Kitabı oku: «Der Ochsenkrieg», sayfa 8
Immer näher kamen die zwei springenden Männer dem tobenden Lärm auf der Straße. Und plötzlich schien es, als flute das Geschrei zurück. Man hörte fernher eine schmetternde Trompete. Rennende Menschen erschienen bei einer Straßenwendung, es folgte ein dicker Schwärm, und schrille Stimmen waren zu hören: »Da kommen Herren und Hofleut, zwanzig Reiter, vierzig, sechzig, hundert!« Andere Stimmen schrien wieder etwas anderes. Der flüchtende Haufe kam ins Stocken, die Leute guckten und fragten, und dann hörte man eine kreischende Weiberstimme, die immer die gleichen Worte schrie: »Hilf in der Not! Das ist Hilf in der Not! Hilf in der Not!«
Männer mit erhitzten Gesichtern kamen gelaufen und holten den Schwarzecker und den Seppi Ruechsam. Zwischen dem Leuthaus und dem Hag des Richtmannes legte man die zwei Toten auf die Straße hin. Und noch zwei andere legte man dazu: einen jungen hübschen Buben, an dem man keine Wunde sah, und ein Weib, dessen Gesicht vom Todesschreck verzerrt und in dieser Grimasse des Grauens wie versteinert war.
Diese vier Stummgewordenen sollten reden für die Not der Ramsauer und sollten mit schweigendem Betteln die Straße sperren vor einem geistlichen Fürsten, der da geritten kam.
6
Vor dreizehn Tagen war Herr Konrad Otmar Scherchofer, Propst von St. Zeno zu Reichenhall, mit Gefolge nach Salzburg geritten, um einer Provinzialsynode beizuwohnen, die ein Heilsames wider das grassierende Konkubinat der Kleriker und wider das ketzerische Unwesen des freien Geistes beschließen sollte.
In zehn Sitzungen hatten die zu Salzburg versammelten geistlichen Fürsten, Kanoniker und Doktoren zahlreiche Kirchengesetze beschlossen und verkündet. Und es gab doch der Kirchengesetze bereits so viele, daß auch der gewissenhafteste Christ nicht mehr imstande war, sie alle zu kennen und zu befolgen. Da konnte kein Tag vergehen, ohne daß nicht jeder Mensch, ob Kleriker oder Laie, ahnungslos durch irgendein Wort oder irgendeine Tat in die Exkommunikation oder in eine andre schwere Kirchenstrafe verfiel. Es war unmöglich, alle zu bestrafen, die sich versündigten. So wurden die vielen und strengen Gesetze lächerlich, die Übertretung bekam Humor.
Diese Wahrheit hatte Herr Konrad Ottmar Scherchofer, der als Priester auch kluger Weltmann war, auf der Synode zu Salzburg ausgesprochen. Er hatte gesagt: »Wird ein Mensch ermordet, so ist das ein übles und trauriges Ding, das allen Rechtschaffenen Schmerz bereitet und ihren strafenden Zorn erregt. Werden zehntausend erschlagen, erstochen, gehenkt, geviertelt, gerädert und verbrannt, so verwandelt die widersinnige commulatio den Menschenmord zu einem grinsenden Schembartspiel der irdischen Torheit, das auch den ernstesten der Menschen lachen macht. Exemplum trahit. Ein Gesetz ist heilsam, tausend Gesetze werden zu einer Fäulnis, zu einem Brunnengift des Lebens. Gott, in Güte und Nachsicht, hat der Menschenseele, die von des Teufels schmutzigem Boden zu reinlicher Höhe möchte, tausend Wege und immer noch einen gegeben. Versperrt ihr sie alle bis auf einen, so wird die suchende Menschenseele einem hungernden Esel gleichen, der zwischen tausend vernagelten Gotteskrippen die eine nimmer findet, wo er nach eurem Willen fressen soll. Der Esel sind unzählbar viele. Sie haben nicht Platz vor einer Krippe. Sie müssen zupfen dürfen, wo Gott ein Gräslein oder eine Distel wachsen ließ.«
Wie der berittene Hofmann auf der Ramsauer Straße brüllte: »Willst du meinen Herren verschimpfen?« — so hatte im Salzburger Synodensaal ein Erzürnter geschrien: »Willst du uns Esel heißen?«
Herr Konrad Scherchofer hatte lächelnd erwidert: »Ich darf auch andere heißen, was ich mich selber heiße. Vermute ich auch, daß ich unwürdiger bin als ihr seid, so glaub ich doch, kein schlechter Mensch zu sein. Ich bin als Mensch so gut, wie es die andern mir zu sein gestatten. Und diese andern sind, wie ich bin und wie ihr seid: vor allem schwach von Gedächtnis. Es ist in mir nur noch ein blasses Erinnern an die Gesetze, die wir gestern und ehegestern verkündet haben. Und heute zur Nacht, in einer schlaflosen Stunde, begann ich nachzurechnen, wie oft ich als abschreckend schlechter Christ und als leidlich guter Mensch in den hundertachtzig Tagen dieses halb erfüllten Jahres schon dem Kirchenbann und eurer Hölle verfallen mußte. Lasset mich die kummervolle Zahl verschweigen, die ich gefunden. Als ich beim Rechnen an die zwanzig Mal mit meinen Fingern zu Ende war, da hatte ich verdammenswerter Sünder die Vision eines Heiligen und sah, wie Gott in seiner reinen Himmelsglorie heiter lächelte. Ihr, meine würdigen Brüder in diesem geweihten Saale, lasset einen Trompeter kommen und heißt ihn hinausblasen zum Fenster, bis da drunten die guten Menschen zusammenlaufen nach Tausenden. Dann leeret einen Karren Sand zum Fenster hinaus, indessen ein kräftiges Lüftlein bläst. Und jedes verwehte Sandkorn wird einen Menschen treffen, der zu Bann und Hölle verdammt ist nach irgendeinem von euren vielen Gesetzen. Und zahllose Sandkörner werden es sein, die der Wind zurückbläst in diesen Saal. Meine würdigen Brüder! Wir sollten uns versammeln, um Gesetze zu streichen, nicht um neue zu ersinnen.«
Solche und andre Worte, die er lächelnd sprach, hatten ihm eine Antwort eingetragen, die ihn bei seiner Klugheit beredete, von der Salzburger Provinzialsynode im schützenden Grau des Morgens davonzureiten, bevor sie nach Sonnenaufgang mit festlichem Tedeum beschlossen wurde.
Der vorsichtige Propst zu Reichenhall hatte von den drei Straßen, die ihm für die Heimkehr zu Gebote standen, die beste, fast völlig ebene über Wals und Marzoll aus dem Grunde vermieden, weil sie zu lange auf Salzburger Boden blieb. Er war auch nicht die Straße geritten, die durch die Höfe des Berchtesgadnischen Stiftes zum Hallturm und zum Grenzpfahl mit dem Wappen des heiligen Zeno führte. Er wäre da ohne eine aus Gründen der Courtoisie unerläßliche Visite nicht durchgekommen. Aber mit Herrn Peter Pienzenauer, der von der Synode ferngeblieben war, sprach sich Herr Otmar nicht gut um verschiedener Dinge willen, die seit Jahren an den Grenzen zwischen Berchtesgaden und Reichenhall ein chronisches Leiden waren. So hatte er als empfehlenswertesten Weg die schlechte Karrenstraße gewählt, die unterhalb des Stiftsberges von Berchtesgaden durch hüllende Wäldchen führte und nach beträchtlichem Umweg wieder einlenkte auf die Straße zum Tal der Ramsau. Und just diese dritte, durch Klugheit und Vorsicht anempfohlene Straße sollte sich als ein übler, folgenschwerer Weg erweisen.
Und so kam nun Herr Konrad Otmar Scherchofer durch die Ramsau, in der eine Not des Lebens mit hundert Stimmen brüllte. Daß dabei vier stillgewordene Stimmen schon ausgeschieden waren, das machte in dieser Fülle der Flüche und des Jammers keinen merklichen Unterschied.
Herr Otmar war nicht begleitet von hundert Reitern, nicht von sechzig, nicht von vierzig, auch nicht von zwanzig. Ihm zur Linken ritt sein mit staatsmännischen Gaben gesegneter Kaplan Franzikopus Weiß. Hinter den beiden kamen vier Berittene, nicht reich gekleidet, aber gut bewaffnet. Dann folgte ein mit vier Maultieren bespannter Gepäckwagen. Und vor dem Zelter des Propstes trappelten zwei magere Läufer und ritt ein junger Trompeter. Der hatte sein Instrument in Hörweite des Berchtesgadnischen Stiftes schweigen lassen. Jetzt aber blies er alle dreißig Schritte ein paar schmetternde Töne, die verkündeten: Es kommt ein hoher Herr, die Straße ist freizuhalten von Schweinen, Vieh und Hunden, von Mistkarren, Heuwagen und sonstigem Hindernis. Und weil die Trompete beinahe so weit zu hören war wie ehemals ein Fingerpfiff des nun still gewordenen Schwarzeckers, drum ahnten die verstörten Ramsauer nach einem äffenden Schreck diese nahende ›Hilfe in der Not‹, noch ehe ihnen Herr Konrad Otmar Scherchofer klar erkennbar zu Gesichte kam.
Als die Kavalkade bei dem rauschenden Windbach vorbeigeritten war und den Verzweiflungslärm der Ramsauer schon wie dumpfes Murren vernehmen konnte, begegnete ihr ein sonderbarer Zug, der sich eilfertig bewegte und dennoch langsam von der Stelle kam: ein berittener Spießknecht, dem das Blut von der Faust heruntertröpfelte, ein zweiter Spießknecht, der seinen lahmen Braunen führte, ein Söldner und drei Troßbuben, die ihre verprügelten Köpfe hängen ließen und dazu noch zwei entseelte Menschen zu tragen hatten.
Herr Otmar erkannte die Berchtesgadnischen Farben. Segnend machte er mit der Hand das Zeichen des Kreuzes, tat keine Frage und ritt vorbei. So schweigsam wie der Herr, so schweigsam blieben die Diener. Doch ehrfürchtig entblößten sie die Köpfe vor dem Tod, der da getragen wurde. Dann sagte Herr Otmar über die Schulter zu einem der Seinen: »Reite zurück! Wenn die Ärmsten Stärkung oder Verbandzeug nötig haben, soll man es ihnen reichlich geben aus meinem Wagen.« Nachdenklich betrachtete er das Gesicht seines Kaplans. »Franzikopus? Witterst du Gefahr?«
»Ich glaube, hier ist geschehen, was nützlich werden kann.« Der Kaplan lächelte. »Betrachte dir die Lage und Biegung dieses wundervollen Tales, geliebter Herr! Sieht es nicht aus, als hätte Gott sich dieses Tal gedacht als den seitwärts gestreckten Daumen der Hand von Reichenhall? Daß Hand und Daumen voneinander getrennt sind, ist wider die Natur.«
»Franzikopus?« Leiser Unmut war in der Stimme des Propstes. »Wann wirst du anfangen, als Mensch zu denken?«
»Sobald ich aufhöre, als dein Kaplan für unsern Vorteil zu sinnen.«
Schweigend ritten sie weiter. Nun sahen sie auf hundert Schritte den Leichnamsriegel, der wie ein bunter, splitterig verbogener Balken die Straße sperrte. Und hinter ihm standen die hindert Ramsauer wie eine bewegliche Mauer.
»Herr, sieh diese Menschen an!« sagte Franzikopus leise. »Es ist einleuchtend, daß ihnen geschah, was wir als schweres Unrecht bezeichnen müssen. Sie scheinen Hilfe von dir zu erwarten. Willst du solche Hilfe nicht bieten als Fürst, so mußt du sie bieten als der gütige Mensch, der du sein willst. Und bedenke, daß die Ramsauer zur bayrischen Burg Plaien nicht weiter haben als zum Dache des heiligen Zeno. Was du verschmähst, fällt einem andern in die Tasche.«
Jetzt vermochten die Ramsauer deutlich Herrn Otmars Gesicht zu sehen, dieses blasse, feingeschnittene, auch im Ernste noch ein bißchen lächelnde Mannsgesicht. Und da streckten sich plötzlich zweihundert Arme, und hundert Stimmen schrien in Furcht und Hoffnung: »Hilf uns, hilf uns, hilf uns!«
Herr Konrad Otmar Scherchofer hob die Hand, an der ein Smaragd in der Sonne blitzte. Fast lautlose Stille entstand. Und die Ache rauschte.
»Ihr guten Leute! Ich sehe Blut und Tod vor euren Füßen, sehe Gram und Sorge in euren Gesichtern. Was ist da geschehen? Seid ihr Gebüßte, die ein Unrecht begingen?«
Alle Stimmen kreischten: »Bei uns ist das Recht! Das Recht!«
Wieder hob Herr Otmar die Hand. »Einer rede!«
Viele schrien: »Richtmann! Jetzt tu das Maul auf! Red!«
Runotter streckte sich. Sein Gesicht war aschengrau, sein Auge traurig. »Ich red nit. Richtmann bin ich nimmer. Mein Stab ist zerschlagen. Erst muß mir der Fürst einen neuen geben. Nachher red ich. Aber bei dem, was heut die Gnotschaft will — Hilf und Spruch wider unsern Fürsten von einem fremden Herren heischen — da tu ich nit mit!«
»Recht hast!« sagte Malimmes, an dessen Arm sich zitternd das blonde Mädel aus dem Leuthaus klammerte.
Das Wort des Soldknechts ging unter in einem ohrenbetäubenden Geschrei. Geballte Fäuste streckten sich gegen Runotter. In Furcht und Zorn beschimpften ihn seine Dorfbrüder als Feind der Gnotschaft, als fürsichtigen Liebdiener und als Hofmannslecker. Einer schrie es ihm an die Nase hin: »Ein Untreuer bist! Schau den Seppi Ruechsam an! Der ist ein Treuer gewesen.« Runotter packte den Schreier an der Schulter und drückte ihn gegen den Seppi Ruechsam nieder: »Frag den Seppi! Kann sein, er sagt dir’s noch, wo er stehen tät, herüben bei mir oder drüben bei euch!« Was der Richtmann weiter noch redete, versank in dem brüllenden Lärm der andern.
Da sagte Herr Otmar in lateinischer Sprache zu Franzikopus: »Es wäre mir lieber, wenn dieser eine zu mir um Hilfe käme und die andern wären dagegen.«
Der Ältestmann der Gnotschaft, der etwas rot und grau Geflecktes zwischen den Händen hatte, stieg über den Seppi Ruechsam hinüber, trat vor den ruhig am Zaune kauenden Zelter des Propstes hin und erzählte die Geschichte der Hängmooser Ochsen und der siebzehn gepfändeten Milchkühe. Ganz ehrlich erzählte der Ältestmann diese Geschichte, genau aufs Härchen, wie er sie erlebt zu haben glaubte. Und dennoch war diese Geschichte etwas völlig andres als die Wahrheit. Aber das Recht, von dem der Ältestmann berichtete, konnte er beweisen — mit zitternden Händen hob er zu dem Propste den knitterbrüchigen, vom grauen Sattelschmutz des Marimpfel und vom roten Blut des Seppi Ruechsam befleckten Weidbrief hinauf.
Herr Otmar zog die Hand zurück. »Franzikopus, lies!«
Während der Kaplan sich in das Studium der halberloschenen Schrift vertiefte, hörte man neben dem Rauschen der Ache nur das schwere Atmen dieser hundert harrenden Menschen.
Nun sprach der Kaplan. Zu seinem Herrn nur. Doch seine Stimme klang so laut, als spräche er zu vielen. »Herr, das ist klares Recht! Da fehlt kein Hauch und kein Stäublein. Auch Wachs und Siegel waren da. Man erkennt noch deutlich die Stelle. Ich muß entscheiden, daß diesen braven Leuten schweres Unrecht geschah.«
Runotter sagte: »Das haben die mutwilligen Knecht —«
Er wurde von hundert Stimmen überschrien, während Franzikopus dem Ältestmann das rot und grau gefleckte Pergament zurückgab.
Herr Otmar, der die Hand erhoben hatte, wollte sprechen. Doch Franzikopus kam seinem Herrn zuvor und sagte, wieder nur zu seinem Propste, aber sehr laut und langsam: »Herr! Diese armen Leute erbarmen mich. Sie sind in harter Lage. Zu Berchtesgaden wird man immer fragen: Ochsen oder Kühe? Da wird man sagen: Meuterei! In solchem Falle straft man zu erst. Und dann untersucht man. Ich sehe zu meiner Sorge, daß an der Ramsauer Straße alte Ulmen mit starken Ästen stehen.«
Aus der dumpfen Bewegung der hundert Ramsauer klang eine heitere Stimme heraus: »Kann sein, da blüht mir der fünfte Hänfene! Oder der sechste? Ich weiß nimmer recht.«
Franzikopus guckte einen Augenblick verwundert den stämmigen Soldknecht an. Dann sprach er bekümmert weiter: »Kommen die Exekutierer, so werden diese guten Menschen aus Irrtum ihres Fürsten morgen ärmer sein um viele Ochsen, Kühe, Ziegen, Schafe und Schweine. Auch ärmer um einige Köpfe. Nein, lieber Herr, es liegt mir ferne, diesen redlichen Leuten einen unbegehrten Rat erteilen zu wollen. Doch jeder Mensch darf menschlich denken. Wenn ich heut ein Ramsauer wäre, würde ich mich noch vor Dunkelheit mit Weib, Kind, Vieh und Sack davonmachen und mich einem Heiligen anvertrauen, der hilfreich ist. In seinem Schutze kann man geduldig eine bessere Zeit erwarten.«
Runotter rief: »Solang ich in mir noch einen redlichen Schnaufer hab, will ich nit hoffen, daß die Gnotschaft so was tut.«
Schnell redete der Kaplan in den Lärm hinein, der diesen Worten folgte: »Gewiß nicht! Nein! Ihr müsset Recht bei eurem Fürsten suchen. Er kann auch gnädig sein. Wenn er es immer wäre, müßte bei so redlichen Menschen, wie ihr es seid, dieses schöne Tal ein Haus des Glückes in einem Rosengarten sein. Ein gütiger Fürst macht seine Bürger froh und füllt die Truhen seiner Holden mit dauernden Schätzen. Meines Herren schönes, friedliches Hall heißt nicht umsonst: das reiche. Wir Chorherren zu Hall sind arme Leute, die sich mit trockenem Brot begnügen. Doch meines Herren Untertanen leben in Überfluß, in Freiheit und Freude. Bei manchem Nachbar ist es umgekehrt.«
Ein so sehnsüchtiger Lärm entstand, daß Herr Otmar wieder die Hand erheben mußte. Er betrachtete seinen Kaplan mit einem ehrlichen Blick des Unwillens und sprach: »Ihr Leute! Hört nicht auf diesen Schmeichler! Suchet Recht und Gnade bei eurem Fürsten, wie es sich für treue Holden gebührt.« In seine Stimme kam ein seltsam unsicherer Klang, als müßte er aus dunklen Gründen sprechen, was er selbst nicht sagen wollte. »Solltet ihr gerechte Gnade bei eurem Fürsten nicht finden, dann mögt ihr in Gottes Namen tun, was euer verbrieftes Recht entschuldigt und eure bittere Not begehrt.«
Er gab seinen Leuten einen Wink. Der eine Läufer hob den Seppi Ruechsam zur Linken hin, der andre zog den Schwarzecker um eine Menschenlänge nach rechts, und Herr Otmar Scherchofer begann zu reiten. Viele Hände streckten sich zu ihm hinauf, viele Stimmen bettelten und fragten. Herr Otmar sprach kein Wort mehr. Doch immer wieder machte er segnend das Zeichen des Kreuzes mit der schlanken Hand, daran der Smaragd seines Hirtenringes in der Sonne blitzte. Und als die verstörten Menschen den Zelter des Propstes umdrängen wollten, ritten die vier Bewaffneten mit freundlicher Achtsamkeit neben ihren Herrn hin. Die Pferde begannen zu traben, der nachkommende Wagen ratterte hinter den galoppierenden Maultieren, die Läufer sprangen voraus, und der Trompeter blies von Zeit zu Zeit drei schmetternde Töne.
Franzikopus lächelte behaglich, doch Herr Otmar hatte ein mißmutiges Gesicht. Er war unzufrieden mit sich selbst. Und während der tobende Lärm der Ramsauer hinter ihm zu versinken begann, sagte er leise:
»Heute bin ich schon wieder siebenmal des Kirchenbannes und der Hölle schuldig.«
»Nicht um dieser letzten Stunde willen. Klugen Erwerb begreift und verzeiht die Kirche. Von Gott weiß ich es nicht mit Sicherheit. Aber ich traue ihm das beste zu und hoffe, er wird die guten Ramsauer noch heute zum heiligen Zeno schicken.«
»Franzikopus, manchmal redest du wie ein Verbrecher, manchmal siehst du aus wie ein nützlicher Mensch. Zu welcher Gattung gehörst du?«
Der Kaplan schmunzelte. »Viellieber Herr! Am schwersten unterscheidet man die Menschen auf der schmalen Kippe zwischen einem Verdammten und einem Heiligen.«
»Verdammte kenn ich zur Genüge. Jetzt hab ich Sehnsucht, nur ein einziges Mal einem Heiligen zu begegnen, der noch auf Erden wandelt.«
»Warum willst du das?«
»Um zu erforschen, wie ein Heiliger bei lebendigem Leibe riecht.«
Die grauen Augen des Kaplans wurden rund. »Ich verstehe meinen geliebten Herrn nicht.«
»Dann will ich es dir erklären. Menschen, die eine das reinliche Maß übersteigende Liebe zu Tieren besitzen, riechen bitter und schlecht. Tiere, die eine tiefe Neigung zu Menschen fassen, bekommen in des geliebten Menschen Nähe einen köstlich duftenden Atem. Wie schön und rein muß jeder Hauch eines Menschen werden, wenn er zu lieben beginnt, was wertvoller ist und höher steht als seine eigne Erbärmlichkeit. Du, Franzikopus, säuerst! Ich fürchte, es wird mit dir ein böses Ende nehmen.«
Heiter lachte der Kaplan. Doch plötzlich spähte er über die Straße voraus und sprach: »Das ist heut ein Tag der Dinge, die vielfältig sind und doch immer ein gleiches bleiben. Wir haben den Tod auf den Schultern des Lebens gesehen und den Tod im Staub der Straße. Jetzt kommt der Tod im Sattel. Wir wollen abseits reiten, lieber Herr. Jedes dritte Omen macht mich abergläubisch.«
Sie ritten von der Straße gegen die Wiesen hinaus, und weil sie sich vom Ufer der Ache entfernten, deren Rauschen stiller wurde, hörten sie wieder deutlich den Stimmenlärm der Ramsauer.
Die lieferten einander von Nase zu Nase ein erbittertes Wortgefecht, bei dem schon bald die brüderlichen Fäuste zur Mitwirkung bereit erschienen. Der Haufe, der vor dem Hof des Leuthauses durcheinander wühlte, hatte sich durch Zulauf noch vergrößert. Und immer neue Menschen kamen von allen Seiten über die Wiesenhügel heruntergerannt. Von den Kindern standen die einen in Neugier oder mit erschrockenen Gesichtern herum, andre pritschelten heiter in der Ache, warfen Steine nach den Forellen oder trieben sonstwie ihre gewohnten Spiele.
Die Ordnung der Gnotschaft war völlig in Fransen gegangen. Nicht nur die Spruchbaren redeten. Alle schrien durcheinander, Männer und Weiber, Erbrechter und hörige Schupfgütler. Nur ein einziger schwieg: Malimmes. Während ihm das blonde Mädel wieder und wieder, verstört und zitternd, ein paar Worte zuflüsterte, stand er an der Ecke des Leuthauses auf die Kreuzstange seines Bidenhänders gelehnt und blickte aufmerksam in den tobenden Schwärm hinein. Immer waren seine Augen beim Runotter, der sich in dem drängenden Haufen umherschob, bald den einen, bald den andern am Kittel faßte und ernst auf ihn einredete.
Aber da fruchtete keine verständige Mahnung mehr. In den ratlos furchtsam Gewordenen hatte die Staatsklugheit des Franzikopus Weiß drei vernunftfressende Worte zurückgelassen: das Wort von den Schätzen, mit denen ein gütiger Fürst die Truhen seiner Holden füllt, das Wort von den Exekutierern und den vielen Ochsen, Kühen, Schafen und Ziegen, das Wort von den hohen Ulmen mit den festen Ästen. Je tiefer diese drei Worte sich einbohrten, um so mehr verlor für die Ramsauer der heilige Peter von Berchtesgaden an vertrauenswürdigen Eigenschaften. In gleichem Maße gewann der heilige Zeno von Reichenhall an schutzbietender Kraft.
Schon mehrmals hatte der Ältestmann umsonst versucht, von diesen schreienden Menschen gehört zu werden. Nun stieg er auf einen Zaunpfosten des Leuthauses. Und weil seine Stimme in dem tobenden Lärm versank, hob er zwischen seinen zitternden Händen den Hängmooser Weidbrief in die Höhe, dieses grau und rot gefleckte Heiligtum des Seppi Ruechsam. Mit gekrümmtem Rücken und eingeknickten Knien stand der greise Mann da droben und wartete geduldig, bis halbe Stille entstand. Dann sprach er: Es wäre mit allen Stimmen der Spruchbaren wider die einzige Stimme des Runotter ein Fürschlag ausgeredet, den alle hören und gutheißen müßten, die zur Ramsau und zum Schwarzeck, zum Tauben- und Hintersee gehören; man soll die vier Toten dem Pfarrherrn vor das Widum legen zu christlichem Begräbnis; man soll vor Nacht alles Vieh von den Ahnen holen und beim Taubensee zusammentreiben; neuer Albmeister ist der Hinterseer Fischbauer, der soll die gesiegelten Rechtsbriefe mit der Truhe des Seppi Ruechsam in Verwahr nehmen und haften dafür mit Leib und Leben, mit Gut und Seligkeit; für jeden Schwerkranken und vor Alter Müden soll man einen halbwüchsigen Buben daheim lassen zu Treuung und Pfleg, bei jedem eine Milchgeiß und das Geflügel, das sich vor Nacht nimmer fangen läßt, einen versteckten Sparpfennig, ausreichendes Brot, dazu noch Mehl und Schmalz und Salz; was sonst in der Ramsau und auf dem Schwarzeck, am Tauben- und Hintersee ein Lebendiges ist, Mannsleut, Weiber und Kinder, mit allem nutzbaren Vieh, mit Geld und beweglichem Gut, mit Wehr und Eisen, mit Sack und Karren, soll bis Mitternacht Zulauf suchen beim Taubensee. »Auf daß wir zur Wahrung von Hab und Leib einen andächtigen Bittgang tun zum heiligen Zeno, der uns ein mächtiger Fürsprech sein wird beim gütigen Herrn im Himmel, bei Jesuchrist und seiner barmherzigen Mutter. Wer dawider ist, daß man den Bittgang macht, der tu seine Faust in die Höh!«
Eine einzige Faust erhob sich, die des Runotter. Dann streckten sich noch zwei Arme. Von den drei Knechten des Runotter stimmten zwei wie ihr Bauer.
»So ist beschlossen, daß man’s tut!« Der Ältestmann ließ sich vom Zaunpfosten herunterheben.
»Leut, Leut, Leut!« rief der Runotter mit hallender Stimme. »Das ist kein andächtiger Bittgang nit! Das ist Landsverrat!«
Alle hundert Stimmen brüllten gegen den einen. Und Malimmes schrie: »Laß gut sein, Bauer! Steckt der Karren so tief im Dreck, da müßt man im Dutzend helfen. Einer lupft ihn nimmer.«
Doch Runotter, während ein Schwärm von Buben schon nach allen Seiten auseinanderstob, um das Almvieh heimzuholen, faßte den Ältestmann am Kittel, rüttelte ihn und schrie wie von Sinnen: »Mensch! Was tust denn, Mensch? Bist der Ältest, solltest der Klügste sein und bist der Dümmst. Und hetzest die Leut ins Verderben! Und redest zu Landsverrat und Treubruch!«
»So?« keuchte der Greis. »Und wie heißt denn, was die Herren tun?«
»Wenn einer stiehlt, muß da gleich jeder ein Dieb sein? Die Treu verlassen, heißt auf den Mist springen, nit auf guten Boden! Der Fürst tut Unrecht an uns. Ist wahr! Das werden die Herren einsehen —«
»So? Und bis sie’s einsehen, liegt ein Häufl von uns beim Seppi Ruechsam oder hängt an den Ulmen. Das Leben ist eh noch alles, vpas der Bauer hat.«
Hundert Stimmen schrien das gleiche.
»Leut, Leut!« rief Runotter. »So tut doch Vernunft haben um Herrgottschristi willen! Ihr stoßt ja die eignen Häuser in Scherben und versauet das eigne Feld! Wo einer Untreu übt, geht Feuer nieder, daß ihm die Händ verbrennen. Leut, Leut! Habt ihr nit dem Fürsten geschworen —«
Da kreischte eine Frauenstimme aus dem wühlenden Lärm. »Du hast’s nötig, daß du so für die Herren redest! Denkst nimmer an dein Weib?«
Über das Gesicht des Runotter fuhr eine kalkige Blässe. Stumm biß er die Zähne übereinander. Dann hob er die Hände und wollte reden. Doch ein wirres, wildes Geschrei, in dem sich Hohn und Grauen mischte, erstickte sein Wort. Einer auf der Straße schrie: »Da kommt des Richtmanns höfische Treu geritten!« Und wieder jene Frauenstimme: »Guck her, du! Guck! Wie’s die Herren treiben! Oder ist das ein Gruß von deinem Weib?«
Eine Gasse tat sich auf, die Menschen wichen zurück und Runotter sah den reitenden Tod, der ein verschobenes, bresthaftes Körperchen hatte.
Die Augen des verstörten Mannes irrten.
War der Tod so ein reicher Herr, daß er eine Fürläuferin besolden konnte? Und zwei Diener, die ihn stützten? Einen in staubgrauer Seide und einen mit blutiger Leinenkappe? Und hinter dem reitenden Tode lief ein Schwärm von Kindern her wie hinter einem Blatterpfeifer mit lockenden Tönen.
Ein dumpfer Lärm. Doch für Runotter war alles ein kaltes Schweigen. Er bewegte sich wie ein Erwachender. Dann stieß er die Fäuste vor sich hin. »Jula?« Das war ein Laut wie das Röcheln eines sterbenden Tieres. »Wer?«
Mühsam atmend, erschöpft, mit steinernem Gesicht sah Jula den Vater an. »Da — schau — jetzt komm ich heim — — mit dem Jakob.«
Er krampfte die Fäuste in ihre Schultern und rüttelte sie, daß ihre niedergerissenen Haare rieselten. »Wer? Wer? Wer?«
Ihr Gesicht verzerrte sich. »Der Spießknecht, der mich nöten hat wollen.«
Runotter fuhr sich langsam mit dem Arm über die Stirne, und sein Rücken krümmte sich. Da sah er, daß der kleine Tod im Sattel sich auf die Seite neigte — Lampert und Heiner hatten die Riemen und den Knoten der Schärpe gelöst — und Runotter sprang unter keuchendem Laut auf den Rappen zu und umklammerte mit den Armen die kalte, starre Mißform, die sein Kind gewesen.
Schreiend und schmähend drängten viele Leute gegen Lampert hin, und bei ihren Flüchen hoben sie die Fäuste. Andre kreischten auf den Runotter ein. Wieder hörte man jene Frauenstimme schrillen; es war die Stimme der Schwarzeckerin, deren seliger Mann so prachtvoll hatte pfeifen können; sie schrie: »Hast allweil die Jula noch! Die mußt zum Gaden schicken! Aber die Herren, weißt, die haben’s gern linder als auf der Alben. Gib der Jula das Bettzeug mit! Da bist ein Treuer.« Runotter, den toten Krüppel umklammernd, sah über die Gesichter hin wie ein Irrsinniger. Und da fragte ihn der Ältestmann: »So, Mensch, was tust denn jetzt?«
Runotter nickte: »Ich höre schon, ja!«
»So red! Was tust? Gehst mit zum heiligen Zeno?«
Und hundert Stimmen schrien es nach: »Gehst mit? Gehst mit?«
Er sah das vom schwarzen Haar umwuschelte Gesicht seines kalten Buben an. Dann hob er den Kopf, sein Körper streckte sich, und mit langsam gleitenden Augen sah er über das Gewühl der Leute hin.
Wieder schrien viele Stimmen: »Gehst mit? Gehst mit?«
Er sagte: »Mein Leben ist müd. Ich steh im Elend da. Aber mich niederhocken in den Dreck? Das tu ich nit. Ich bleib, wo ein sauberes Hausen ist. Geht euren Weg! Ich such den meinen.« Taumelnd, als wäre der leichte Körper auf seinen Armen eine Last zum Erdrücken, machte Runotter ein paar Schritte, blieb stehen und drehte das entfärbte Gesicht. »Malimmes!« Der Soldknecht stand schon neben dem Bauer. »Tu mir aufpassen auf den Herren da! Der hat —« Ein Würgen kam in seine Stimme. »Der hat meinen Buben reiten lassen auf seinem Gaul.«
Unter dem tobenden Lärm, der entstand, trat Malimmes mit dem blanken Eisen auf Lampert zu. »Flink, Herr! Lang kann ich für Ruh nit bürgen. Die Leut sind als wie von Hornaussen gestochen.«
Lampert, mit dem Zügel in der Hand, machte rasch einen Schritt vor die Hirtin hin. »Jula!« Seine Stimme hatte keinen klaren Laut und war wie das Krächzen eines Halskranken. »Jula! Ich bin nicht, was du mich gescholten hast.«
Sie sah ihn an. Tränen fielen ihr über das entstellte Gesicht herunter. Dann wandte sie sich schweigend ab und ging hinter dem Vater her, zum Hag hinauf, vor dessen geschlossenem Tor mit trägem Schellengerassel acht verstaubte Kühe standen, die geduldig auf Einlaß in ihre Heimat warteten.
Der graue Reiter, barhäuptig, jagte über die Straße hinaus. Geschrei und Flüche waren hinter ihm her. Und Steine flogen, Einer traf ihn an der linken Schulter, daß der Arm aus dem Gelenk gestoßen wurde und schlaff herunterhing.
Es schattete schon im Walde. Doch auf den offenen Wiesen der Strub, da lag die Sonne wieder, goldschön in der leuchtenden Reinheit des Abends.
Nicht weit vor den ersten Häusern von Berchtesgaden jagte Lampert an dem träge kriechenden Zug des Marimpfel vorbei. Die Faust des berittenen Spießknechtes blutete nimmer, seit sie in die Leinenbinde des heiligen Zeno gewickelt war. Auch die vier Leichenträger hatten die verprügelten Köpf e mit Flachs umwunden, der zu Reichenhall gewachsen. Und den flüssigen Stärkungen des gütigen Heiligen hatten sie so reichlich zugesprochen, daß Niederlage und Ärger für sie verwandelt waren in einem schmerzlosen Dusel.
Lampert fühlte beim Anblick dieses Zuges keine Erschütterung irgendwelcher Art. Im jagenden Vorüberreiten stieß er ein heiseres Lachen vor sich hin. Und sprach dabei zwei alte Worte: »Fiat justitia!«