von meinem ursprünglichen Plan, unsere Bekanntschaft zu vertiefen, Abstand nehmen.
Ich griff zum Tässchen und hob es an die Lippen, als ein gellender Entsetzensschrei mich zusammenfahren ließ. Brühheißer Espresso ergoss sich über mein Knie, was höllisch schmerzte. Geistesgegenwärtig sorgte ich mit dem Wasser aus dem Glas für umgehende Abkühlung, während eine Frau kreischte: »Zu Hilfe! Wir brauchen einen Arzt, schnell!«
War etwa jemand ausgerutscht und gestürzt? Ich sprang auf und rannte hinein.
Unablässig kreischte die Frau weiter, und mit mir stürmten etliche Leute in den Gang, der zu den Toiletten führte. Im Vorraum des Sanitärbereichs lag ein Mann auf den Fliesen, der halb von der schreienden Frau verdeckt wurde, die neben ihm kniete. Ich erkannte sie sofort an ihren fusseligen Haaren. Es war Mareile, die sich jetzt zu uns umdrehte und stammelte: »Er ist tot! Mike ist tot! Gerade lebte er noch, und jetzt ist er tot!«
Rasch trat ich zu ihr und streckte die Hände aus, um ihr hochzuhelfen. Taumelnd kam sie auf die Füße und lehnte sich schwer an mich. Ich blickte auf die liegende Gestalt hinunter, deren Haltung sehr steif wirkte. Die Augen waren weit aufgerissen und starrten blicklos zur Decke.
Mir fiel ein, dass er über ein starkes Brennen im Mundraum geklagt und sich über den miesen Geschmack des Begrüßungssekts beschwert hatte. Und jetzt war er mausetot.
Das war kein stinknormaler plötzlicher Herztod, nie im Leben.
Ich tätschelte Mareile die bebende Schulter und richtete mich auf einen langen Abend ein.
Kapitel 1
Wie alles begann: Eine nette Grillparty bei Freunden und die Suche nach einem angemessenen Geschenk
Alles begann mit diesem feuchtfröhlichen Samstagabend bei Bärbel und Frank. Angrillen war angesagt, und gleichzeitig war es die erste offizielle Gartenparty im neuen Domizil.
Vor einem knappen halben Jahr hatten Frank und Bärbel den kleinen Lebensmittelladen von Gitti Scheffer übernommen und waren in die Wohnung über dem Geschäft gezogen. Seither hatte sich eine Menge getan. Um den – mit drei Kindern – viel zu knappen Wohnraum zu vergrößern, war hinter dem Haus ein großzügiger Anbau für Küche, Wohnzimmer und Essbereich entstanden.
Während Profis den Anbau hochgezogen hatten, hatte Frank bei der Terrasse, die wir nun einweihten, auf Eigenleistung – und die seiner Freunde, natürlich – gesetzt. Mein Anteil hatte darin bestanden, dass ich samstags zusammen mit Bärbel den Laden schmiss, damit Frank und Erwin die jeweiligen Großeinkäufe im Baumarkt erledigen konnten. Meine Beteiligung an den Bauarbeiten beschränkte sich auf klugscheißerische Kommentare, das Suchen von abhandengekommenem Werkzeug und das Halten von Balken, während die Männer daran herumnagelten oder wahlweise -schraubten. So war innerhalb von vier Wochenenden eine durchaus beeindruckende, teilüberdachte Terrasse mit einem Grillplatz entstanden.
Für die kleine Party waren die üblichen Verdächtigen zusammengekommen. Die fröhliche Truppe bestand aus Bärbel und Frank, Doris und Erwin sowie Diana und mir. Diana, meine beste Freundin und ehemalige Mitbewohnerin, war extra von der Nordseeküste angereist, um dabei zu sein. Ihr Gatte Okko war leider unabkömmlich gewesen, und auch Gitti fehlte zu unserem Bedauern, aber sie war wieder einmal mit ihrer späten, aber dafür umso größeren Liebe Alfie auf Reisen. Dennis, Doris’ und mein Chef im Callcenter, wollte später auch noch vorbeikommen.
Natürlich standen Frank und Erwin am Grill, während die Damen um den großen Tisch saßen und bereits beträchtliche Mengen von Doris’ Bowle süppelten, die sie mit Waldmeister aus dem eigenen Garten angesetzt hatte. Über die sonstigen Zutaten ließ sie sich nur vage aus, aber dass hochprozentiger Alkohol eine nicht unwesentliche Rolle dabei spielte, stand außer Zweifel.
»Ach, ist das schön mit euch!« Diana streckte sich wohlig und seufzte. »Fast wie in alten Zeiten. So glücklich ich mit Okko auch bin – das hier vermisse ich schon manchmal, um ehrlich zu sein.«
»Ich freu mich total, dass du gekommen bist«, sagte Bärbel strahlend.
Diana lachte. »Als ob ich mir diese kleine, charmante Völlerei entgehen ließe. Außerdem wollte ich unbedingt euer neues Heim sehen. Ach, was sage ich – euer neues Leben! Bisher kannte ich ja alles nur aus Lorettas Erzählungen.«
Natürlich hatte ich sie haarklein über alles informiert, zumal es recht dramatische Ereignisse rund um Gitti und ihren Laden gewesen waren, die zu besagtem neuem Leben geführt hatten: Einmal mehr hatte es einen mysteriösen Todesfall gegeben, bei dem Erwin, Frank und ich tätig geworden waren.
Doris warf einen Blick hinüber zu den beiden Männern am Grill und fragte Bärbel mit gedämpfter Stimme: »Vermisst Frank eigentlich den Kiosk? Er hat sein Büdchen doch so geliebt.«
»Kein Stück.« Bärbel winkte ab. »Jetzt ist er endgültig in seinem Element. Die Kundschaft liegt ihm zu Füßen, besonders die älteren Damen. Außerdem sind die Arbeitszeiten deutlich familienfreundlicher. Und dass ich meinen blöden Job aufgeben konnte, um ihn im Laden zu unterstützen«, sie schnalzte mit der Zunge, »das ist die Kirsche auf dem Sahnehäubchen. Alles hat sich für uns verbessert, stimmt’s, Frank? Absolut jeder Bereich unseres Lebens.«
»Um tausend Pimpillionen Prozent!«, rief Frank und deutete mit der Grillzange auf mich. »Und dat allet nur wegen die Loretta.«
Nun, das sagte er nicht zum ersten Mal. Nein, ich hörte es zum mindestens tausend pimpillionsten Mal, um genau zu sein. So ganz allmählich …
»Jetzt lass mal langsam gut sein«, sagte ich also. »Alles hat sich einfach perfekt gefügt: Gitti weiß ihr Geschäft in liebevollen Händen und kann endlich guten Gewissens ihren wohlverdienten Ruhestand genießen. Ich habe euch nur zusammengebracht, weil ich dachte, es könnte passen. Ende der Geschichte.«
»Und dafür gibt’s auch noch ein dicket, fettet Dankeschön!«, rief Frank. »Meine Süße und ich wissen bloß noch nich, wat.«
»Ich will nichts von euch, hört ihr?«, entgegnete ich. »So weit kommt das noch.«
»Dat wirste ma schön uns überlassen, hömma, da fällt uns bestimmt noch wat …«
»Aber das vertagen wir auf später, okay?«, fiel Erwin ihm rigoros ins Wort. »Das Grillgut ist nämlich beinahe servierfertig, meine Damen.«
»Unser Stichwort, meine Liebe.« Bärbel nickte Doris zu, und sie standen auf, um die beiden Salate zu holen, die im Kühlschrank warteten.
Diana blickte ihnen lächelnd nach und sah mich dann an. »Und wie üblich stellst du dein Licht unter den Scheffel. Irgendwie schaffst du es immer wieder, anderen zu helfen. Aber was ist mit dir?«
Ich verstand kein Wort. »Mit mir? Was soll mit mir sein?«
»Bist du glücklich?«
Ups – das traf mich vollkommen unvorbereitet. »Glücklich? Äh … na klar. Glaube ich wenigstens. Ich bin jedenfalls nicht unglücklich.«
Diana grinste spöttisch. »Na, das ist doch immerhin was. Okay, du hast einen guten Job und eine schöne Wohnung, tolle Freunde und einen charmanten, vierpfotigen Mitbewohner. Das ist mehr, als viele Menschen haben, zugegeben. Aber du bist Single.«
»Na und? Ich brauche keinen Mann, um glücklich zu sein. Das wäre ja noch schöner.«
»Aber mit einem Partner an der Seite ist es so viel netter. Und wenn ich das schon sage …« Sie spielte gedankenverloren an ihrem Ehering und grinste mich an. »Ich muss dich wohl nicht daran erinnern, dass ich mal eine fast schon militante Verfechterin weiblicher Unabhängigkeit war. Aber als ich Okko traf, wusste ich: Er ist derjenige, auf den ich immer gewartet habe – ohne dass ich es überhaupt wusste.«
Ich verdrehte die Augen. »Jetzt werd mal nicht kitschig.«
»Pfff, nur kein Neid, meine Liebe. Sei ehrlich: Fühlst du dich denn niemals einsam?«
Ehe sie mich zu einer Antwort nötigen konnte, erschien Erwin und wuchtete eine große Servierplatte mit Steaks und Würstchen auf den Tisch. Bärbel und Doris brachten Kartoffel- und Nudelsalat – und ich war heilfroh, dass ich fürs Erste nicht weiter über mein Leben als vermeintlich unglücklicher Single Auskunft geben musste.
Außerdem tauchte genau in diesem Moment Dennis auf und lenkte Diana zusätzlich von mir ab. Wie bei jeder Begegnung mit ihr versuchte er auch diesmal, sie zur Rückkehr zu seiner Sexhotline zu bewegen, da er – wie er wortreich versicherte – nie wieder eine so gute Domina-Darstellerin wie sie finden würde. Nachdem er sich die traditionelle Abfuhr eingehandelt hatte, wandte er sich Frank zu, um ihm den mit dem Laden übernommenen Kombi abzuschwatzen, einen ehemaligen Leichenwagen aus den Siebzigern. Auch das hatte er schon mehrfach probiert, und seine Argumente waren in der Zwischenzeit nicht überzeugender geworden.
»Du musst mir den Wagen verkaufen«, sagte er beschwörend und fuchtelte mit seiner Gabel vor Franks Gesicht herum. »Ich zahle dir einen guten Preis, und du kannst dir einen supermodernen neuen Kombi anschaffen. Einen mit allen Schikanen.«
»Brauchinisch«, erwiderte Frank mit vollem Mund.
Dennis seufzte theatralisch. »Überleg doch mal, wie authentisch ich in dem Auto aussehen würde. Sieh mich an – es ist wie für mich maßgeschneidert!«
»Kaum vorstellbar, dass Bestatter in den Siebzigern in solchen Klamotten rumgelaufen sind«, warf ich grinsend ein. »Sooo psychedelisch war dieses Jahrzehnt nun auch wieder nicht, Dennis.«
»Damit dürfte Loretta recht haben«, sagte Doris.
Natürlich hatte ich recht: Dennis’ grasgrünes Hemd war an der Brust großzügig mit Rüschen besetzt, und die Kombination mit seiner veilchenblauen Schlaghose war nur sehr schwer auszuhalten.
»Psychedelisch?« Dennis sah mich erstaunt an. »Ich bin heute geradezu konservativ angezogen, das musst du zugeben.«
Ja, das war wieder ein schöner Beweis für die Relativitätstheorie: Im Gegensatz zu manch anderen Tagen war er tatsächlich relativ konservativ gekleidet. Schließlich sah ich ihn beinahe jeden Tag und hatte einen ziemlich genauen Überblick über seinen Kleiderschrank – und ich hatte schon ganz andere Kombinationen an ihm gesehen. Outfits, mit denen er auf jeder Karnevalsparty den Preis fürs beste Kostüm abstauben würde. Nur, dass es für ihn Alltagskleidung war.
»Dennis, du siehst klasse aus«, sagte Diana. »Du bringst Farbe in unseren tristen Alltag, und allein dafür hast du einen Orden verdient.«
Ich fing Dennis’ triumphierenden Blick auf und grinste innerlich, denn insgeheim bewunderte ich sein Selbstbewusstsein. Vielleicht würde ich es ihm irgendwann einmal sagen. Aber nicht heute.
Wie auch immer – wir schlemmten und tranken und lachten und schwatzten, und es war ein wunderbarer Abend.
Es war bereits nach Mitternacht, als Diana und ich nach fünf Minuten Fußweg bei mir ankamen.
»Ich bin noch nicht müde«, sagte Diana mit leichtem Nuscheln und bückte sich wenig graziös, um Baghira zu streicheln, der maunzend um ihre Beine strich und sie damit aus dem Gleichgewicht brachte. »Hoppla«, konstatierte sie kichernd und stützte sich an der Wand ab. »Wie viele Gläser Bowle haben wir wohl getrunken?«
»Viel zu viele«, entgegnete ich, nicht weniger nuschelnd als sie. Dann kramte ich das kleine Fresspaket für Baghira aus meiner Umhängetasche, ein paar Fitzelchen Fleisch, die ihm nicht schaden würden. Allein das Rascheln der Alufolie weckte die ungeteilte Aufmerksamkeit des Katers, und er trippelte im Zickzack und mit hoch aufgerecktem Schwanz vor mir her zu seinem Napf. Laut schmatzend genoss er die Fleischbröckchen, während ich die Folie zu einem Ball zusammenknüllte, den er später durch die Wohnung dribbeln würde.
»Was zum Naschen und was zum Spielen«, murmelte ich und ließ die silberne Kugel auf den Boden fallen.
»Toll«, sagte Diana hinter mir, »jetzt führt sie sogar schon Selbstgespräche. Oder war diese Information für mich bestimmt?«
»Wie bitte? Du spinnst ja wohl. Ich führe doch keine Selbstgespräche!«
Theatralisch rang Diana die Hände. »Noch schlimmer! Sie merkt es nicht einmal mehr!«
»Könntest du es freundlicherweise unterlassen, über mich zu sprechen, als wäre ich nicht anwesend?«, fragte ich empört. »Und nicht so tun, als hätte ich sie nicht mehr alle?«
»Ach komm, sei nicht eingeschnappt, ich hab nur Spaß gemacht. Schließlich rede ich ja auch manchmal mit mir selbst. Und mit Heini.«
Heini war der entzückende Foxterrier ihres Gatten Okko.
»Wie wäre es noch mit einem kleinen Absacker?« Sie öffnete die Kühlschranktür, spähte stirnrunzelnd hinein und murmelte: »Hm … zwei Flaschen Bier, eine angebrochene und eine volle Pulle Weißwein, irgendein obskurer Schaumwein … zu obskur für meinen Geschmack.« Sie nahm den halb vollen Wein heraus und knallte die Tür zu. Dann schwenkte sie die Flasche auffordernd vor meinem Gesicht.
Ich seufzte ergeben und holte zwei Gläser aus dem Schrank, die sie bis zum Rand füllte.
Wir setzten uns an den Esstisch, stießen an und verplemperten prompt einiges an Wein auf den Tisch. Ich holte einen Lappen und wischte die Bescherung weg, dann setzte ich mich wieder.
»Du bist mir übrigens noch immer eine Antwort schuldig«, sagte Diana.
Argh. Ich wusste sofort, was sie meinte, allerdings hatte ich insgeheim gehofft, dass dieses Thema erledigt war. »Keine Ahnung, wovon du redest.«
»Dann werde ich deinem Gedächtnis mal auf die Sprünge helfen. Meine Frage war, ob du dich nicht manchmal einsam fühlst.« Sie trank einen Schluck und fügte hinzu: »Mir ist klar, dass du es den anderen gegenüber niemals zugeben würdest, damit sie sich keine Sorgen machen. Aber wir zwei Hübschen sind ganz unter uns. Du kannst ehrlich sein; ich werde es niemandem verraten.«
Ha. Das war selbstverständlich eine dicke, fette Lüge, wie sich später herausstellen würde. Aber ich will ihr zugestehen, dass sie es zu diesem Zeitpunkt absolut ehrlich meinte.
»Natürlich gibt es Momente, in denen ich mich allein fühle«, sagte ich nach kurzem Zögern, »aber ich bin nun mal kein Beziehungstyp.« Ich trank einen großen Schluck Wein und war sehr zufrieden mit meiner Antwort. Aber nur kurz.
»Vortrefflich gedroschen, diese hohle Phrase«, erwiderte Diana mit spöttischem Grinsen. »Kein Beziehungstyp zu sein ist nichts weiter als ein urbaner Mythos. Das sagen Kerle, die sich als einsame Wölfe inszenieren, um mit dieser Masche möglichst viele Frauen abzuschleppen. Oder Partyprinzessinnen, die sich alle zwei Nächte einen anderen schnappen und direkt wieder in die Wüste schicken, weil sie Angst haben, dass es irgendwo noch einen Besseren gibt. Du bist weder das eine noch das andere.«