Kitabı oku: «Das kalte Licht», sayfa 5

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„Ihr habt Euch klug und besonnen verhalten. Ich bin sehr froh, dass ich Euch begegnet bin“, sagte Lengsdorp. Dann drehte er sich um und schritt hinaus durch das Tor.

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* Die Lebenden heilt unsere Kunst, nicht die Toten!

* Die Toten lehren uns, lebendig zu begreifen.


3. Kapitel

Worin die Ungereimtheiten kein Ende nehmen wollenund schließlich alles zu Papier gebracht wird,worin Ulrich ferner bedeutenden Herren die Augen öffnetund diese darüber einen bedeutsamen Beschluss fassen.

Wenngleich seine Aufgabe hier nun eigentlich beendet war und die Aussicht, einen ausführlichen Bericht über seine Untersuchung schreiben zu müssen, Grund genug gewesen wäre, sich auf den Heimweg zu begeben, beschloss Ulrich für sich, noch einmal Hauptmann van Horn aufzusuchen, von dem er sich eine besondere Auskunft erhoffte. Diesmal war es ein Leichtes, zur Offiziersstube zu gelangen, wo er einen jungen Burschen bat, ihn anzumelden. Fast unverzüglich durfte er eintreten. Van Horn empfing ihn mit wohlwollendem Lächeln. Er schien die Anwesenheit des jungen Gelehrten, wie er Ulrich zu nennen pflegte, weiterhin als willkommene Bereicherung dieses Tages zu sehen. Er saß entspannt hinter einem mit Karten und großformatigen Büchern bedeckten Tisch. Das Wams zur größeren Bequemlichkeit halb aufgeknöpft, wirkte er gleichwohl auch jetzt schneidig und elegant. Ulrich hatte den Eindruck, dass ein beträchtlicher Teil des Solds der Offiziere in den Taschen von Barbieren, Schneidern, Schuhmachern und Sattlern der Stadt landen müsse.

„Ah, unser junger Gelehrter hat noch etwas auf dem Herzen. Sprecht nur rundheraus“, sagte er lächelnd.

„Hauptmann, sollte es wohl möglich sein, einen der Männer zu befragen, die vergangene Nacht des Ratsherrn Leichnam hierher gebracht haben?“

Van Horn schlug zur Antwort einen schweren Lederband auf, blätterte zu einer bestimmten Seite und fuhr mit dem Finger über die dort eingetragenen Zeilen.

„Lasst sehen: Mönning, Kruse und … ah, ja, der alte Krayenbrink: An den wollen wir uns halten. Die beiden anderen sind, fürchte ich, so mundfaul, dass wir statt ihrer ebenso gut einen Ochsen befragen könnten.“ Er lachte über seinen eigenen Witz, läutete eine Schelle auf seinem Tisch und trug dem eintretenden Burschen auf, den von ihm ausgesuchten Mann herbeizubringen.

Da die Sache sich besser anließ, als er erhofft hatte, unterbreitete Ulrich dem Hauptmann sogleich, worauf er eigentlich abzielte.

„Wenn ihr gestattet, würde ich mich von eurem Soldaten gern an den Ort führen lassen, wo sie den toten Ratsherrn gefunden haben“, führte er seine Bitte fort.

„Soviel ist gewiss“, erwiderte van Horn mit einer Miene, die weiterhin Wohlwollen verhieß, „Ihr zählt unter diejenigen, die nicht ruhen, ehe noch die letzte Begebenheit zur vollen Zufriedenheit erkundet wäre, wie? Nun, Lengsdorp hält große Stücke auf eure Klugheit, und wir wollen nicht zurückstehen hinter seinem Urteil. Ihr bekommt euren Mann und er mag Euch führen, wohin immer Ihr es wünscht, sofern er nur seinen nächsten Dienst nicht versäumt!“

Er lachte erneut und Ulrich stimmte zaghaft mit ein, denn die heitere Natur des Hauptmanns vermochte auch sein gedankenschweres Gemüt ein wenig aufzuhellen.

Bald darauf trat er einem älteren, schmächtigen Soldaten gegenüber, dessen wettergegerbtes Gesicht an der linken Wange wie von einer alten Brandwunde vernarbt und verfärbt war. Seine Erscheinung war so schäbig, dass man nicht umhin konnte, Bedauern für ihn zu empfinden. Wenn sein Rock auch ausreichend sauber schien, so war er doch mit allerlei Flicken geradezu übersät und das Tuch dabei so ausgeblichen, dass seine ursprüngliche Färbung kaum mehr zu erahnen war. Ein leichtes Hinken beschwerte den Gang des Mannes, doch rührte es nicht von einem Leiden her, schuld war vielmehr sein schlechtes Schuhwerk, denn wie Ulrich bei genauerem Hinsehen erkannte, war der Absatz seines rechten Stiefels herausgebrochen.

Ulrich verabschiedete sich vom Hauptmann. Krayenbrink hatte Anweisung erhalten, ihn nach Kräften zu unterstützen, und er tat wie geheißen, beantwortete Ulrichs Fragen und machte einzig ein erstauntes Gesicht, als dieser ihn bat, sie möchten doch neben einer Laterne auch einen Reisigbesen und eine Schaufel mitnehmen.

Wenn etwas Zögerliches in seiner Haltung war, so konnte man dies Scheu und Unsicherheit zuschreiben. Ulrich nahm an, dass es seit den Ereignissen der vergangenen Nacht niemand für nötig befunden hatte, ihm oder seinen Kameraden dafür zu danken, dass sie den Leichnam des Vermissten entdeckt hatten.

So ging er betont freundlich auf seinen Begleiter ein, wusste sich zu entschuldigen für alle Ungelegenheiten, die seinen Wünschen entsprangen, und er bestand darauf, von ihrer kleinen Ausrüstung wenigstens den Besen selbst zu tragen, derweil sein Weggefährte voranschritt und ihren gemeinsamen Weg ausleuchtete. Sie bildeten ein seltsames Gespann, da Ulrich fortwährend die eine oder andere Frage an den vor ihm Marschierenden richtete, woraufhin Krayenbrink mit der ihm eigenen, heiseren Stimme antwortete. Hierbei wendete er jedoch nie den Kopf, so dass es schien, als spräche er zu der finsteren Umgebung, die sie beide umgab. Sein Führer ging langsam aber stetig, nur bisweilen hielt er kurz inne, schwenkte die Laterne höher als sonst, um sich an einer Häuserzeile zu orientieren, eine Gabelung abzupassen oder auch nur, um Ulrich auf eine Ungelegenheit ihres Wegs hinzuweisen.

Bald hatte er den Eindruck, das Vertrauen dieses Veteranen gewonnen zu haben. Was Krayenbrink unterwegs von der nächtlichen Begebenheit schilderte, deckte sich mit dem, was er zuvor von Lengsdorp über die Suche erfahren hatte. Vor Mitternacht hatte sie danach der Wachhabende angewiesen, bei der Suche nach einem Vermissten zu helfen, und alsbald waren sie in eilig zusammengestellten Häuflein jeweils zu dritt ausgeschwärmt.

Während der Alte Einzelheiten ihrer nachfolgenden Suche schilderte, steuerten sie schließlich auf einen Graben zu, an dem ihre Wanderung ein vorläufiges Ende fand.

Ulrich schätzte, dass sie jetzt ein gutes Stück nördlich des großen Rundbogens am Alten Wall standen. Die letzte Häuserzeile lag hinter ihnen und der hier verlaufende Graben musste durch ein Stück Brachland führen, um dann weiter weg irgendwo in das ungleich breitere Alsterfleet zu münden. Vorsichtig schritt Krayenbrink das Ufer ab und bedeutete Hesenius, zu ihm aufzuschließen. Das Licht der Laterne erhellte die schneebedeckte Eisfläche vor ihnen. Ulrich hatte insgeheim gehofft, er könne aus den verbliebenen Spuren im Schnee etwas herauslesen, aber den Tag über mussten bereits andere hier gewesen sein. ob nun vor allem Freunde des Toten, die Männer der Wedde, neugierige Anwohner oder bloß spielende Kinder sich eingefunden hatten – die Schneedecke war an vielen Stellen zertreten und scheinbar wahllos führten verschiedene Pfade über das Eis. Hinter dem Lichtschein, der die Spuren dieses Durcheinanders erhellte, vermochte Ulrich starke Pfeiler zu erkennen, welche die Balken einer hölzernen Brücke stützten. Von dort herab, so berichtete Krayenbrink, hatten er und seine Kameraden einen dunklen Körper auf dem Eis entdeckt, waren sofort umgekehrt und dann hier, an einer eher flachen Stelle der Böschung, hinunter geeilt, nur um einen Unglücklichen zu finden, für den jede Hilfe zu spät kam.

Ulrich entschied, dass sie zuerst ihr Glück auf dem Eis versuchen sollten. Krayenbrink ging voraus und die Laterne des Alten tanzte beim Abstieg unruhig hin und her, leuchtete dann aber von unten her stetig und einladend, so dass er sicheren Schrittes hinunter gelangte.

Die stumpfe Schneedecke machte das Eis gut begehbar. Kein Knacken war zu hören, nur ein sanftes Knirschen begleitete jeden ihrer Schritte.

„Wir wollen nun sehen, wo unser Mann von der Brücke gestürzt sein könnte. Wollt ihr mir daher, so genau es Euch möglich ist, bedeuten, an welcher Stelle der Körper gelegen hat“, fragte Ulrich.

Krayenbrink nickte und ging ohne zu zögern auf die Mitte der schmalen Brücke zu. Etwa zwei Schritte davor blieb er stehen und schwenkte die Laterne auf eine Weise hin und her, dass Ulrich erahnen konnte, in welcher Ausrichtung sie den Leichnam vorgefunden hatten. Genau hier, so erklärte der Soldat, sei es gewesen. Aber, dachte Ulrich, war die Erinnerung seines Begleiters tatsächlich so genau oder hatte er die Stelle mehr aufs Geratewohl angezeigt, um den beharrlich fragenden jungen Mann nicht zu enttäuschen?

„Wie könnt Ihr Euch so sicher sein?“, forschte er weiter, „der Brückenbogen ist alles in allem gut vier Klafter breit. Da könnte der Mann doch ebenso gut hier oder dort herüber gelegen haben. Was meint Ihr?“

„Nein, nein, junger Herr“, widersprach der Alte, „gerade hier herüber hat er gelegen, ganz einfach so, wie unsereins schlafen möchte, auf dem Rücken“, beschrieb er, während die Hand mit der Laterne nun eine kleine Kreisbewegung vollführte, „und dabei war sein Kopf grad’ hier.“

Und da er in Ulrichs Blick den Zweifel nicht ausgelöscht sah, setzte er noch ein weiteres hinzu. „Nein, seht nur, junger Herr“ sprach er und stieß dabei mit dem Stiefel mehrfach gegen einen recht spitzen und offensichtlich harten Buckel zu seinen Füßen, „hierauf hat der Vinzenz noch gemeint, was für ein Glück es gewesen sei, dass der Mann mit dem Kopf gerade neben dem Grat aufgekommen wär’, weil er sich andernfalls doch grad noch mal böse verletzt hätte“. Und das sei, so fügte er hinzu, doch arg töricht gewesen, solches zu sagen, da der Mann schließlich doch schon tot vor ihnen gelegen sei.

Ulrich nickte zustimmend. Die Schilderung des Alten schien aufrichtig. Er besah sich den Wulst genau. Er war noch leicht von Schnee bedeckt und ließ nicht die kleinste Blutspur erkennen. Er nahm den reisigbesen und entfernte einiges vom Schnee. Bald ahnte man, was es war: Ein Stück Treibholz musste sich hier einst im Schlick niedergelassen haben, und sein schwarzgefärbtes Ende ragte nun gleich dem Maul eines erstarrten, unförmigen Fisches durch die Eisdecke.

Er trat ein paar Schritte zurück und versuchte sich vorzustellen, was sich an diesem ort abgespielt haben mochte. Wie viel einfacher wäre seine Untersuchung doch gewesen, wenn er den Toten hier unberührt vorgefunden hätte, doch hatten Krayenbrink und seine Kameraden wohl kaum anders handeln können, als ihn sogleich von hier fort zu tragen.

Wenigstens hatte er Vorsorge getroffen, dass sie einer Sache, die ihn beschäftigte, nunmehr nachgehen konnten. Dem Gewirr der vielen Spuren im Schnee war nichts weiter zu entnehmen, doch etwas Verborgenes darunter wollte Ulrich dennoch betrachten.

„Wollt Ihr mir nun helfen, dass wir mit Schaufel und Besen ein wenig Schnee beiseite schaffen, eben hier, wo der Unglückliche nach eurer Beschreibung lag?“ fragte er den Alten.

Er verriet nicht, wonach er suchte, aber das war einerlei. Wie alle Soldaten war Krayenbrink es gewohnt, zu befolgen, was man ihm auftrug, ohne nachzufragen. Ja, mehr noch, da der Alte sich insgeheim gewundert hatte, zu welchem Zweck er die Schaufel hatte schultern dürfen, schien ihm nunmehr Antwort genug, sie zu benutzen, und sogleich stellte er die Laterne ab und begann eifrig zu schippen.

Der Schnee lag nur wenig mehr als eine Spanne hoch und rasch hatten sie eine Fläche freigelegt, so groß, dass sich auch der stattlichste Bursche auf ihr hätte ausstrecken können.

Als Krayenbrinks Schaufel ihr Werk getan und Hesenius den Boden von Schneeresten gesäubert hatte, spiegelte sich der Schein der Laterne auf dem blanken Eis wider, doch mittendrin durchzog diesen Spiegel ein langer und tiefer Riss, gerade so, als sei etwas Schweres hier aufgeschlagen. Während der Soldat das Resultat gleichmütig aufnahm, hatte Ulrich sich kauernd niedergelassen und strich in gedankenverlorenem Schweigen mit der Hand über die kaltglitzernde oberfläche.

Als er sich nach einiger Zeit wieder aufrichtete, drückte seine Miene alles in allem Zufriedenheit aus. Er ließ sich vom Alten die Stelle zeigen, wo man den Hut des Verunglückten gefunden hatte. Krayenbrink war sich hierbei weniger sicher als vorhin, aber da Ulrich die Spuren vor einem Gebüsch am gegenüberliegenden Ufer untersuchte, fand er dort auf der Schneedecke Abdrücke von Stiefeln, und bei einer Spur fehlte der rechte Absatz, so dass kein Zweifel möglich war. Hier also war der alte Soldat geschritten und hatte den Hut, wie berichtet, eingeklemmt zwischen einigen Zweigen gefunden. Ulrich bedeutete ihm, dass er jetzt noch die Brücke begehen wollte, und so verließen sie beide die Eisfläche und mühten sich die Uferböschung wieder hinauf.

Wie es häufig zu finden war, wölbte sich die hölzerne Brücke ein wenig. So konnte man auch auf Kähnen stehend unter dem Bogen hindurch staken, wenn wieder die Zeit gekommen war, die Boote zu Wasser zu lassen. Ulrich prüfte die Festigkeit des Geländers, ließ sich dann von seinem Begleiter die Laterne reichen und überquerte die Brücke vorsichtigen Schrittes, leuchtete bald hierhin, bald dorthin und kehrte schließlich in der gleichen Weise wieder zurück. Da niemand sich die Mühe gemacht hatte, die Bohlen mit Asche zu bestreuen, war der Untergrund, auf dem er wandelte, auf tückische Art rutschig. Es war ein Leichtes, hier ins Stolpern zu geraten, gestand sich Ulrich ein. Doch hatte er im Ganzen bereits zu viele Dinge entdeckt, die dem vermeintlichen Unglück entgegen standen.

Er blickte auf die Fläche, die sie beide vorhin vom Schnee freigeschaufelt hatten und die sich jetzt, da sie hier oben standen, so dunkel abzeichnete, als hätten sie dort ein tiefes Grab ausgehoben. Zögernd trat Krayenbrink hinzu, der nicht recht wusste, ob es der richtige Moment war, ihre Heimkehr anzusprechen.

Ringsum herrschte Stille. Der flackernde Schein des einzigen Lichts inmitten großer Dunkelheit hüllte sie beide ein und brachte eine getragene Stimmung hervor. Es war diesmal der Alte, der das Wort ergriff, um etwas Tröstliches zu sagen. Schließlich wusste er das stille Verharren des Jüngeren nicht anders zu deuten, als dass ihn der Gedanke an den Verstorbenen bedrückte.

„Ich habe den Tod bei vielen Gelegenheiten gesehen, junger Herr“, sagte er, in dem Bemühen, die angemessenen feierlichen Worte zu finden, „und nun mal oft kam er in ganz furchtbarer Gestalt. Aber seid nur gewiss, dass der hohe Herr vergangene Nacht ganz geschwind gestorben ist. Mein Wort drauf, junger Herr, er hat ganz gewiss nicht leiden müssen, und so friedlich hat er dagelegen, wie wir ihn gefunden haben, als hätte der Herrgott selbst ihn noch, wie er gefallen ist, brav hingebettet.“

Ulrich stimmte ihm zu, denn das war höflich und den Bemühungen dieses aufrechten Veteranen angemessen. Etwas in den Worten des Alten hatte seinen Gedanken neuerlich einen Stoß gegeben, aber er hütete sich, auszusprechen, was ihn in Wahrheit bewegte. Was er im Ganzen an Ungereimtheiten aufgeworfen sah, würde er seinem Bericht anvertrauen, den er noch heute Nacht beginnen wollte.

Ulrich bat den Alten, er möge ihn noch durch die Finsternis zurück zum Haus am Dovenfleet geleiten. Sofern sie sich nur recht beeilten, würde Krayenbrink noch rechtzeitig zum Zeughaus zurückkehren können, ehe das Licht seiner Laterne niedergebrannt war.

So brachen beide auf, und da sie rüstig ausschritten, hatten sie bald die Alte Stadt erreicht. Straßen, die vor Stunden noch übervoll von Menschen gewesen waren, glichen nun verlassenen Schluchten, und nur spärlich verriet hier und da ein Lichtschimmer hinter geschlossenen Fensterladen, dass sich das Leben in Wahrheit nur zum Schlafen hinter die Häusermauern zurückgezogen hatte. Inzwischen mochte es auf die neunte Abendstunde zugehen. Als sie St. Nikolai und den Hopfenmarkt passierten, begegnete ihnen ein Nachtwächter auf seiner Runde, doch wirkte der Soldatenrock seines Begleiters amtlich genug, so dass Ulrich nicht erklären musste, weshalb er zu solch später Stunde noch auf der Straße unterwegs war.

Hesenius wurde durchaus nicht müde, Krayenbrink unterwegs weiter zu befragen, etwa danach, auf welche Weise dieser mit seinen Kameraden den Toten gepackt und aufgeladen hatte. Anfangs hatte er noch befürchtet, seine gesammelte Neugier könne den Soldaten am Ende misstrauisch machen und dazu führen, dass wilde Gerüchte über den Todesfall aufkamen, doch der Alte war von schlichtem, ehrlichem Gemüt, er antwortete gutwillig und würde hinter seiner ganzen Fragerei nicht mehr vermuten als die übertriebene Gründlichkeit eines jungen Mannes.

Am Dovenfleet angelangt, trennte er sich von dem Alten, der ihm ein durchaus angenehmer Begleiter gewesen war. Wiewohl Ulrich selbst zur Zeit nur den nötigsten Lohn empfing, fand er doch zum Abschied zwei Münzen in seinem Geldbeutel, die er dem hilfsbereiten Soldaten unter warmen Dankesworten in die Hand drückte. Womöglich war die Entlohnung sogar ausreichend für einen Besuch beim Schuster. Gern hätte er van Horn gegenüber lobende Worte für den Mann gefunden, aber er bezweifelte, dass er dem Hauptmann noch ein weiteres Mal begegnen werde.

Dort, wo er hineilte, fiel ein einzelnes Licht aus einem der Fenster bis auf die Straße und lenkte seine letzten Schritte: Elsbeth hatte eine Kerze vor die Scheiben gestellt, um wenigstens auf diese Weise zu seiner sicheren Rückkehr beizutragen.

Als er zu dieser späten Stunde endlich wieder das Haus betrat, umarmte er die beiden Frauen und ließ die vom Kummer gespeisten Vorwürfe in der Rede seiner Tante über sich ergehen, blieb selbst aber wortkarg. Auf ihre Weise half Elsbeth ihm dabei, denn nachdem er in der Küche zum verspäteten Abendessen Platz genommen hatte, verscheuchte sie abwechselnd Tochter und Schwiegersohn, die sich, von Neugier geplagt, dazu gesellen wollten, damit Ulrich ihnen von dem Erlebten berichtete. In diesen Dingen war Elsbeth ganz die gestrenge Herrin des Hauses und sie duldete nicht, dass er sein Mahl unterbrechen musste.

Er aß hastig, doch war es nicht so sehr der Hunger, sondern eine Ungeduld mit sich selbst, die ihn dazu anhielt: Den Kopf noch voller Gedanken, wollte er möglichst rasch mit der Niederschrift beginnen.

So schmeckte er weniger als sonst, was aufgetischt war. Dass die Tante die Pfanne überreichlich mit dem guten Speck zubereitet hatte, kam ihm erst zu Bewusstsein, als er sich lange vor dem letzten Löffel gesättigt fühlte.

Es war nicht schwer, Müdigkeit vorzutäuschen, und so vertröstete er alle, die sich eine spannende Schilderung erhofft hatten, auf morgen. Gerdt, der sich eine unterhaltsame Runde mit ihm beim gemeinsamen Würfelspiel versprochen hatte, suchte vergeblich, ihn zu einem weiteren Krug Bier zu überreden. Er wünschte allen eine gute Nacht und zog sich, mit dem Nötigsten versehen, in seine Kammer zurück. Auch wenn er anderntags ausließ, was vertraulich zu behandeln war, so blieb noch genug, was er seinen Lieben mitteilen konnte. Die Nachricht vom Tode Heinrich von Brempts würde sich ohnehin bald herumsprechen.

Einige Bogen Papier und Schreibfedern hielt er hier oben in seiner Kammer immer bereit, und auch das Tintenfass auf dem kleinen Schreibtisch war ausreichend gefüllt. So saß er also und begann im Kerzenschein endlich mit der Niederschrift, anfangs noch zögerlich, da er immer wieder nachdenklich innehalten musste, doch bald füllte er Zeile um Zeile. Er beschrieb die Beschaffenheit des Leichnams in den notwendigen Einzelheiten und vergaß dabei nicht, die Körperteile und was er aus ihnen heraus gelesen hatte, im Lateinischen sowohl wie auch in deutscher Sprache zu benennen. Denn wenn die Blätter auch für wichtige Herren bestimmt waren, so würden sie doch in der Hauptsache Kaufleute und Rechtsgelehrte zu lesen bekommen, und solche Leute wussten nicht um die in der Medizin verwendeten Bezeichnungen.

Endlich, da die Kerze vor ihm so weit heruntergebrannt war, dass sie zu flackern und zu rußen begann, legte er die Feder beiseite. Er wusste nicht recht, wie viel Zeit vergangen war, doch war es einerlei. Alle anderen mussten sich längst schlafen gelegt haben. Elsbeth verwahrte die Kerzen so wohl wie die Dochtschere, und selbst wenn sie noch wach gewesen wäre, so hätte sie keineswegs eingewilligt, etwas davon herzugeben, um ihn bei seinem nächtlichen Treiben zu unterstützen. Es gehörte zu ihren unverrückbaren Grundsätzen, dass Gottes Hand Tag und Nacht geschieden hatte und dass es des Menschen Aufgabe sei, sich in dieser Ordnung einzurichten, anstatt, wie er es unternommen hatte, sein Tagwerk inmitten der Nacht fortzusetzen.

Kaum dass er dies überdacht hatte, spürte er, wie Müdigkeit ihn überfiel. Ebenso wurde er gewahr, dass der Rest Ascheglut, der den Weg vom Küchenherd in die alte Schüssel zu seinen Füßen genommen hatte, längst erloschen war und dass die Kälte der Nacht sich bereits merklich in der Kammer ausgebreitet hatte.

Fröstelnd ging er zu Bett und fiel sogleich in einen unruhigen Schlaf. Es träumte ihm, er müsse unentwegt seine rechte Hand vor anderen Menschen verbergen, da sie von einem fahl leuchtenden Schimmer überzogen war. Vergeblich suchte er das verräterische Mal abzuwaschen, doch es trotzte all seinen Bemühungen.

Als er noch vor der Morgendämmerung aus diesem Traum hochschreckte, pochte sein Herz so heftig wie von einer großen Anstrengung. Leicht verwirrt, doch mit einem augenblicklichen Gefühl tiefer Erleichterung sank er zurück auf das Kissen. Der gestrige Tag hatte ihm mehr aufregende Dinge beschert als all die Monate zuvor, seit er nach Hamburg zurückgekehrt war.

Beim morgendlichen Beisammensein erfuhren Elsbeth, Agnes und Gerdt von den Begebenheiten des Vorabends, was er sich selbst zu schildern erlaubt hatte, und wenn er auch vieles verschwieg, so nahmen sie dennoch lebhaften Anteil an seiner Erzählung. Agnes’ Kinder, die Martin und, nach der Großmutter, Elsbeth gerufen wurden, waren gar so in Bann geschlagen, dass ihnen immerfort neue Dinge einfielen, die sie erfragen mussten, und darüber vergaßen sie ganz, ihren Brei zu löffeln.

Zurück in seiner Kammer, ging ihm die weitere Arbeit an diesem Vormittage recht flott von der Hand: Zur Mittagsstunde befand er, alle seine wesentlichen Erkenntnisse und Mutmaßungen über den Tod Heinrich von Brempts seien nunmehr hinreichend dargelegt.

Er hatte sich jedoch überlegt, noch eine zweite Schrift aufzusetzen, welche ausschließlich einer Beschreibung des geisterhaft fahlen Lichtschimmers an der Hand des Toten vorbehalten war. Und so schilderte er die Umstände seiner Entdeckung und, so gut seine Worte es vermochten, die unerklärliche Natur dieser Erscheinung, auch wie er selbst und Lengsdorp schließlich das Mal tilgten, damit sich der Anblick nicht verbreite und böse Nachrede in das Gedenken an den Toten floss. Indem er diese so überaus seltsamen Begebenheiten gesondert zu Papier brachte, hatte er das seinige dazu beigetragen, sie weiterhin geheim zu halten. Er war sicher, dass Lengsdorp die Niederschrift nur an ausgewählte Amtsträger weiterreichen würde.

So trug er also statt einem Brief deren zwei mit sich, als er sich schließlich am Nachmittag zurück auf den Weg machte zu des Vaters Kontor. Es war ihm, als sei er nie weg gewesen. Der alte Harm bewachte die Eingangshalle, Johann Hesenius machte gerade seinen täglichen Rundgang durch die hinteren Speicherräume und gab Jacob und Fokko, die hier tätig waren, Anweisung, den Bestand verschiedener Waren zu prüfen.

Als Ulrich hinzutrat, wurde er nicht anders begrüßt, als sei er eben seiner kleinen Schreibstube entstiegen, um hier unten sein Tintenfass frisch zu füllen oder einen Stoß Papiere aufzunehmen.

Gerne hätte er noch den Gang durch die Stadt gemacht, um seinem Auftraggeber selbst die beiden Briefe zu überreichen, doch Johann Hes-enius beschied, dass Jacob mit seinen flinken Beinen dies ebenso gut erledigen könne. Tatsächlich wusste Ulrich seine Papiere bei ihm in guten Händen. Er kannte jeden Winkel der Stadt und war als Bote so zuverlässig, wie man es sich nur wünschen konnte.

Sein Vater stellte wenig Fragen nach dem, was Ulrich widerfahren war, doch nahm er die Nachricht vom Tod Heinrich von Brempts mit betroffener Miene auf. Wenngleich er den Ratsherrn nicht näher kennengelernt hatte, so wusste er natürlich um Bekanntheit und Ansehen des Mannes.

Ulrich fand es nicht eben einfach, nach den vergangenen Ereignissen seine Arbeit dort wieder aufzunehmen, wo er sie verlassen hatte: Die Aussicht, über Monate hin Briefwechsel zu führen, von denen kein einziger sein Herz berührte oder seinen medizinischen Verstand und seine Neugier so forderte, wie er es am gestrigen Tag erlebt hatte, bekümmerte ihn mehr, als er geglaubt hatte.

Dabei gestand er sich ein, dass er, verglichen mit jenem Teil der Buchführung, der sich dem Bestand an Waren, den Ankäufen und Verkäufen oder Umrechnung und Subsidien widmete, noch mit Aufgaben betraut war, die man abwechslungsreich nennen durfte. Da gab es etwa ein Schreiben vom Haushofmeister des Großfürsten und Kanzlers von Litauen, und dennoch erschien ihm sein Inhalt nunmehr öde und belanglos. Noch vorgestern hatte ihm das holprige Französisch des Mannes einiges Vergnügen bereitet und wie er umständlich sein Interesse an weiteren Gold-ledertapeten aus der Werkstatt von Le Maire bekundete, da des Kanzlers Frau und den Damen des Hofes die im Vorjahr erworbenen Wandbehänge so ausnehmend gut gefallen hatten. Jetzt spottete er innerlich über den umständlichen Tonfall des Mannes, der zwischen den Zeilen bereits zum Feilschen ansetzte. Im Ganzen war es ohnehin zweifelhaft, ob Johann Hesenius hiervon weitere Ware aus Amsterdam erhalten würde.

Spät am Nachmittag ließ Ulrich die Schreibfeder sinken. Von unten her vernahm er großen Trubel im Kontor, so dass er verwundert seine Stube verließ, um nachzusehen, was vorgefallen sei.

Auf der Treppe drang ein Gewirr von Stimmen aus der Halle hinauf, dazu vernahm er allerhand Lärm und tobende Kinderschritte.

Erst als er ein ihm wohlvertrautes lautes Lachen hörte, kam ihm zu Bewusstsein, was er doch hätte ahnen können: Seine Stiefmutter war mit den Kindern von ihrer Reise nach Lübeck zurückgekehrt. Volle drei Wochen hatte er Tilda nicht gesehen, und ohne sie und die Schar seiner Halbgeschwister war das Haus so ruhig gewesen, dass er häufiger als eigentlich notwendig, die Schreibstube des Vaters aufgesucht hatte, nicht so sehr um sich der richtigen Vorgehensweise mit all den vielen Papieren auf seinem Tisch zu vergewissern, als vielmehr, um zwischendurch über sein Tagwerk reden zu können und dabei die vertraute Stimme zu hören. Bisweilen war es gar vorgekommen, dass sie von den alltäglichen Dingen der Arbeit abschweiften und alte gemeinsame Erinnerungen hervorkehrten. Alles in allem hatten sie sich besser verstanden in den letzten Wochen als zuvor, und er wusste, dass es nun wieder so sein würde wie immer, wenn Tilda zugegen war. Er ging ihr und damit auch den anderen aus der Familie aus dem Weg, einfach indem er sich hoch oben in seiner Kammer vergrub.

Furcht und Scheu waren die ersten Empfindungen, die er ihr damals entgegenbrachte, an jenem Tag, als Johann Hesenius mit der ihm fremden Frau nach Hause zurückkehrte, und da seine Kinderseele sogleich zu spüren meinte, wie sie hinter ihren anfangs freundlichen Worten doch ganz anders über ihn dachte, verschloss er sich ihrem falschen Werben. Er gewöhnte sich an, sie zu strafen, indem er so wenig wie möglich mit ihr sprach, und brachte es zur Meisterschaft darin, ihre Fragen an ihn einfach zu überhören. Wenn es nicht zu vermeiden war, antwortete er unwillig, schüttelte aber meist nur den Kopf oder sprach die Worte doch wenigstens in Richtung des Vaters statt in ihre, als bedeute es zuviel Anstrengung, auf ihr drängendes Fragespiel einzugehen und sie zugleich anzublicken.

So lautete bald ihre Klage an Johann Hesenius, dass der Junge in jeder Hinsicht verstockt sei und seiner neuen Mutter in tausend Kleinigkeiten Verdruss zu bereitete. Jede neue Klage, die sie erhob, nährte seine Gewissheit, dass sie ihn im Grunde ihres Herzens hasste, und es war daher für ihn keine Frage, dass er recht daran tat, ihre Gefühle in gleicher Weise zu erwidern.

Als sie die ersten eigenen Kinder gebar, wurde es leichter für ihn, sich abzusondern, und dass seine Halbbrüder bald jene aufrichtige Zuneigung und Aufmerksamkeit von ihr erfuhren, die er selbst entbehrte, nahm er als Auszeichnung.

Johann Hesenius ertrug diesen Zwist in stillem Kummer. Früh hatte er die Hoffnung auf eine Besserung zwischen ihnen beiden aufgegeben. Bisweilen wies er seine Frau zurecht, wenn sie sich in Zorn geredet hatte, häufiger jedoch sah Ulrich sich gezwungen, Abbitte zu leisten, wenn er es an Respekt hatte fehlen lassen.

In den Jahren, da er die Kindheit hinter sich ließ und anfing, mit großen, staunenden Augen die Welt zu erkunden, war er wenigstens an schlimmen Tagen überzeugt, dass es auf dem Erdball keinen Menschen geben könne, den er mehr hasste als die Frau, die sich selbst vor anderen seine Mutter nannte. Als er endlich soweit herangewachsen war, dass sie zurückscheute, die Hand gegen ihn zu erheben, war er bereits besonnener in seinen Ansichten. Das Gefühl, dass er ihr im Grunde einfaches Wesen und ihre ewig gleichen Ränke gegen ihn leicht durchschauen konnte, stimmte ihn insoweit milde. Seit damals beließ er es dabei, dass er einfach verdeckten Spott in seine Rede einfließen ließ, wenn sie ihm Vorhaltungen machte.

Er wusste, dass die Liebe des Vaters zu ihr nicht tief war, doch die Verbindung mit Tilda aus der Lübecker Kaufmannsfamilie Hoop war nützlich und gut, und vor allem hatte sie ihm die Söhne geschenkt, die das Geschäft eines Tages übernehmen und fortführen würden. Im Grunde hätten Dietrich und der junge Johann ihm dankbar sein müssen, dass er, Ulrich, sich so früh von solchen Aussichten losgesagt und seinen angestammten Platz geräumt hatte, doch auch jetzt, da die Brüder ihm nach dem Erlebnis der Familienreise wieder gegenüber standen, maßen sie ihn mit jenem finsteren, abschätzigen Blick, den sie der Mutter abgeschaut hatten.

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