Kitabı oku: «Der Ochsenkrieg», sayfa 9
Als er auf dem Marktplatz an verwundert guckenden Leuten vorbeigaloppierte, klang von einem Erker her der Schrei einer aus Sorge erlösten und doch von Angst bedrückten Mutter. Und es klirrte ein niederfallendes Schubfenster.
Im Hausflur trat Herr Someiner dem Sohn entgegen.
»Viel Zeitung, Vater!« krächzte Lampert unter schneidenderb Lachen. »Der Käser auf dem Hängmoos ist niedergebronnen. Der Sohn des Richtmanns ist erwürgt. Vier Ramsauer sind erschlagen, das Dorf ist in Aufruhr. Wo deine siegelwidrigen Kühe und deine rechtsgetreuen Ochsen sind, das weiß ich nicht. Deine Pfändleut bringen zwei tote Buben.«
Amtmann Someiner war ein großer, stattlicher Herr. Nun plötzlich erschien er kleiner um einen halben Kopf. Er hatte weit aufgerissene Augen und sagte mit schwerer Zunge: »Recht muß Recht sein!«
»Ein halbes Wort, Vater! Vergiß nicht die andre Hälfte: Pereat mundus!«
Etwas Weißes kam sehr schnell aus dem dunklen Treppenschacht heraus.
»Jesus!«
Dieser Schrei, den Frau Marianne emporschickte zum mildesten aller Menschen, hatte nichts mit den Hängmooser Ochsen, auch nicht das geringste mit den fünf Ramsauern und den zwei Gadnischen Hofleuten zu schaffen, die das Atmen verlernt hatten. Dieser Schrei war nur einer Mutter Sorge um ihren Sohn.
Als sie den vor Erschöpfung Wankenden hinaufführte zu seinem Stübchen, sagte er ruhig mit seiner tonlosen Stimme: »Es ist nichts, Mutter! Nichts! Mußt nicht Angst haben. Aber den Medikus brauch ich. Mit meinem linken Arm ist, ich weiß nicht was. Nichts, Mutter, nichts! Bloß heben kann ich ihn nimmer.«
Frau Marianne rief mit schriller Stimme nach ihrem Mann. Der kam nicht. Weil er schon auf dem Wege zu seinem gnädigsten Fürsten war, ohne Stock und Hut. Hinter sich vernahm er Hufschlag und Geschrei von Menschen. Er sah sich nicht um. Was man nicht sieht, ist nicht vorhanden.
Im inneren Stiftshofe, zwischen blauem Schatten und goldroter Abendsonne, waren die Domizellaren mit Herrn Jettenrösch und ein paar andern, noch jungen Chorherren beim Reifenspiel, an dem sich auch drei schlanke, vergnügte Fräulein beteiligten, die das Haar mit grünen Schleiern umwunden trugen.
Der Amtman keuchte die zwei Treppen zum Fürstenzimmer hinauf und befahl dem Diener: »Tu mich melden beim Herren! Sag, es wär in causa boum hengismosianorum.«
Ein großer Raum, vornehm und doch nicht prunkhaft. Fürst Peter Pienzenauer, im weißen Ordenskleide, saß am offenen Fenster, durch das man eine von Gold und Schatten durchwürfelte Ferne, das Haupt des Watzmann mit dem weißen Schneebart und die scharfen Zinken der Watzmannkinder sah. Eine breite Woge der Abendsonne fiel durch das Fenster herein, überleuchtete den Prälaten und warf den Schatten des in tiefer Verbeugung stehenden Amtmanns als schwarzen Kloß auf die rotleuchtende Wand.
»Nun, lieber Ruppert? Was wollen die Ochsen schon wieder?«
»Gnädigster Herr! Da hat sich jetzt eine schieche Sache ausgesponnen. Genaues weiß ich noch nicht. Aber soviel mein Sohn mir da kundgetan —«
Während Herr Someiner weiterredete, zog der Fürst die Brauen immer strenger zusammen. Und der Amtmann hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als der Vogt mit dem Spießknecht Marimpfel erschien.
»Das ist ein übel Ding!« sagte Herr Pienzenauer. »So gehen Eigenmächtigkeiten der Unbesonnenen immer aus. Warum hast du diese einfache Sache nicht so geordnet, Ruppert, wie ich es wünschte? Ich habe dir doch deutlich gesagt, wie es gehalten werden sollte?«
Der Amtmann stotterte: »Aber gnädigster Herr —«
»Schweig!« Der Propst winkte. »Erst soll der andre reden. Wie war’s?«
Marimpfel beschönigte nichts. Das hatte er nicht nötig. Wie der Älteste der Ramsauer, so blieb auch er als gewissenhafter Mensch und verläßlicher Hofmann streng bei der Wahrheit, die er gesehen hatte und beschwören konnte. Und doch bekam die Begebenheit des Tages nun schon ein drittes Gesicht.
Die Pfändung war nach Marimpfels Meinung laut Befehl in strengster Ordnung vollzogen worden. Der Käser geriet in Brand, weil die dürren Schindeln auf den Herd fielen, auf dem noch die siegelwidrigen Kohlen glühten. Ein Hirte, der sich unbotmäßig aufspielte, bekam die verdiente Dachtel. »Ich brauch auch nit verschweigen, Herr, daß ich mit der sauberen Hirtin ein lützel scherzen hätt mögen. Das ist doch Hofmanns recht. Nit, Herr?«
Auf diese Zwischenfrage gab Fürst Peter weder ein Ja noch ein Nein zur Antwort.
Bei heiterem ›Scherzen mit der Hirtin‹ mußte Marimpfel ›so eine breshafte Krot‹, die ihm grob an den Hals gesprungen, von sich abbeuteln. »Der Lausbub hat gleich das Messer gezogen, und ich hab mich wehren müssen meines Leibs.« Und in der Ramsau hielt der Runotter, hinter ihm an die zweihundert Leute, meuterisch die rechtlichen Pfänder auf.
»Der Runotter?« fragte der Propst erstaunt.
»Der, Herr, ja! Arg weit hat er den Brotladen aufgerissen.«
Weil Fürst Peter den Kopf schüttelte, erschien es dem Amtmann als Pflicht, von der Sehnsucht des Runotter nach einem Trunk aus dem eidgenössischen Freiheitskrug zu sprechen. Doch barmherzig verschwieg er dabei des Richtmanns freigeistiges Wort vom Menschen, der sein muß wie er ist.
Und Marimpfel erzählte: »Ist auf mich los und hat mir den Gaul scheu gemacht mit seinem Stecken, daß ich ihn fortschieben hab müssen. Und da haben die Leut ein Schreien angehoben und haben mich einen Lumpenkerl geheißen. Noch allweil hab ich Ruh gehalten. Erst wie der Richtmann auf den Herren geschumpfen hat, da hab ich pflichtmäßig einen Griff nach dem Eisen getan. Hab’s aber nit gezogen, weil ich doch weiß: Der Herr ist lieber gütig als streng. Aber da verschimpft der Richtmann die Pfändung als ein Unrecht, bietet mir, ich soll die Küh vom Strick tun, und der Albmeister weiset mir einen papierenen Wisch —«
»Ruppert?« fragte Herr Pienzenauer.
»Das kann nur der Ochsenbrief gewesen sein!« beteuerte der Amtmann. »Ein ander Siegelrecht ist in matricula sigillorum nicht registriert. Kann sein, die Bauren haben den Hofmann verdutzen wollen.«
»Ja, Herr«, nickte Marimpfel, »so ist mir’s fürgekommen. Und da hab ich —« In aller Aufrichtigkeit wiederholte er jene symbolische Geste. »Ist schon wahr, ich bin ein lützel zornig gewesen. Auf meinen Fürsten kann ich nit schimpfen hören. Also, ich sag noch: Mir ist Recht, was mein Herr gebietet. Und jählings springt mir der Albmeister an den Bauch. Ich wehr mich mit dem Ellbogen. Der Fußknecht, der jetzt im Hof liegt und nimmer reden kann, will mir helfen und fahrt mit dem Spießholz dazwischen. Da droht der Albmeister mit dem deutschen König. Und weil er geblutet hat, ist dem alten Manndl letzt wor den. Und da schreien die Ramsauer Mordio. Und her über uns mit Zaunhölzern und Messern. Und der Richtmann schreit nach einem. Und der springt aus des Albmeisters Haus, mit dem blanken Eisen —« Marimpfel verstummte.
»Nun?«
»Mein gütiger Herr Fürst soll mir verstatten, daß ich um Bluts willen den Namen verschwieg. Ich hab’s nit mögen zu einem schiechen Handel kommen lassen. Und hab Befehl gegeben: ›Hofleut! Durch!‹ Und die Ramsauer hinter uns her, mit Fluchworten und Unflat, mit Holztremmeln und Steinbrocken. Einen Fußknecht und einen Buben haben sie uns totgeschmissen. Jeder von uns hat einen blutigen Wisch abgekriegt.« Marimpfel zeigte die verbundene Faust. »Und derweil wir uns gewehrt haben unsres Leibs und Lebens, sind die Küh zum Teufel. Ein paar aus dem Meuterhaufen sind liegenblieben. Ist schon wahr, Herr, wie die angestochenen Keiler haben wir uns stellen müssen. Aber sechse gegen dritthalb Hundert! Die Ramsauer hätten uns all erschlagen, wär nit durch Gottes gütige Fürsicht der Reichenhaller mit seinen Reitern des Wegs gekommen.«
»Wer?« fragte der Fürst erstaunt.
»Der Propst vom heiligen Zeno. Vor seiner Trumpeten sind die Ramsauer durch. Und Herr Otmar hat uns christlich gesegnet und hat uns in Gütigkeit viel Stärkung und Verbandzeug bieten lassen aus seinem Karren.«
»Oh?« Herr Pienzenauer erhob sich. Bei aller Erregung, die man ihm ansehen konnte, lächelte er seltsam. »Die armen Chorherren von Hall? Und schenken so reich? Da wird man ein höfliches Dankschreiben verfassen müssen.« Er blieb vor Marimpfel stehen. »Hast du die Wahrheit gesprochen?«
Der Spießknecht streckte sich. »Bei meinem Eid und Leben, Herr!«
Fürst Peter nickte. »Man wird deinen Sold erhöhen. Jetzt geh und laß dich pflegen! — Vogt! Man soll die Chorherren zum Kapitel rufen. Gleich!« Als Herr Pienzenauer mit dem Amtmann allein war, ging er schweigend durch die Stube.
Die rote Sonne war erloschen. Das Fenster leuchtete noch als heller Fleck, doch in allen Winkeln des großen Raumes saß schon die graue Dämmerung.
Dem Amtmann begann dieses lange Schweigen höchst unbehaglich zu werden. »Herr —«
Da blieb der Fürst vor ihm stehen, mit den Fäusten hinter dem Rücken. »Mag das jetzt sein, wie es will. Die Ochsen sind erledigt. Jetzt sind andre Dinge da. Ein Dorf in Aufruhr. Unrecht und Mord — so oder so. Und hat sich auf der Salzburger Synode nicht ein Fuchs in ein Schäflein verwandelt, so wird noch Übleres nachkommen. Da muß man vorbeugen. Noch heut in der Nacht. Aber das verstehst du nicht, mein guter Ruppert! Du verstehst nur, daß man jetzt bestrafen und die Exekutierer schicken muß. Und da kann ich dir leider nicht unrecht geben. Ich muß die böse Suppe auslöffeln, die du mir eingebröselt hast.«
Someiner verfärbte sich. »Ich hab mich streng nach dem Wort Euer Gnaden ans Recht gehalten.«
Der Fürst schien in Zorn zu geraten. Doch er sagte ruhig: »Ans Recht? Mag sein. Aber mein Wort? Willst du mich unter die siebzehn einreihen, die nach deiner Meinung statt der siegelwidrigen Kühe auf dem Hängmoos fressen sollten? Hab ich dir nicht auch gesagt, du sollst verständig handeln? Sieben Tote! Ist das Verstand? Sieben Menschen um einen Schüppel Gras! Und alle Folgen dazu! Und so flink hast du das gemacht, daß die junge, gesunde Vernunft, die sich dagegen wehrte, deinen Streich nimmer hindern konnte!«
»Freilich, jetzt«, stammelte der Amtmann, »wo ein unberechenbares Unglück geschehen ist, jetzt kann man leicht —«
Herr Pienzenauer hob den Kopf. »Ruppert, du bist ein unfähiger Mensch! Jetzt hast du es bewiesen. Vermutet hab ich es schon lange. Und weil ich dich im Amte ließ, bin ich heute dein Mitschuldiger. Du hast drei Monate Zeit, um deinen Sohn in die Geschäfte einzuführen. Dann genieße die nötige Ruhe. Deine Bezüge werden dir belassen. Gott befohlen!«
Ein rasch bimmelnder Hall. Auf dem Dach des Stiftes läutete die Kapitelglocke. Und da wußte man im Umkreis einer Stunde, daß Gefahr im Lande war, die schleunigen Rat verlangte.
Als Ruppert Someiner mit schwachen Knien über die von Dämmerung umwobene Treppe hinunterstieg, befiel ihn plötzlich die wunderliche Erinnerung, daß er als Knabe einen großen Apfel auf glühender Ofenplatte gebraten hatte. Der Apfel tanzte und sang sehr hübsch, doch plötzlich, mit starkem Knall, zerplatzte er. Und da machte der kleine Ruppert die überraschende Entdeckung, daß der Apfel große, hohle Samengehäuse hatte, in denen keine Spur von einem Kern zu entdecken war.
Seit mehr als vierzig Jahren hatte Someiner nicht mehr an diesen Apfel denken müssen. Warum gerade jetzt? Die Logik dieser absonderlichen Gehirnblase blieb für Ruppert Someiner unenträtselt, weil sich ihm das Bild des leeren Apfels zu schnell verwandelte in vorwurfsvolle Erbitterung über die Ungerechtigkeit der Menschen, insonderheit der Fürsten.
Als er den Hof durchschritt, keuchte einer in schwarzem Mantel an ihm vorbei. War das nicht der Ramsauer Pfarrherr?
In der farbigen Dämmerung begannen die Glocken auf drei Türmen den Abendsegen zu läuten. Die schön und sanft ineinanderfließenden Töne schwammen als wundersames Friedenslied durch die leuchtende Luft.
Someiner fand sein Haus wie ausgestorben. Das Amt war geschlossen; der Schreiber Pießböcker hatte Hut und Stock seines Vorgesetzten und die Schlüssel hinaufgetragen in die Wohnstube. Obwohl es schon dunkelte, brannte noch eine Kerze. Und der Abendtisch war nicht gedeckt. Und niemand kam, um die Bitterkeit diese gekränkten Mannes mitzufühlen und ihn zu trösten. Den dumpfen Stimmenklang und die hin und her eilenden Tritte über der Decke droben hörte er nicht, vernahm auch nicht das ruhelose Mahnwort des Pendels im alten Uhrkasten: »Bau! — Bau! — Bau!«
Gebeugten Hauptes saß er im Zwielicht des Erkers. Und dicke Zähren tröpfelten ihm über die kalkweiße Nase herunter. Ruppert Someiner war dabei des Glaubens, daß er, als der einzige Weise auf Erden, bittere Tränen vergösse über den Irrsinn des Lebens, in dem, was heiliges Recht war, sich in eine ebenso grausige wie lächerliche Torheit verwandeln konnte.
In Wahrheit war die Sache so, daß Herr Someiner heulte, weil er an die schwindende Ehrerbietung seiner Frau, an den unkindlichen, feindseligen Widerstand seines Sohnes und an seine nahe Schande vor den Menschen denken mußte.
Drei Monate?
»Gab’s auf der Welt eine Ungerechtigkeit, so groß, daß man sie in drei Monaten nicht widerlegen und durch ungebeugte Tüchtigkeit ad absurdum führen konnte?«
Bei diesem Gedanken faßte Herr Someiner den mannhaften Entschluß, von seiner Amtsentsetzung zu schweigen, solange Herr Peter Pienzenauer nicht reden würde.
Auf der glühenden Ofenplatte seines Kummers briet der kleine Ruppert abermals einen großen Apfel ohne Kern.
7
Über dem Runotterhofe hing die laue Sommernacht mit funkelnden Sternen. Das Rauschen der Ache war wie ein gleichmäßiger Murmelsang im Schweigen der Dunkelheit. Aus den Ställen tönte zuweilen das Klirren einer Kette und der murrende Laut eines Rindes. Sonst kein Zeichen von Leben in der Nacht. Die angrenzenden Höfe lagen wie ausgestorben, und vom nahen Leuthaus klang nicht wie sonst das Schreien und Singen trunkener Knechte.
Doch aus Reiter Ferne — von dem nach Reichenhall ziehenden Tal des Schwarzenbaches — war immer wieder ein mattes, wirres, wunderliches Geräusch zu hören. Das klang, wie wenn man Erbsen in einer blechernen Schüssel rüttelt. Es war der ferne Lärm des ›andächtigen Bittganges‹, den alle wegfähigen Mannsleute, Weiber und Kinder von der Ramsau, vom Schwarzeck, vom Tauben- und Hintersee zum heiligen Zeno unternahmen, mit Wehr und Eisen, mit Geld und Vieh, mit Karren und Sack.
Immer leiser, immer ferner klang dieser wunderliche Lärm.
Der regungslose Wächter, der vor dem Hagtor des Runotterhofes auf einem Grasbuckel saß, mit dem Bidenhänder über den Knien, mußte immer schärfer lauschen, um noch einen matten Hall dieses erlöschenden Lärms zu vernehmen. So oft er das leise Gerüttel der Erbsen in der Blechschüssel hörte, war in ihm die Frage: Ist die Mutter mitgezogen, oder hat sie bleiben müssen, und hat man auch bei ihr einen halbwüchsigen Buben zurückgelassen mit einem versteckten Sparpfennig, mit einer milchenden Geiß, mit einer legenden Henne, mit Mehl und Schmalz und Salz?
Lautlos kam ein Mensch von der Straße heraufgesprungen, man sah von ihm in der Dunkelheit nur einen Schimmer des weißen Wundverbandes, der um den Kopf gewickelt war. Eine flüsternde Stimme: »Der Pfarrherr ist nit zu finden. Vor der Widumstür, da liegen die vier erschlagenen Leut. Allweil hab ich gepochet an der Tür. Aber niemand hat aufgetan. Der Pfarrherr —«
»Der ist beichten gegangen. Aber nit zum heiligen Zeno!« Malimmes lachte kurz. »Jetzt wissen die Herren im Gaden, wie andächtig heut in der Nacht die Ramsauer wallfahren.« Einen Augenblick besann er sich. »Geh hinein und sag dem Bauren, daß er auf den Pfarrherrn nit warten braucht. Sag, der Pfarrherr war davongelaufen. Sonst sag kein Wörtl! Verstehst?«
»Wohl.«
»Nachher sag, daß du letz bist und schlafen mußt. Und tu deinen Lederküraß an, und nimm dein Eisen. Und geh hinauf zu dem Schlupf hinter dem Gärtl droben, wo wir am Abend die Gäul hinausgetan haben. Über dem Hag draußen, gleich in den ersten Stauden links, da liegt des Bauren Wehrzeug. Und Gewand und Wehr von des Bauren Bruder liegt dabei, der jung hat sterben müssen. Und ein lederner Waldsack, der ein lützel schwer ist. Das alles mußt du aufnehmen. Und trag’s hinüber zum Hirscheneck beim Windbach, wo die andern mit den Gäulen sind. Und jetzt leg deine Hand in die meinig! Willst du treu sein, Heiner?«
»Wohl!«
»So geh! Und laß den Bauer nit merken, was geschieht!«
Als der Bub in den Hof schlüpfte, knarrte das Hagtor ein bißchen.
Malimmes setzte sich wieder auf den Rasenbuckel hin. Er lauschte über die nach Berchtesgaden führende Straße hinaus. Da war nur das dumpfe, hinter dichtem Wald versunkene Rauschen des Windbaches zu hören. Dann lauschte er nach Westen gegen den Schwarzenbach. Und da konnte er von Zeit zu Zeit noch immer dieses ferne Klirren vernehmen, dieses dünne Erbsengerüttel in einer Eisenschüssel.
Plötzlich drehte Malimmes das Gesicht gegen den Hag. Er lachte leise. »Du Gänsl, du dummes! Bist du noch all weil da?«
Keine Antwort. Doch eine Weibsgestalt löste sich grau von dem schwarzen Zaungeflecht.
»Maidl, jetzt muß ich grob werden!« sagte Malimmes ernst. »Bleibst du noch länger, so könnt ein schieches Ding über dich herfallen. Schau, daß du deinen Heimleuten nachkommst!«
Eine zerdrückte Mädchenstimme: »Ich bleib, wo du bist.«
Malimmes schien ärgerlich zu werden, wandte das Gesicht und lauschte gegen die Gadnische Straße hinaus.
Das Mädel beugte sich zu ihm hinunter. Ein sehnsüchtiges Dürsten war in der leisen Frage: »Tust mich denn gar nit mögen?«
Er lachte ein bißchen und legte den Bidenhänder fort. »So komm halt!« Mit beiden Händen faßte er das Mädel und zog es auf seinen Schoß. »Wer weiß, ob wir morgen noch warmes Blut im Leib haben.« Sie hatte schon seinen Hals umklammert, und seine Worte erstickten unter ihren gierigen Küssen. »Aber schau, Maidl, ich weiß noch gar nit, wie du heißt?«
»Traudi.«
Da mußte er wieder lachen. »Ich trau mich schon.«
Ein Stoß des wechselnden Nachtwindes fuhr durch das Bachtal her, die Ulmen an der Straße rauschten, und deutlicher klang der dumpfe Wasserlärm des Windbaches. Dann wieder die Stille mit dem sanften eintönigen Lied der Ache. Und immer waren zwei murmelnde Menschenstimmen zu hören, die wie müdes Summen vom Haus herüberklangen über den Hag — weil der Pfarrherr nicht gekommen war, sprachen Vater und Schwester für den toten Jakob den christlichen Seelentrost. Sie beteten lange. Nun verstummten sie.
»Guck Maidl«, sagte Malimmes wie ein Erwachender, leise und heiter, »so schiech ist keine Lebensstund, daß sie nit noch ein Bröselein Süßigkeit haben könnt! Aber paß auf, jetzt mußt du auch tun, was ich schaff.«
»Alles, Bub!« Sie umklammerte ihn.
»Laß luck ein lützel!« Er suchte in seiner Tasche. »Da hast du fünf güldene Pfennig. Tu’s nit verlieren, gelt! Und jetzt lauf die Straß hinaus zum Taubensee! Wenn du viele Reiter kommen hörst, so tu nit erschrecken. Ich glaub, die reiten zum Schwarzenbach. Eh sie dich einholen, birg dich in den Stauden. Und sind sie vorbeigeritten, so lauf wieder. Weißt du des Mareiners Haus?«
Das Mädel nickte an seinem Hals.
»Kann sein, das Haus ist leer. Kann sein, ein altes, müdes Weibl ist da. Dem steck zwei güldene Pfennig in jeden Strumpf. Sag, die tät ihr einer schicken, der am Zäunl gestanden. Sonst tu kein Wörtl reden, nit von dir und nit von mir! Und mach dich wieder davon!«
»Aber —«
»Was?«
»Der ander Pfennig?«
Er küßte sie auf die Wange. »Den heb dir auf! Von mir.«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das nit! Darfst mir alles tun! Das nit!«
Malimmes lachte. »Da mußt mir halt den überschichtigen Pfennig wieder bringen.«
»Wann?« Das Mädel schmiegte die Wange an seinen Hals. »Und wo?«
»Wenn’s tagen will, kannst hinter dem Schwarzeck droben warten, auf dem Steig zum Hängmoos. Kann sein, ich komm. Kann auch sein, daß ich ausbleib. Da brauchst mich nimmer suchen.«
Das hatte er ruhig gesagt. Und dennoch fing das Mädel, von dunkler Angst befallen, an seinem Hals zu zittern an.
»Flink! Tu folgen!« Er packte sie fest, stellte sie auf die Füße und stand selber auf. »Mach weiter! Ist nimmer viel Zeit.«
Sie küßte ihn und suchte mit den Lippen die böse Narbe. Und flüsterte: »Wirst sehen, das heilet wieder. Ganz. Und da bist du der Schönste von allen.«
Er gab ihr lachend einen Schlag auf die dralle Schattenseite. »Spring jetzt! Flink!«
Traudi rannte davon und kam zurück. »Wenn aber das alte Weibl nimmer da ist?«
Eine Weile schwieg er. Dann sagte er hart: »Da tu, was du magst!« Er hob den Bidenhänder aus dem Gras und lauschte gegen den Windbach.
Hinter dem Leuthaus verhallte das flinke Schuhgeklapper des Mädels.
Nun wieder die ruhige Nacht mit dem eintönigen Wellengesang im schwarzen Tal und mit den funkelnden Sternen in der stahlblauen Höhe.
Nach dem Stande dieser weisenden Himmelslichter mußte Mitternacht schon lange vorüber sein.
Da streckte sich Malimmes.
Er hatte vom Windbach her ein Geräusch vernommen, wie wenn ein starker Brunnenstrahl auf einer hölzernen Kufe trommelt. Rasch verstärkte sich dieser Lärm und wurde zu einem Pochen von hundert eisernen Hämmern.
Malimmes trat in den Hof, drückte das Tor zu und schob die zwei schweren Sperrbalken in die Zwingen. Mit ruhiger Hand bekreuzte er das Gesicht, zog den Bidenhänder blank und hakte die Lederscheide wie einen Gürtel um die Hüfte.
Das Gehämmer dieser vielen Hufe kam immer näher, ohne seinen wirren Takt zu verlangsamen.
»Es stimmt. Das geht vorbei. Die reiten zum Schwarzenbach.«
Durch das Schuberloch des Tores guckte Malimmes auf die Straße hinunter. Nun kam’s. Und das war wie ein langer, schwarzer, flinker, vielfüßiger Nachtdrache, der hurtig seine Ringe schob und die Stacheln seines Rückens auf und nieder zucken ließ. Nun tauchte das Ungeheuer, das aus der Finsternis gekommen, in die Finsternis hinein.
Kamen bis in einer halben Stunde die flüchtenden Ramsauer auf ihrem andächtigen Bittgang nicht so weit, daß der schützende Mantel des heiligen Zeno sie umhüllte — dann wird dieser eisenschuppige Drache seinen Durst an ihnen stillen und Blut saufen.
Das waren an die vierzig Reiter gewesen. So viele berittene Soldknechte unterhielt das Stift zu Berchtesgaden nicht. Es mußten auch die Domizellaren, die jüngeren Chorherren und die wehrhaften Bürgersöhne mit ausgeritten sein.
Das Gehämmer der vielen Hufe klang schon wieder wie das Getrommel eines starken Brunnenstrahls auf einer hölzernen Wanne, wurde schwächer in der Ferne und versank im Rauschen der Ache.
»Jetzt noch ein Stündl. Und die Raubleut kommen.«
Malimmes schloß am Hagtor den Guckschuber, verwahrte den Bidenhänder in der Scheide und ging zum Haus hinüber.
Aus den offenen Fenstern der großen Stube quoll ein trüber, zuckender Schein in die Nacht heraus. Der kam von den Talglampen, die neben dem Totenbrett des Haussohnes brannten. Und diesen Schein durchwirbelte der dünne, scharf duftende Rauch der Wacholderzweige, die zu Füßen des Toten in einem Kohlenbecken brannten.
Lautlos trat Malimmes zu dem Fenster, das neben der Haustür war, und spähte in die Stube. Den Jakob, dessen Totenbrett auf der Erde lag, konnte er nicht sehen. Er sah nur den Qualm der Talglampen und die züngelnde Wacholderflamme, in der die brennenden Nadeln wie weißglühende Sternchen flogen. Und hinter diesem Schleier von Rauch und Licht gewahrte Malimmes die zwei schweigenden Menschen auf der Ofenbank. Runotter saß gebeugt, mit den Fäusten auf den Knien, und das niederhängende Grauhaar umhüllte sein Gesicht mit dunklem Schatten. So saß er regungslos. Nur manchmal hoben sich seine Schultern unter einem schweren Atemzug.
Jula, deren Arme schlaff herunterhingen, hielt den Kopf an den Ofen gelehnt. Die langsam gleitenden Augen suchten im Leeren. Diese Augen waren heiß und trocken. Doch in der Blässe des versteinerten Gesichtes waren graue Striche, die vom Lampenruß beschmutzten Wege der eingedorrten Tränen.
Immer machte Malimmes heimliche Zeichen zu ihr hin. Ihre irrenden Augen blieben blind. Und einmal, als Malimmes schon glaubte, sie hätte ihn gesehen, beugte sie sich nieder und legte einen frischen Wacholderzweig in die Glutpfanne.
Das junge Feuer prasselte, und den wehenden Rauch durchflogen die blitzenden Sternchen.
Mühsam atmend hob Runotter das Gesicht.
»Geht nit die Nacht schon dem Morgen zu?«
»Ich weiß nit, Vater!«
Er sah sie an. Lange schwieg er. Dann sagte er langsam: »Geh, Kind, und such deine Ruh! Für dich ist morgen auch wieder ein Tag.«
»Laß mich bleiben!«
»Wär das erstemal, daß du deinem Vater nit recht geben tätst.«
Jula stand auf.
Und Runotter sagte: »Schau, Tod ist Tod, und Leben muß Leben sein. Und mir ist wohler, wenn ich weiß, daß du ein lützel Ruh hast.«
Sie nickte.
Lange blieb sie neben der sternigen Wacholderflamme stehen und sah auf die Erde hin. Dann ging sie zum Tisch — und kam zurück — und mit einer plumpen Schere schnitt sie an den Schultern ihre beiden Zöpfe ab. Sie beugte sich nieder und legte das schöne Haar wie eine Opfergabe auf die Füße des Bruders.
Runotter hatte wehrend die Hand gestreckt. Er ließ sie fallen und schwieg.
Während Jula sich aufrichtete, bekreuzte sie Gesicht und Brust. »Morgen, Vater!« Sie ging zur Türe.
Malimmes stand schon im Hausflur. Als Jula kam, machte er ein Schweigzeichen, faßte sie bei der Hand und zog sie hinaus in die Nacht und gegen den Wiesgarten hin.
Die alten Ulmen, die das Haus dach überwölbten, rauschten leise im lauen Wind. Von den Gartenblumen war ein zarter Wohlgeruch in der Nacht, der sich mischte mit dem herben Wacholderduft an Julas Kleidern.
Ketten rasselten in den Ställen, und zwei Kühe fingen zu brüllen an. Hatten sie den Schritt der Hirtin vernommen und erkannt? Oder brüllten sie nur, weil sie müde waren und ziehende Euter hatten?
In der schwarzen Dunkelheit, in der die matt erleuchteten Fenster wie verweinte Augen hingen, lauschte und spähte Malimmes nach allen Seiten, während er noch immer Julas Handgelenk umklammert hielt.
Sie fragte: »Mensch, was tust du?«
»Meinen Dienst als guter Knecht, der seinen Herren aus dem Elend lupfen will.«
Sie fragte in der Verstörtheit ihres Schmerzes: »Kannst du lebig machen, was tot ist?«
»Das nit.« Malimmes sprach leise und ruhig. »Aber man kann beim Leben halten, was noch schnauft. Hinter dem Tod ist die Seligkeit. Aber was vor dem Sterben noch im irdischen Gärtl steht, ist auch nit schlecht. Ich sag: Der Herrgott soll dem toten Buben meines Herren gnädig sein, aber meinem Herren und seinem schnaufenden Kind soll er Gut im Leben erweisen. Gott ist allmächtig. Aber der Mensch muß mithelfen. Sonst mag der Herrgott nit. Am liebsten hilft Gott dem Stärksten. Drum hab ich ein lützel fürgesorgt —«
Mit erstickten Lauten unterbrach ihn Jula: »Seit dem Abend hast du heimlich getrieben, ich weiß nit was. Der Vater hat nit sehen und hören können. Ich hab geschwiegen. Weil alles andre minder ist als meines Vaters Weh. Aber dir muß ich sagen —« Sie verstummte.
»Sag’s«
»Du hast meines Vaters Wehr und Eisen heimlich vertragen. Ich muß mich sorgen, ob du ehrlich bist?« Sie hörte einen Laut, der wie ein Kichern war und befreite in Zorn ihre Hand.
»Mußt nit harb sein, Haustochter!« Seine Stimme bekam einen Klang von zarter Herzlichkeit. »Ich bin halt so, daß ich allweis ein lützel lachen muß, wo ein Wehleidiger heulen möcht. Ich glaub, wenn ich sterb einmal, das wird ein Stündl wie die letzte Narretei in der Fasnacht. Aber wahr ist’s, ich hab deines Vaters Wehr vertragen. Noch schlechter! Ich hab deines Vaters Mägd verjagt, die dummen Gans, hab deines Vaters Mannsleut fortgeschickt, hab deines Vaters Gaul verschleppt, bin ein Spitzbub worden und hab deines Vaters schweren Sparbinkel heimlich aus dem Bodenloch gehoben, das ich ausgekundet hab. Dir sag ich’s. Hätt’s dein Vater gemerkt, so tat er’s machen, wie die Herren im Gaden und tät mich des Unrechts zeihen, derweil ich recht tu.«
»Mensch?«
»Erst laß mich alles sagen. Ein halbes Stündl ist noch Zeit —«
»Zeit?«
»Bis die Raubleut kommen. Hast du die Reiter, die zum Schwarzenbach sausen, nit traben hören?«
»Der Vater hat’s nit gemerkt.«
»Die andern, die füßlings kommen, wird er merken. Mußt nit erschrecken! Solche Händel hab ich schon viel erlebt, bald als Prügel und bald als Buckel. Die Herren kenn ich. Die Knecht noch besser. Und schau — Aber magst dich nit niederhocken ein lützel? So viel zittern tust!«
»Ich steh. Red zu!«
»So schau! Da drunten auf der Straß, wo der Seppi Ruechsam gelegen ist, da hab ich deinem Vater recht gegeben. Treu ist ein feines Ding. Aber die Herren haben jetzt nit die Augen dafür. Die andächtigen Ramsauer und ihr flinker Pfarrherr haben deines Vaters sauberen Boden vermistet. Und am Abend hab ich deinem Vater sagen müssen: ›Bauer, fort mußt!‹ Er hat den harten Kopf geschüttelt: ›Ich bleib und tu meinen Buben in geweihten Boden, und morgen geh ich zum Fürsten und hol mein Recht.‹«
»So muß der Vater tun.«
»Aber der Pfarrherr ist davongelaufen. Und beichtet den Herren, wie andächtig die Ramsauer sind. Und dein Vater wird morgen nit zum Fürsten gehen, weil der Fürst zu deinem Vater kommt, jetzt, in der Nacht. Nit selber. Fürsten schicken ihre Knecht, wenn der Weg ein harter ist. Und da wird dein Vater morgen keiner sein, der gekommen ist, sondern einer, den man geholt hat. So einer hat’s nit gut. Das Leben ist diesmal ein spaßig Ding. Dem Lämmlein in der Einschickt geht’s allweil härter als dem Fuchs unter hundert Wölfen. Wär dein Vater so andächtig auf die Wallfahrt gelaufen wie die Ramsauer, da tät er bei Landsverrat seines Lebens sicherer sein als jetzt, wo er redlich und treu geblieben.«
Jula schüttelte stumm den Kopf und preßte die Stirn auf ihre Fäuste.
»Schau! Dein Vater hat einen Mangel wie die Sonn, von der die Blinden sagen, sie wär im Winter zu kühl und im Sommer zu hitzig. Dein Vater ist so übermäßig redlich, daß ihm die Mißtrauischen das nimmer glauben. Einer, dem man das Weib genommen? Einer, dem man das Kind erschlagen? Einer, vor dem die Herren sich schämen und fürchten müssen? Wie sollen die Herren von dem noch glauben können: Der ist treu? Tatst du das glauben? Ich nit. Wie wahrhafter dein Väter vor dem Fürsten reden wird, um so hinterlistiger und verlogener wird’s für die Herren ausschauen. Alles Übermaß im Leben ist von Übel. Auch beim Guten. Die Heiligen, eh man ihnen das Kerzl angezunden, sind doch allweil geschunden worden. Ein Heiliger braucht dein Vater nit werden.«