Kitabı oku: «Anne & Rilla – Der Weg ins Glück», sayfa 3

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Gertrudes Traum

An einem kalten, grauen Februarmorgen wachte Gertrude Oliver zitternd auf. Sie flüchtete sich hinüber in Rillas Zimmer und kroch zu ihr ins Bett.

„Rilla, ich habe Angst. Ich habe Angst wie ein kleines Kind, weil ich wieder einen meiner merkwürdigen Träume gehabt habe. Etwas Schreckliches steht uns bevor, ich weiß es!“

„Was war das denn für ein Traum?“ fragte Rilla.

„Ich stand wieder auf der Verandatreppe, so wie in dem Traum in der Nacht vor dem Leuchtturmfest. Am Himmel kam eine riesengroße, bedrohliche Gewitterwolke von Osten heran. Kaum sah ich ihren Schatten heranjagen, war ich auch schon von ihr eingehüllt und zitterte vor Kälte. Dann brach der Sturm los – ein entsetzlicher Sturm – blendende Blitze, ohrenbetäubende Donnerschläge, wolkenbruchartiger Regen. In Panik wollte ich losrennen, um Schutz zu suchen, und als ich mich umdrehte, kam ein Mann die Treppe heraufgestürzt und stellte sich neben mich auf die Türschwelle. Es war ein Soldat, der die Uniform eines französischen Offiziers trug. Seine Kleidung war blutdurchtränkt von einer Wunde in der Brust, und er machte einen völlig erschöpften Eindruck; aber sein Blick war gefaßt, und seine Augen in dem eingefallenen, blassen Gesicht glühten. ‚Sie werden nicht durchkommen.‘ sagte er mit leiser, leidenschaftlicher Stimme, die ich im Tumult des Sturms kaum vernahm. Dann wachte ich auf. Rilla, ich habe Angst. Ich habe Angst, daß der Frühling doch nicht den großen Vorstoß bringt, auf den wir alle gehofft haben. Statt dessen wird er Frankreich einen schrecklichen Schlag bescheren. Dessen bin ich mir ganz sicher. Die Deutschen werden irgendwo durchzubrechen versuchen.“

„Ich denke, er hat gesagt, sie werden nicht durchkommen“, sagte Rilla ernst. Sie lachte nie über Gertrudes Träume, so wie ihr Vater es gern tat.

„Ich weiß nicht, ob das eine Prophezeiung war oder ein Ausruf der Hoffnungslosigkeit. Rilla, die Angst sitzt mir jetzt noch eiskalt im Nacken. Wir werden sehr bald unseren ganzen Mut einsetzen müssen.“

Am Frühstückstisch lachte Gilbert noch über Miss Olivers Traum, doch das war das letztemal. Denn an diesem Tag kam die Nachricht vom Beginn des Angriffs auf Verdun, und den ganzen Frühling lang lebten die Ingleside-Bewohner in einem Zustand von Angst und Schrecken. An manchen Tagen machten sie sich völlig entmutigt auf das Ende gefaßt, denn die Deutschen näherten sich langsam, aber sicher den Verteidigungslinien des verzweifelten Frankreich.

Während Susan die Küche von Ingleside auf Hochglanz brachte, war sie in Gedanken auf den Hügeln um Verdun. „Liebe Frau Doktor“, sagte sie, als sie am Abend noch einmal den Kopf zur Tür hereinsteckte, „ich kann nur hoffen, daß die Franzosen den Krähenwald – ‚Crow’s Wood’ – behalten haben.“

Und am nächsten Morgen fragte sie sich, ob wohl der Hügel des Toten Mannes – ‚Dead Man’s Hill’ – noch in ihrer Hand war. Susan hätte eine Landkarte von der Gegend um Verdun anfertigen können, über die ein Generalstabschef nur gestaunt hätte.

„Wenn die Deutschen Verdun erobern, dann ist Frankreich mit seiner Kraft am Ende“, sagte Miss Oliver erbittert.

„Sie werden es nicht erobern“, behauptete Susan, obwohl sie an diesem Tag keinen Bissen herunterbekam vor lauter Angst, sie könnten es doch schaffen. „Erstens haben Sie ja geträumt, daß sie nicht durchkommen – Sie haben genau das geträumt, was die Franzosen gesagt haben: ‚Sie werden nicht durchkommen.‘ Ich versichere Ihnen, liebe Miss Oliver, mir lief es kalt den Rücken herunter, als ich das in der Zeitung las und an Ihren Traum denken mußte. Das erinnert mich an die Bibel, wo die Leute auch oft von solchen Dingen träumten.“

„Ich weiß, ich weiß“, sagte Gertrude, während sie unruhig auf und ab lief. „In meinen Träumen habe ich auch einen ganz festen Glauben, aber jedesmal, wenn schlechte Nachrichten kommen, falle ich wieder davon ab. Dann rede ich mir ein, das wäre alles reiner Zufall oder käme vom Unterbewußtsein oder irgend so etwas.“

„Aber ich verstehe nicht, wie man sich an etwas erinnern kann, bevor es je gesagt worden ist“, sagte Susan. „Natürlich bin ich nicht so gebildet wie Sie und der Doktor. Das ist wohl auch besser so, sonst werden die einfachsten Dinge viel zu kompliziert. Aber auf jeden Fall brauchen wir uns um Verdun keine Sorgen zu machen, selbst wenn die Hunnen durchkommen. Joffre sagt, das hätte keine militärische Bedeutung.“

„Damit sind wir schon oft genug vertröstet worden, und dann war das Gegenteil der Fall“, erwiderte Gertrude. „Darauf falle ich nicht mehr herein.“

„Hat es auf dieser Welt jemals eine solche Schlacht gegeben?“ fragte Mr. Meredith eines Abends im April.

„Das Ganze hat ein Ausmaß erreicht, das wir gar nicht mehr erfassen können“, sagte Gilbert. „Was waren dagegen schon die Raufereien von ein paar homerischen Kriegern? Der ganze Trojanische Krieg hätte sich rings um die Feste von Verdun abspielen können, und ein Zeitungsreporter hätte der Sache nicht mehr als einen Satz gewidmet. Ich glaube zwar nicht an übersinnliche Mächte“, und dabei zwinkerte Gilbert Miss Oliver zu, „aber ich werde das Gefühl nicht los, daß der ganze weitere Verlauf des Krieges davon abhängt, was aus Verdun wird. Wie Susan und Joffre richtig sagen, das hat keine wirkliche militärische Bedeutung; aber es hat die enorme Bedeutung einer unglaublichen Idee. Wenn Deutschland nämlich dort gewinnt, dann gewinnt es den Krieg. Wenn es verliert, dann wird der Strom in die entgegengesetzte Richtung fließen.“

„Es wird verlieren!“ ereiferte sich Mr. Meredith. „Die Idee kann nicht erobert werden. Frankreich ist ein wunderbares Land. In ihm sehe ich die weiße Form der Zivilisation, die sich entschlossen gegen die schwarzen Mächte der Barbarei zur Wehr setzt. Ich glaube, daß die ganze Welt das so sieht, und deshalb warten wir alle mit atemloser Spannung auf den Ausgang. Es geht nicht nur darum, ob ein paar Festungen in andere Hände übergehen oder nicht oder ob ein paar Meilen blutgetränkter Erde verloren oder gewonnen werden.“

„Ich wüßte gerne“, sagte Gertrude nachdenklich, „ob wir als Lohn für unser Leid eine besondere Gnade zu erwarten haben, eine Gnade, die dem Preis gerecht wird. Sind die Qualen, die die Welt erschaudern lassen, der Geburtsschmerz eines wunderbaren neuen Zeitalters? Oder sind sie bloß ein vergeblicher Ameisenkampf im Schein von Abermillionen Sonnen? Wenn ein Ameisenhügel zerstört wird und die Hälfte seiner Bewohner dabei umkommt, ist das für uns keine Katastrophe, Mr. Meredith. Ob wohl die Macht, die das Universum regiert, uns für wichtiger hält als wir die Ameisen?“

„Sie vergessen“, sagte Mr. Meredith mit funkelnden Augen, „daß eine unendliche Macht genauso unendlich klein wie unendlich groß sein muß. Wir sind keines von beiden, und deshalb gibt es Dinge, die für uns zu klein sind oder zu groß, als daß wir sie begreifen könnten. Für eine unendlich kleine Macht ist eine Ameise genauso wichtig wie ein Mastodon. Wir sind Zeugen des Geburtsschmerzes eines neuen Zeitalters, aber alles wird am Anfang schwächlich und hilflos sein. Ich gehöre nicht zu denen, die als Resultat dieses Krieges sofort einen neuen Himmel und eine neue Erde erwarten. Das ist nicht die Art und Weise, wie Gott vorgeht. Aber er geht vor, Miss Oliver, und am Ende wird er das erreicht haben, was er vorhatte.“

„So ist’s recht, so ist’s recht“, murmelte Susan zustimmend draußen in der Küche. Hin und wieder gefiel es ihr, wenn der Pfarrer Miss Oliver eins draufgab. Susan hatte Miss Oliver zwar sehr gern, aber sie fand, daß sie gegenüber den Pfarrern viel zu ketzerische Dinge sagte und deshalb ab und zu daran erinnert werden mußte, daß diese Angelegenheiten nicht zu ihrem Aufgabenbereich gehörten.

Im Mai kam ein Brief von Walter, in dem er schrieb, daß man ihm die D. C. – Distinction-Cross-Medaille – überreicht hatte. Wofür, das schrieb er nicht, aber die anderen Jungen sorgten dafür, daß es sich in Glen herumsprach, wie tapfer Walter gewesen war. „In jedem anderen Krieg hätte er eine V. C. – Victory-Cross-Medaille – bekommen“, schrieb Jerry Meredith. „Aber eine V. C. wäre gar nichts Außergewöhnliches mehr, wenn sie allen verliehen würde, die hier tagtäglich mutige Taten vollbringen.“

„Ich finde, er hat die Victory Cross verdient!“ sagte Susan empört. Sie war sich zwar nicht ganz sicher, wem genau sie die Schuld daran geben sollte, daß er sie nicht bekommen hatte, aber angenommen, General Haig steckte dahinter, dann überkamen sie doch ernsthafte Zweifel, ob der sich wirklich zum Oberbefehlshaber eignete.

Rilla war ganz außer sich vor Freude. Ihr geliebter Walter hatte eine tapfere Tat vollbracht – Walter, dem jemand auf dem Redmond-College eine weiße Feder geschickt hatte! Walter war es gewesen, der aus dem sicheren Schützengraben gesprungen war, um einen verwundeten Kameraden hereinzuziehen, der auf Niemandsland gefallen war. Zu gern hätte sie ihn dabei gesehen, mit seinem schönen Gesicht und seinen wundervollen Augen. Und sie, sie war die Schwester eines so großen Helden! Und für ihn war es noch nicht mal der Mühe wert, davon zu schreiben. So viele andere Dinge standen in seinem Brief, kleine, sehr persönliche Dinge, die sie in wolkenlosen, längst vergangenen Tagen miteinander geteilt hatten.

„Ich muß an die Narzissen denken in unserem Garten von Ingleside“, schrieb er. „Bis Du diesen Brief bekommst, werden sie bestimmt schon in voller Blüte stehen unter dem schönen, rosaroten Himmel. Sind sie wirklich genauso leuchtend und golden wie immer, Rilla? Eigentlich müßten sie rot gefärbt sein von Blut, so wie die Mohnblumen, die hier wachsen. Und jedes Frühlingsflüstern wird sich im Regenbogental in ein Veilchen verwandeln.

Heute ist Neumond. Schmal und silbern hängt er über diesen Elendsgräben. Ob Du ihn heute abend auch siehst über dem Ahornwäldchen? Ich lege ein Stück Papier mit einem Gedicht bei. Ich habe es eines Abends auf meinem Platz im Schützengraben geschrieben, beim Schein eines Kerzenstummels, das heißt, dort ist es mir eingefallen. Ich hatte gar nicht das Gefühl, als ob ich es schreibe – es war, als würde mich irgend etwas als Instrument benutzen. So etwas ist mir schon ein- oder zweimal passiert, aber nur sehr schwach, nie so stark wie diesmal. Deshalb habe ich es diesmal an die Londoner Zeitung Spectator geschickt. Sie haben es gedruckt, und heute habe ich die Kopie davon bekommen. Ich hoffe, es gefällt Dir. Es ist das einzige Gedicht, das ich seit meiner Überfahrt geschrieben habe.“

Das Gedicht war kurz, aber sehr rührend. In nur einem Monat trug es Walters Namen um die ganze Welt. Überall wurde es veröffentlicht: in den Tageszeitungen der großen Städte und in den Wochenblättern der kleinen Dörfer, in kritischen Zeitschriften und „Seufzerspalten“, in Rotkreuzaufrufen und in der Rekrutierungspropaganda der Regierung. Mütter und Schwestern brachen beim Lesen in Tränen aus, Jugendliche waren ganz hingerissen davon, für die Menschen auf der ganzen Welt war es der Inbegriff all des Schmerzes, der Hoffnung, des Elends und des Zieles dieses ungeheuren Konflikts, der in drei kurzen, unvergänglichen Versen seinen Ausdruck fand. Ein junger Kanadier aus den Schützengräben von Flandern hatte das Kriegsgedicht geschrieben. Der Pfeifer von Walter Blythe war von seiner ersten Veröffentlichung an ein Klassiker.

Rilla schrieb es an den Anfang eines Tagebuchkapitels, in dem sie von der schweren Zeit der vergangenen Woche berichtete.

„Es war eine ganz schreckliche Woche“, schrieb sie. „Obwohl sie jetzt vorbei ist und obwohl wir jetzt wissen, daß alles ein Irrtum war, hat sie ihre Spuren hinterlassen. Anders gesehen war es eine sehr schöne Woche, und ich habe ein paar ganz neue Erfahrungen gewonnen – nämlich wie freigebig und wie mutig die Menschen inmitten all dieses Schreckens sein können. Miss Oliver hat sich besonders großartig verhalten, das könnte ich nie.

Vor genau einer Woche bekam sie einen Brief von Mr. Grants Mutter aus Charlottetown. Sie schrieb, sie hätte gerade ein Telegramm bekommen, daß Major Robert Grant vor ein paar Tagen gefallen sei.

Die arme Gertrude! Zuerst war sie erschüttert. Aber schon einen Tag danach riß sie sich zusammen und ging wieder in die Schule. Sie weinte nicht – ich habe sie überhaupt noch nie weinen sehen —, aber ihr Gesicht und ihre Augen!

‚Ich muß mit meiner Arbeit weitermachen‘, sagte sie. ‚Gerade jetzt ist das meine Pflicht.‘

Ich hätte das nie geschafft; das muß man ihr wirklich hoch anrechnen.

Auch ihre Worte verrieten keinen Schmerz, außer einmal, als Susan sagte, endlich sei es Frühling. Da sagte Gertrude: ‚Kann es dieses Jahr wirklich Frühling werden?‘ Dann lachte sie – aber es war ein ganz schreckliches Lachen, so wie man vielleicht dem Tod ins Gesicht lacht, und sie sagte: ‚Ich weiß, das ist egoistisch. Bloß weil ich, Gertrude Oliver, einen Freund verloren habe, soll man sich nicht vorstellen können, daß es Frühling wird wie immer. Wieso sollte der Frühling ausbleiben, bloß weil Millionen Menschen leiden – aber wenn ich leide – ach, wie kann die Welt sich nur weiterdrehen?‘

‚Sie dürfen nicht so hart mit sich sein‘, sagte Mutter freundlich. ‚Wenn ein solcher Schlag unser Leben verändert, dann ist es ganz natürlich, wenn man das Gefühl hat, nichts kann so weitergehen wie bisher. Das geht jedem so.‘

Darauf hub diese schreckliche alte Cousine Sophia an. Sie saß da und strickte und jammerte und krächzte ‚wie ein alter Rabe‘, wie Walter immer gesagt hatte.

‚Es gibt Leute, denen geht es schlechter als Ihnen, Miss Oliver‘, sagte sie, ‚das müssen Sie nicht so schwer nehmen. Manche haben ihre Ehemänner verloren; das ist ein harter Schlag! Und manche ihre Söhne. Sie haben doch weder einen Mann noch einen Sohn verloren.‘

‚Nein‘, sagte Gertrude barsch. ‚Stimmt, ich habe nicht meinen Mann verloren. Ich habe nur den Mann verloren, der mein Mann geworden wäre. Stimmt, ich habe keinen Sohn verloren – nur die Söhne und Töchter, die ich vielleicht bekommen hätte und die ich jetzt nie mehr bekomme.‘

‚Es gehört sich nicht für eine Dame, so zu reden‘, sagte Cousine Sophia schockiert. Darauf mußte Gertrude laut lachen, so laut, daß Cousine Sophia es mit der Angst zu tun bekam. Und als die arme Gertrude es nicht länger ertragen konnte und aus dem Zimmer lief, da meinte Cousine Sophia zu Mutter, ob dieser Schlag vielleicht Miss Olivers Gemüt angegriffen hätte.

,Ich mußte den Verlust von zwei sehr guten Freunden ertragen‘, sagte sie. ‚Aber so hat mich das nicht getroffen.’

Das glaube ich auch. Die armen Männer müssen froh gewesen sein, daß sie sterben durften.

Ich habe gehört, wie Gertrude fast die ganze Nacht in ihrem Zimmer auf und ab gewandert ist. Jede Nacht ging sie auf und ab, aber in jener Nacht besonders lang. Und einmal hörte ich einen kurzen Schrei, als ob sie erdolcht würde. Ich konnte nicht schlafen, weil sie mir so leid tat; und ich konnte ihr nicht helfen. Ich dachte, die Nacht ginge nie zu Ende. Aber dann ging sie doch zu Ende, und ‚Freude kam am Morgen‘, wie die Bibel sagt. Genaugenommen kam die Freude nicht am Morgen, sondern am späten Nachmittag. Das Telefon läutete, und ich ging dran. Es war die alte Mrs. Grant aus Charlottetown. Sie sagte, es wäre alles ein Irrtum gewesen, Robert wäre überhaupt nicht gefallen. Er wäre nur am Arm leicht verletzt worden und läge jetzt für einige Zeit sicher im Krankenhaus. Niemand wisse bis jetzt, wie es zu dem Irrtum gekommen sei, aber wahrscheinlich hätte es noch einen mit dem Namen Robert Grant gegeben.

Ich hängte den Hörer ein und flog hinunter zum Regenbogental. Ja, bestimmt, ich flog, ich kann mich nicht erinnern, auch nur einmal den Boden berührt zu haben. Ich traf Gertrude auf dem Heimweg von der Schule, bei den Fichten, wo wir früher gespielt haben. Atemlos platzte ich mit der Neuigkeit heraus. Ein bißchen mehr Verstand hätte ich schon haben können! Ich als Arzttochter! Aber ich war so verrückt vor Freude und Aufregung, daß ich mir einfach keine Gedanken machte. Gertrude fiel in Ohnmacht, mitten in das leuchtende junge Farnkraut hinein, als ob sie jemand erschossen hätte. Der Schreck ist mir – zumindest in dieser Hinsicht – für den Rest des Lebens eine Lehre. Ich dachte, sie wäre tot, mir fiel ein, daß ihre Mutter schon in jungen Jahren ganz plötzlich an Herzversagen gestorben war. Mir kam es vor wie eine Ewigkeit, bis ich merkte, daß ihr Herz noch schlug. Das war vielleicht lustig! Ich habe noch nie jemand in Ohnmacht fallen sehen, und ich konnte keine Hilfe holen, weil niemand zu Hause war. Sie waren alle zum Bahnhof gegangen, um Di und Nan abzuholen, die aus Redmond kamen. Aber ich wußte – theoretisch zumindest —, was man tun muß, wenn jemand in Ohnmacht gefallen ist. Und jetzt weiß ich es sogar praktisch. Zum Glück war der Bach in greifbarer Nähe, und nachdem ich ihr eine Handvoll Wasser nach der anderen ins Gesicht geschüttet hatte, kam sie wieder zu sich. Sie sagte kein Wort zu der Neuigkeit, und ich traute mich auch nicht, noch mal davon anzufangen. Ich stützte sie auf dem Weg durchs Ahornwäldchen bis hinauf zu ihrem Zimmer, und dann sagte sie: ‚Rob – ist – am Leben‘, als ob ihr die Worte aus dem Leib gerissen würden; dann warf sie sich aufs Bett und weinte und weinte und weinte. Ich habe noch nie jemanden so weinen sehen. All die Tränen, die sie die ganze Woche nicht vergossen hatte, weinte sie jetzt. Ich glaube, sie hat fast die ganze letzte Nacht geweint, aber heute morgen machte sie ein Gesicht, als hätte sie irgendeine Vision gehabt. Wir waren alle so glücklich, daß es uns fast angst gemacht hat.

Di und Nan sind für ein paar Wochen zu Hause. Dann nehmen sie ihre Rotkreuzarbeit im Trainingslager von Kingsport wieder auf. Ich beneide sie. Vater sagt, was ich hier mache mit Jims und meinem Jugend-Rotkreuz sei genauso wertvoll. Aber das ist nicht so romantisch wie das, was sie machen.

Kut ist gefallen. Es war fast eine Erleichterung, weil wir es schon so lange befürchtet haben. Einen Tag lang waren wir getroffen davon, dann nahmen wir uns zusammen und ließen es hinter uns. Cousine Sophia sah schwarz wie immer. Sie kam herüber und stöhnte, die Briten würden aber auch überall verlieren.

‚Sie sind gute Verlierer‘, sagte Susan grimmig. ‚Wenn sie was verloren haben, dann suchen sie so lange herum, bis sie es wiederfinden! Wie dem auch sei, mein König und mein Land brauchen mich jetzt, um Kartoffelsetzlinge für den Hinterhof abzuschneiden, also hol dir ein Messer und hilf mir, Sophia Crawford. Ich werde dich ablenken und dich davor bewahren, dich um einen Feldzug zu sorgen, der dich nichts angeht.‘

Susan ist wirklich in Ordnung, und es ist eine Freude zuzusehen, wie sie Cousine Sophia lahmlegt.

Die Schlacht um Verdun will und will kein Ende nehmen, und wir schwanken ständig zwischen Hoffnung und Angst. Aber ich weiß, daß Miss Olivers merkwürdiger Traum den Sieg Frankreichs vorhergesagt hat. ‚Sie werden nicht durchkommen.‘“

Aufruhr in der Kirche

„Wo wandelst du in Gedanken, o Anne mein?“ fragte Gilbert.

Selbst nach vierundzwanzigjähriger Ehe sprach er Anne manchmal noch so an, wenn sie allein waren. Anne saß gerade auf der Verandatreppe und starrte geistesabwesend auf die Blütenpracht des Frühlings vor ihr. Hinter dem schneeweißen Obstgarten wuchsen dunkle junge Tannen und wilde Kirschbäume dicht an dicht, und die Rotkehlchen zwitscherten aus voller Kehle. Es war Abend, und die ersten Sterne funkelten schon über dem Ahornwäldchen.

Mit einem Seufzer kam Anne wieder zu sich. „Ich habe nur vor der unerträglichen Wirklichkeit Trost gesucht in einem Traum, Gilbert. Ich habe geträumt, all unsere Kinder wären wieder zu Hause und alle wären wieder klein und spielten zusammen im Regenbogental. Jetzt ist es immer so still, aber eben war es, als hörte ich wie früher ihre fröhlichen Kinderstimmen aus dem Tal herauf. Ich hörte Jem pfeifen und Walter jodeln und die Zwillinge lachen, und da habe ich tatsächlich für ein paar Minuten die Kanonen an der Westfront ganz vergessen und hatte ganz kurz ein trügerisches Gefühl des Glücks.“

Gilbert sagte nichts. Es kam vor, daß seine Arbeit ihn die Westfront vorübergehend vergessen ließ, aber das kam nur selten vor. Seine immer noch dichten Locken waren in den letzten zwei Jahren ziemlich grau geworden. Aber jetzt lächelte er die Sternengleichen Augen an, die er so liebte – diese Augen, die einst so voller Lachen gewesen waren und jetzt so voller unvergossener Tränen zu sein schienen.

Susan spazierte daher, in der Hand eine Hacke und auf dem Kopf ihre zweitbeste Haube.

„Gerade habe ich in der Enterprise von einem Paar gelesen, das in einem Flugzeug geheiratet hat. Ist denn so was legal, lieber Doktor, was meinen Sie?“ fragte sie mit besorgter Miene.

„Ich glaube, ja“, sagte Gilbert ernst.

„Also“, sagte Susan zögernd, „ich finde, so ein schwindelerregendes Flugzeug hat doch gar nichts Feierliches an sich, wie kann man darin bloß heiraten. Aber schließlich ist nichts mehr so, wie es war. So, noch eine halbe Stunde bis zur Andacht, da werde ich noch mal in den Gemüsegarten marschieren und das Unkraut in Angriff nehmen. Aber während ich da herumwüte, werde ich die ganze Zeit an die Zustände denken müssen, die zur Zeit um Trient herum herrschen. Ich mag diese Streiche der Österreicher nicht, liebe Frau Doktor.“

„Ich auch nicht“, sagte Anne niedergeschlagen. „Den ganzen Vormittag habe ich mit meinen Händen Rhabarber eingekocht, aber in Gedanken wartete ich nur auf die neuesten Kriegsmeldungen. Und als sie dann kamen, fühlte ich mich ganz kraftlos. So, ich glaube, ich muß mich auch langsam für die Andacht fertigmachen.“

Jedes Dorf hat seine eigene kleine Geschichte, die von einer Generation zur anderen mündlich überliefert wird. Sie handelt von traurigen, komischen und dramatischen Ereignissen. Sie werden auf Hochzeiten und sonstigen Festlichkeiten weitererzählt und im Winter vor dem Kaminfeuer zum besten gegeben. Und in diesen mündlichen Überlieferungen von Glen St. Mary sollte die gemeinschaftliche Gebetsstunde, die an diesem Abend in der Methodistenkirche stattfand, einen unvergänglichen Platz einnehmen.

Die gemeinschaftliche Gebetsstunde war Mr. Arnolds Idee. Das Bezirksbataillion, das den ganzen Winter über in Charlottetown auf Truppenübung gewesen war, sollte in Kürze nach Übersee gehen. Die ihm angehörenden Jungen aus Four Winds Harbour, das sich zusammensetzte aus den verschiedenen Ortschaften Glen Overharbour, Harbour Head und Upper Glen, waren alle noch einmal auf Urlaub nach Hause gekommen. Da hatte Mr. Arnold die gute Idee, für alle zusammen eine Andacht abzuhalten, bevor sie in den Krieg zogen. Nachdem Mr. Meredith zugestimmt hatte, wurde also diese gemeinschaftliche Gebetsstunde in der Methodistenkirche angekündigt. Normalerweise waren die Gebetsstunden von Glen nicht sehr gut besucht, aber an diesem besonderen Abend war die Methodistenkirche mehr als voll. Wer hingehen konnte, ging. Sogar Miss Cornelia kam, und das war das erstemal in ihrem Leben, daß Miss Cornelia einen Fuß in eine Methodistenkirche setzte. Nichts außer einem Weltkrieg hätte sie je zu diesem Schritt bewegen können.

„Ich habe die Methodisten immer gehaßt“, sagte Miss Cornelia in aller Ruhe, als ihr Mann sich darüber wunderte, daß sie dorthin gehen wollte. „Aber jetzt hasse ich sie nicht mehr. Es ist doch unsinnig, Methodisten zu hassen, wenn es Leute wie den Kaiser oder Hindenburg auf der Welt gibt.“

Miss Cornelia ging also hin. Auch Norman Douglas und seine Frau kamen. Und Mondgesicht-mit-Schnauzbart stolzierte das Seitenschiff hinauf, um sich einen Platz in den vorderen Kirchenbänken zu sichern. Schließlich war es doch eine Ehre, daß er hier erschien. Die Leute staunten tatsächlich nicht schlecht, ihn zu sehen, wo er doch sonst jede Versammlung mied, die in irgendeiner Weise mit dem Krieg zu tun hatte. Doch Mr. Meredith hatte gesagt, er hoffe, daß seine Versammlung gut repräsentiert würde, und diesen Wunsch hatte sich Mr. Pryor offensichtlich zu Herzen genommen. Er trug seinen besten blauen Anzug mit weißer Krawatte, seine dichten, eisengrauen Locken waren sorgfältig gekämmt, und sein rotes rundes Gesicht sah scheinheiliger aus denn je, wie Susan unbarmherzig feststellte.

„In dem Augenblick, als ich diesen Mann in die Kirche kommen sah, habe ich schon das Schlimmste kommen sehen, liebe Frau Doktor“, sagte sie hinterher. „Was das genau war, hätte ich nicht zu sagen gewußt, aber ich habe seinem Gesicht angesehen, daß sein Besuch nichts Gutes bedeutete.“

Die Gebetsstunde begann wie üblich und verlief zunächst ruhig. Mr. Meredith sprach als erster, und seine Worte waren wie immer treffend und voller Mitgefühl. Es folgte Mr. Arnold mit einer einwandfreien Rede.

Doch dann bat Mr. Arnold Mr. Pryor, das Gebet einzuleiten.

Miss Cornelia hatte ja immer schon behauptet, Mr. Arnold besäße keinen gesunden Menschenverstand. In bezug auf Nächstenliebe irrte sich Miss Cornelia bei Methodistenpfarrern nicht so leicht, aber auch in diesem Fall lag sie nicht ganz daneben. Pfarrer Arnold besaß tatsächlich nicht viel von dieser wünschenswerten, undefinierbaren Fähigkeit namens gesunder Menschenverstand, sonst wäre er nie und nimmer auf den Gedanken verfallen, Mondgesicht-mit-Schnauzbart zur Gebetseinleitung bei einer Versammlung von Soldaten aufzufordern. Dabei wollte er sich doch nur bei Mr. Meredith erkenntlich zeigen, der am Ende seiner Rede einen Methodistendiakon zur Gebetseinleitung aufgefordert hatte.

Einige Leute rechneten damit, daß Mr. Pryor mürrisch ablehnen würde – das wäre schon skandalös genug gewesen. Doch Mr. Pryor sprang wild entschlossen auf, verkündete rührselig „Lasset uns beten“ und – fing an zu beten. Mit dröhnender Stimme, die in jeden Winkel der überfüllten Kirche drang, legte er los und war bereits in voller Fahrt, ehe seine verwirrte und entsetzte Zuhörerschaft merkte, daß sie es mit einem Friedensappell übelster Art zu tun hatte. Eins mußte man ihm lassen: Zivilcourage hatte er. Vielleicht, so meinten die Leute hinterher, fühlte er sich aber auch nur sicher in der Kirche und hielt das für eine glänzende Gelegenheit, gewisse Überzeugungen an die Öffentlichkeit zu bringen, die er anderswo nicht auszusprechen wagte aus Angst, die Leute würden sich dann auf ihn stürzen. Er betete, dieser gottlose Krieg möge endlich ein Ende haben. Den irregeführten Armeen, die an die Westfront ins Verderben geführt worden seien, mögen die Augen aufgehen, welches Unrecht sie tun, und sie mögen es bereuen, ehe es zu spät sei. Die armen jungen Männer, die hier in Uniform anwesend seien, habe man auf einen Weg des Mordens und des Militarismus gehetzt, und sie mögen noch rechtzeitig gerettet werden –

Bis hierhin war Mr. Pryor gekommen, ohne daß ihn irgend jemand unterbrochen hätte. Seine Zuhörer waren wie gelähmt. Aber sie waren schließlich allesamt dazu erzogen worden, daß man in einer Kirche mucksmäuschenstill sein muß, auch wenn noch so provozierende Worte fallen. Und so hatte es ganz den Anschein, als könne er seine Rede ungehindert bis zum Ende fortsetzen. Schließlich meldete sich doch ein Mann zu Wort, der sich von der Ehrfucht vor dem heiligen Gebäude nicht anstecken ließ. Es war Norman Douglas, der, wie Susan schon oft klar und deutlich zu verstehen gegeben hatte, nichts als ein Heide war. Doch er war ein durch und durch patriotischer Heide. Und als ihm die Bedeutung dessen, was Mr. Pryor da von sich gab, erst richtig zu Bewußtsein kam, packte Norman Douglas die Wut. Mit einem Mordsgetöse sprang er auf, drehte sich zu den Leuten um und rief mit Donnerstimme: „Aufhören, sofort aufhören! Was ist das für ein scheußliches Gebet! Einfach widerwärtig!“

Alles horchte auf. Ein Junge in Uniform, der weiter hinten stand, ließ einen zaghaften Beifallsruf vernehmen. Mr. Meredith machte eine abweisende Handbewegung, aber Norman dachte gar nicht daran, sich einschüchtern zu lassen. Ehe seine Frau ihn zurückhalten konnte, sprang er über seine Bank hinweg und packte den unglückseligen Mondgesicht-mit-Schnauzbart am Kragen. Nun blieb Mr. Pryor gar nichts anderes mehr übrig, als aufzuhören, denn Norman, dessen rote Barthaare sich vor Wut sträubten, schüttelte ihn so heftig, daß man fast seine Knochen klappern hörte, und unterstrich sein Gebaren mit einer Sammlung wilder Schimpfwörter.

„Du Lästermaul!“ – schüttel, schüttel – „du heimtückisches Aas!“ – schüttel – „du Halunke!“ – schüttel – „du elender Hund!“ – schütte! – „du widerlicher Parasit!“ – schüttel – „du Barbar!“ – schüttel – „du gemeine Schlange – du – du …“

Norman rang nach Luft. Jeder rechnete damit, daß, Kirche hin, Kirche her, sein nächstes Schimpfwort dem Faß den Boden ausschlagen würde. Doch ein zufälliger Blick hinüber zu seiner Frau genügte, um immerhin zur Bibel zurückzukehren: „Du Heuchler!“ brüllte er mit einem letzten Schütteln und stieß dabei Mondgesicht-mit-Schnauzbart mit solcher Wucht von sich, daß dieser unglückselige Pazifist fast vorne am Altar landete. Mr. Pryors rosiges Gesicht verfärbte sich aschfahl. Verzweifelt wandte er sich um und keuchte: „Verklagen werde ich dich!“

„Na und!“ tönte Norman und wollte schon wieder zum Angriff übergehen. Doch Mr. Pryor hatte das Weite gesucht. Er wollte diesem rachelüsternen Militaristen nicht ein zweites Mal in die Hände fallen.

„He, macht nicht so ein verblüfftes Gesicht, ihr Priester!“ brüllte Norman triumphierend. „Ihr konntet natürlich nichts sagen – keiner erwartet das von einem Geistlichen – aber irgend jemand mußte doch eingreifen! Ihr seid doch bloß froh, daß ich ihn rausgeworfen habe! Dieses aufrührerische Geschwätz und Gejodel kann sich doch keiner mehr anhören! Das ist doch Landesverrat. Genau das richtige für mich, jetzt habe ich wenigstens in der Kirche mal meine Meinung gesagt. Die nächsten sechzig Jahre kann ich ruhig auf meinem Platz sitzen bleiben. So, macht ruhig weiter, Priester. Ich schätze, jetzt kommt euch kein Pazifist mehr ins Gehege.“

Aber mit der andächtigen und ehrfürchtigen Stimmung war es vorbei. Das merkten wohl beide Priester. Das beste war, die Gebetsstunde in Ruhe zu beenden und die aufgeregte Menge zu entlassen. Mr. Meredith richtete ein paar ernste Worte an die Jungen in Uniform – was wahrscheinlich Mr. Pryors Fenster vor einem zweiten Angriff bewahrte —, und Mr. Arnold sprach eine etwas ungereimte Segnung aus. Zumindest hatte er das Gefühl, daß da etwas nicht ganz stimmte, weil er ständig an diesen gigantischen Norman Douglas denken mußte, wie er den kleinen dicken, aufgeblasenen Mondgesicht-mit-Schnauzbart schüttelte – wie eine Bulldogge das Schoßhündchen. Und er wußte, daß alle dasselbe Bild vor Augen hatten. Diese Gebetsstunde konnte man jedenfalls nicht unbedingt als vollen Erfolg bezeichnen. Aber sie blieb den Leuten von Glen St. Mary in Erinnerung, während die althergebrachten Versammlungen, bei denen alles glattlief, völlig in Vergessenheit gerieten.

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