Kitabı oku: «Theologie des Neuen Testaments», sayfa 8

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Die Botschaft von der Gottesherrschaft und das Vertrauen auf ihre unmittelbare Nähe und Präsenz verwandeln die Gegenwart vor allem im Alltag der Menschen. Hier wird ein weiteres Spezifikum der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu berührt. Die Königsherrschaft ereignet sich im Alltag einfacher Leute. Das kommt in den Jesusworten zum Ausdruck, die einen veränderten Umgang mit alltäglichen Herausforderungen wie Armut und Tod thematisieren.

Q 6,20/Mt 5,3: Selig, ihr Armen, denn euch gehört die Königsherrschaft Gottes.

Q 9,60: Lasst die Toten ihre Toten begraben.

Lk 9,62: Keiner, der die Hand an den Pflug legt und blickt zurück, taugt für die Königsherrschaft Gottes.

Als Arme im Sinne derjenigen, die von der Teilhabe an gesellschaftlicher Macht und Reichtum ausgeschlossen sind, versteht sich in der Antike die Mehrheit der Bevölkerung, die sogenannte Nicht-Elite, die etwa 97–99 % der Bevölkerung ausmacht.23 Die Königsherrschaft ist also nicht an der Wiederherstellung einer hierarchischen Gesellschaftsordnung interessiert, sondern an den einfachen Menschen und ihren Erfahrungen, wie Familienritualen oder Landwirtschaft. Diese Orientierung am Alltag wird deutlich an den Metaphern, die für das Reich Gottes verwendet werden: dem Senfkorn und dem Sauerteig.

Q 13,18 f.: Wem ist das Reich Gottes ähnlich, womit soll ich es vergleichen? (19) Es ist wie ein Senfkorn, das ein Mann in seinem Garten in die Erde steckte; es wuchs und wurde zu einem Baum und die Vögel des Himmels nisteten in seinen Zweigen.

Q 13,20 f.: Außerdem sagte er: Womit soll ich das Reich Gottes vergleichen? (21) Es ist wie der Sauerteig, den eine Frau unter einen großen Trog Mehl mischte, bis das Ganze durchsäuert war.

Das Doppelgleichnis thematisiert die Lebenserfahrungen von Frauen und Männern, um in den Alltagserfahrungen den Kontrast zu verdeutlichen, den die Königsherrschaft mit sich bringt. Die Königsherrschaft Jesu wird in Bildern des Alltags und unter Verzicht auf Aussagen, die an Erfahrungen von glanzvoller Herrschaft und Majestät anknüpfen, geschildert. Während etwa Ps 145 von dem Glanz, der Hoheit, der Macht und Stärke der Gottesherrschaft in Analogie zum orientalischen Herrscher spricht, wählt Jesus von Nazareth Bilder aus dem Alltag einfacher Menschen. Ihre Lebenswelt wird in Beziehung zum Schöpfer gestellt, ohne dass dieser zugleich als der majestätische Herr der Geschichte dargestellt wird. Dunn hebt hervor, dass Jesus zwar von der Königsherrschaft spricht, niemals aber explizit die Aussage mache, dass Gott ein König sei.24

In Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft reflektiert sich keine gesellschaftliche Elite wie etwa in den Psalmen Salomos, die ihre Möglichkeiten zur Teilhabe an der Macht in der Sprache der Religion und mit der Vorstellungswelt der Königsherrschaft Gottes ausweiten möchte. Es ist vielmehr die Erfahrung des jüdisch-palästinischen Alltagslebens, die hier in Beziehung zu Gott gebracht wird. Die Art und Weise, wie diese Erfahrungen thematisiert werden, sind nun aber nicht pastoral idyllisch, sondern dynamisch.

Die Dynamik der Gottesherrschaft ist dabei nicht einseitig von oben, von Gott her, zu denken. Die Reich-Gottes-Bitte des Vaterunsers bittet um das „Kommen“ der Gottesherrschaft, ja drängt auf ihr Kommen. Man fragt Jesus, „wann sie kommt“ (Q 17,20 f.). Die Gottesherrschaft wird gesucht (Q 12,31), man „drängt in sie mit Gewalt hinein“ (Q 16,16). Nur die Pharisäer „gehen nicht hinein“ und versuchen, die Tür zu ihr zu „verschließen“ (Q 11,52). Doch den „Armen“ ist sie zugesagt (Q 6,20). In der Gottesherrschaft wird der Kleinste größer als der in dieser Welt herausragende Johannes der Täufer sein (Q 7,28) und die Menschen, die von „Osten und Westen“ kommen, womit wohl die Zusammenführung der jüdischen Diaspora oder gar die Inklusion der Nichtjuden gemeint ist, werden dort mit den Erzvätern zum Mahl liegen (Q 13,28). Diese Gottesherrschaft ereignet sich in den Heilungen und Dämonenaustreibungen, die nicht nur Jesus, sondern auch seine Anhänger durchführen (Lk 10,9/Mt 10,8). Die Mahlgemeinschaften Jesu sind offen für Anhänger, Gegner und Marginalisierte der Gesellschaft („Zöllner und Sünder“). Diese Mahlgemeinschaften nehmen bereits jetzt, in der durch die ereignishafte Präsenz der Gottesherrschaft veränderten irdischen Gegenwart das eschatolgische Mahl vorweg, von dem in Q 13,28 f./Mt 8,11 f. und in Lk 22,29 f. die Rede ist. Dort wird man „mit Abraham, Isaak und Jakob im Reich Gottes zu Tisch sitzen“ (Q 13,28). Die Mahlgemeinschaft ist auch das Thema des Gleichnisses vom „großen Gastmahl“ (Q 14,16–24), das sich allerdings im Wortlaut der Logienquelle nicht sicher rekonstruieren lässt. Hier ist die Gottesherrschaft mit einer dramatischen Mahlvorbereitung verglichen, die zunächst erfolglos erscheint, weil die Geladenen absagen, und dann durch eine überraschende Wende, die Einladung der Menschen von der Straße, doch noch glückt.

Die Theologie der Gottesherrschaft verzichtet bei ihrer Gottesvorstellung auf Attribute, mit denen antike Herrscher ihre Macht und ihre Majestät zum Ausdruck bringen, sondern greift die Eigenschaften des fürsorglichen Schöpfers auf. Die Welt ist vor allem Alltag. Alltags- und Naturvorgänge werden zu Grunde gelegt. Dieser Alltag steht nun im Horizont des Kommens der Gottesherrschaft und wird zu einem Alltag, der neue Erfahrungen ermöglicht. Der Mensch ist als Mann und Frau vorgestellt. Sie führen ein Leben, das durch Landwirtschaft, Dorfleben und Armut geprägt ist. In dieser Welt ist die Gottesherrschaft präsent, indem sie sich durch Heilungen und Dämonenaustreibungen Raum schafft und in inklusiven Mahlfeiern Gemeinschaft ermöglicht.

3.4Ethik der Königsherrschaft

Die Orientierung der Gottesherrschaft auf den Alltag einfacher Frauen und Männer ist die unverwechselbare Besonderheit der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu. Sie verzichtet auf Aussagen, die sich an gesellschaftliche Hierarchien anlehnen oder die Elitenkonstruktion des judäischen und galiläischen Judentums positiv aufnehmen, indem Repräsentanten der Elite wie Richter, Priester, Mitglieder der hohepriesterlichen oder herodianischen Familie als fürsorgliche Eliterepräsentanten thematisiert werden. Jesus folgt darin der Tradition der biblischen Armentheologie, die vom Ergehen der Frommen und Gerechten angesichts einer Gesellschaft, in der andere Kriterien wie Gewalt, Macht und Ansehen den Ausschlag geben, berichtet. Diese Grundentscheidungen in der Reich-Gottes-Verkündigung wirken sich auch auf die ethischen Forderungen Jesu aus.

Die Ethik Jesu ist in Bildworten gefasst. Das Bildwort ist eine Form der uneigentlichen Rede. Es sagt etwas im Bild, meint aber in der Sache etwas anderes. Das Gesagte (gr. rhema; ῥῆμα) wird auf einen bekannten Sachverhalt bezogen (gr. thema; θέμα), um eine neue Aussage zu machen. Bildworte arbeiten sprachlich an Wirklichkeitswahrnehmungen und Erfahrungen, um sie zu beeinflussen, zu verändern und für neue Wirklichkeitswahrnehmungen und Erfahrungen aufzuschließen. Bildworte haben demnach eine reflexive Struktur und bieten denjenigen, die sich ihrer Botschaft aussetzen, eine selbstreflexive Haltung an. Die Bildworte Jesu wollen für die Wirklichkeit der Gottesherrschaft aufschließen, indem sie die Reflexion der Wirklichkeit einfordern und die Adressaten zur Selbstreflexion nötigen.

Q 6,41 f.: Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht? (42) Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: „Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen!“ – und dabei steckt in deinem Auge ein Balken? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.

Das Logion wählt mit „Bruder“ die gebräuchliche Anrede für jeden jüdischen Mitmenschen im Dorf oder in der städtischen Nachbarschaft. Dadurch ist die gesellschaftliche Wirklichkeit präsent. Die übertriebene Divergenz zwischen Splitter und Balken im Auge dient der rhetorischen Provokation, die keine Relativierung der Problemstellung zulässt. Das Problem wird als Spannung zwischen scheinbar richtiger Fremdwahrnehmung und offensichtlich falscher Selbstwahrnehmung entwickelt, um letztere zu korrigieren und zu ermöglichen, dass man dem Bruder gegenüber angemessen handelt. Ein solches Bildwort, das zur Korrektur der Selbstwahrnehmung drängt, lässt sich nicht ohne den Verlust an Anschaulichkeit und Erfahrungsgehalt in eine abstrakte Aussage übersetzen. Nur als Bildwort behält die Aussage ihre rhetorische Prägnanz und kognitive Wirkung.

Die Überzeugungskraft der ethischen Forderungen Jesu ist an ihre Anschaulichkeit und an die von seinen Bildworten aufgerufenen gesellschaftlichen Wirklichkeiten gebunden. Jesus gelingt es aber gerade durch die teilweise exzentrischen Übertreibungen, die ethische Aussage von ihrem konkreten Kontext zu lösen und ihr eine von diesem unabhängige Überzeugungskraft zu geben. Kein Mensch muss jemals einen Splitter aus dem Auge eines anderen entfernt haben, um die Aussage auf sich beziehen zu können.

Die Aussagen Jesu, die ethische Bedeutung haben, sind schnell zusammengestellt. Beginnen wir bei dem Material, das in der Bergpredigt enthalten ist. Die Seligpreisungen sprechen mit dem „selig“ oder besser übersetzt mit „Wohl dem“ (gr. makarios; μακάριος; hebr. aschrej; אשרי), diejenigen an, die im Horizont der Königsherrschaft vom Rand in die Mitte gerückt werden: die Armen, die Hungernden und die Weinenden (Q 6,20b.21). Die hohe Bedeutung dieser Aussagen regte zu Erweiterungen und Fortschreibungen an, die die jesuanischen Aussagen durch weitere Vorstellungen der jüdischen Armenfrömmigkeit anreicherten. Die Tradition ergänzt bald aufgrund der Verfolgungserfahrungen der ersten Gemeinden die Seligpreisung der „Verfolgten“ (Lk 6,22/Mt 5,11 f.). Die matthäische Tradition überliefert eine Komposition von neun Seligpreisungen (Mt 5,3–12) und Lukas kontrastiert die vier Seligpreisungen mit vier komplementären Weherufen gegen die Reichen, Satten, Lachenden und Angesehenen (Lk 6,24–26). Die Bezeichnung der „Armen“ lässt sich nicht auf die sogenannten „Bitterarmen“ oder „absolut Armen“ beschränken. Die oft aufgestellte Behauptung, dass das Griechische ptochos (πτωχός) diese kleine Gruppe der materiell absolut Armen bezeichne, ist falsch, wie die Durchsicht der synonymen Verwendung des Begriffs im Septuagintapsalter zeigt. Die „Armen“ (ptochos in der LXX überwiegend für hebr. ani; עני) und „Elenden“ (gr. penes; πένης in der LXX überwiegend für hebr. ebijon; אביון) bezeichnen beide in der Tradition der biblischen Armenfrömmigkeit diejenige Personengruppe, der die Fürsorge und Barmherzigkeit Gottes in besonderer Weise gilt. Diese „Armen“ sind von der Mitwirkung an der gesellschaftlichen Macht und Ressourcenverteilung ausgeschlossen und gehören zur Nicht-Elite, die 97–99 % der Bevölkerung ausmachen.25 Ihnen spricht Jesus die Fürsorge Gottes bedingungslos zu und ihnen hat die Fürsorge der Menschen zu gelten, wie etwa das Gleichnis vom großen Gastmahl unterstreicht, wenn es fordert, „geh hinaus auf die Straßen und welche auch immer du findest, lade sie ein!“ (Mt 22,1–14; Lk 14,15–24).

Die stilistische Gestaltung der Antithesen geht wahrscheinlich auf den Evangelisten Matthäus zurück.26 Die Unterscheidung von sogenannten primären und sekundären Antithesen, auf die etwa Schnelle sich beruft, wenn er die 1. (vom Töten; Mt 5,21 f.), 2. (vom Ehebrechen; 5,27 f.) und 4. (vom Schwören; 5,33 f.) Antithese als primäre Antithesen Jesus selbst zuweist und als Überbietung der Tora interpretiert, ist nicht überzeugend zu belegen.27 Die Gegenüberstellung von „Ihr habt gehört, was den Alten gesagt wurde“ und der rhetorisch eindrucksvoll mit „ich aber sage euch“ eingeleiteten These ist selbst bei Matthäus Ausdruck der Auseinandersetzung mit Torainterpretationen, nicht aber der Torakritik. Unumstritten ist allerdings, dass sich der materiale Gehalt der Thesen auf Jesus zurückführen lässt und als Einzelsprüche (z. B. Mt 5,32/Lk 16,18) oder als Teil von kurzen Redekompositionen (Q 6,27–36) überliefert worden war.28

Jesus thematisiert in diesen Aussagen der Antithesen das Vorfeld des eigentlichen Gebots. Nicht nur die Tat selbst, sondern die der Tat vorausgehende Haltung wird in die ethischen Überlegungen miteinbezogen: Nicht nur das Töten ist verboten, sondern bereits das Zürnen, das zum Tötungswunsch führen kann, hat zu unterbleiben und an seine Stelle solle die Versöhnungsbereitschaft treten (Mt 5,22–26; Lk 12,57–59). Nicht nur der Ehebruch, sondern bereits das willentliche Begehren ist gegen Gottes Willen (Mt 5,28–30/Mk 9,43.47 f.). Der Scheidebrief ist Ausdruck der Unbarmherzigkeit des Mannes, der die Frau durch ihre Entlassung zum Ehebruch nötigt (Mt 5,31 f.; 19,9/Mk 10,2–12/Lk 16,18). Das Schwören setzt die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge voraus, da man beim Schwören nur das ausspricht, was gerichtsfest ist (Mt 5,33–37/Jak 5,12). Es bereitet demnach die Unehrlichkeit vor und soll deswegen ganz unterbleiben. Mit diesen Aussagen ist der Blick auf die innere Haltung des Menschen gerichtet, die in den Aussagen der Antithesen 5 und 6 in den Mittelpunkt rückt: Vergeltungsverzicht und Feindesliebe. Die beiden Themen waren in der ältesten Jesusüberlieferung unmittelbar miteinander verbunden und Bestandteil der Rede über die Feindesliebe in der Logienquelle (Q 6,27–30).29

Q 6,27–30: Liebt eure Feinde (28) und betet für die, die euch misshandeln. (29) Dem, der dich auf eine Wange schlägt, halte auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd. (30) Gib jedem, der dich bittet, und von dem, der geborgt hat, verlang es nicht zurück.

Jesus führt hier Überlegungen der Diskussion um das Liebesgebot weiter. Die Nächsten- und Fremdenliebe ist Teil der jüdischen Ethik (Lev 19,18b.33 f.). Jesus weitet die Grenzen der barmherzigen und fürsorglichen Liebe aus. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter fordert er Nächstenliebe gegenüber dem Fremden und Fernen ein, indem er einen Samariter als vorbildlich, fürsorglich und barmherzig gegenüber einem mit ihm eigentlich verfeindeten Juden darstellt (Lk 10,30–35). Diese Fremden- und Fernstenliebe ist Ausdruck der jesuanischem Interpretation der sogenannten „goldenen Regel“:

Lk 6,31/Mt 7,12: Wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun, so tut auch ihr ihnen.

Der besondere Akzent des erweiterten jesuanischen Verständnisses des Liebesgebots wird hier bereits angedeutet. Am deutlichsten kommt es in der Frage nach dem Umgang mit dem Feind zum Ausdruck. Der Umgang mit dem Feind (gr. echthros; ἐχθρός) ist bereits in der Hebräischen Bibel thematisiert:

Ex 23,4 f. (LXX): Wenn du das verirrte Rind deines Feindes oder seinen Esel antriffst, sollst du sie ihm auf jeden Fall zurückbringen. (5) Wenn du siehst, dass der Esel deines Feindes unter seiner Last zusammengebrochen ist, geh nicht an ihm vorbei, sondern richte ihn mit dieser (Last) wieder auf.

Der „Feind“ ist als Teil der sozialen Gemeinschaft, z. B. im Nahbereich des Dorfes vorgestellt. Wie weit darf die Feindschaft gehen? Im Buch Exodus wird bereits eine begrenzte Beibehaltung des ethischen Altruismus trotz der Feindschaft gefordert. Jesus geht über die in Ex 23,4 f. geforderten reaktiven Unterstützungshandlungen hinaus, indem er den aktiven Gewalt-, Besitz- und Rechtsverzicht als Konkretion und Ausdruck der Feindesliebe fordert (Q 6,27–30). Die Feindesliebe reflektiert demnach die Aufrechterhaltung der Gemeinschaft im Nahbereich durch aktiven Verzicht, der dann nötig wird, wenn die Krise der Gemeinschaft dazu führt, dass grundlegende Regeln nicht mehr eingehalten werden. Assmann definiert die Vorstellung einer gemeinschaftlichen Gerechtigkeit als konnektive Gerechtigkeit (iustitia connectiva) oder „reziproke Solidarität“, die drei Aspekte umfasst: Füreinander handeln, aufeinander hören, aneinander denken als aktive, kommunikative und intentionale Solidarität.30 Die von Jesus geforderte Feindesliebe als Rechts-, Besitz- und Gewaltverzicht hält diese Aspekte der Gemeinschaftsgerechtigkeit unter Bedingungen, in denen die Gemeinschaft diese Gerechtigkeit nicht mehr sichern kann, aufrecht. Jesus proklamiert mit der Feindesliebe eine individuelle ethische Praxis im Vorgriff auf die Wiederherstellung der Gemeinschaftsgerechtigkeit, die mit der Aufrichtung der Königsherrschaft Gottes zu erwarten ist.

Die Begründung für diese ethische Praxis ist mit der Ausrichtung der Königsherrschaft an den Eigenschaften Gottes, die als „Wesensdefinition Gottes“ verstanden werden können, verbunden: Gnade und Barmherzigkeit, Langmut und Liebe (Ex 34,6; Ps 145,8).31 Feindesliebe ist Nachahmung der „universalen Fürsorge Gottes“ und die Realisierung der Barmherzigkeit im Sinne der Gemeinschaftsgerechtigkeit als reziproke Solidarität:32

Q 6,36: Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.

Diese Erwartung an Gott als den Vater wird auch im Vaterunser zum Ausdruck gebracht (Mt 6,9b–13/Lk 11,2–4). Jeremias urteilt über die Anrede Gottes als Vater, aram. abba: „in dem Abba Jesu kommt ein besonderes Gottesverhältnis zum Ausdruck“, das Jesus „seinen Jüngern als Anrede Gottes weitergegeben hat“.33 Es umfasse neben „Vertraulichkeit“ auch Gehorsam und Teilhabe an Gottes Vollmacht. Die Bedeutung der Anrede Gottes als Vater sieht Jeremias richtig, sie lässt sich aber nicht auf Jesus und seine Jünger beschränken. Die Anrede Gottes als Vater ist im antiken Judentum nicht ohne Parallelen (Weish 14,3) und auch die Fürsorge des Schöpfers als Vater lässt sich belegen, etwa in den Hodayot:

1QH 9,35 f.: Denn du bist ein Vater für alle Kinder deiner Wahrheit und freust dich über sie wie eine Mutter über ihren Säugling, und wie ein Pfleger versorgst du im Schoß alle deine Geschöpfe.

Jesus greift das auf und besonders das Matthäusevangelium stellt die Bezeichnung Gottes als Vater in den Mittelpunkt. Die vermutlich älteste Fassung des Vaterunsers in Q 11,2–4 bestand aus einer Vateranrede, zwei Segensbitten über den Namen und das Reich Gottes, und drei Bitten um Brot, Schuldenerlass und Versuchungsverschonung. Auch dieses Gebet nimmt die Perspektive der Armen ein, die sich vertrauensvoll in ihren Alltagsnöten an Gott wenden sollen. Im Gegensatz dazu kritisiert Jesus die Praxis demonstrativer Frömmigkeit, die dem Ziel des Statusgewinns dient (Mt 6,1–6.16–18). Wieder begegnet die expressive Rhetorik Jesu: „blas nicht die Posaune, […] deine linke Hand soll nicht wissen, was die Rechte tut, […] schließ dich ein in die Kammer“. Der Akzent liegt auch hier auf der inneren Haltung, das was „im Verborgenen“ geschieht, das sieht der „Vater“ (6,4.6.18). Mit diesen Aussagen ist eine bemerkenswerte Subjektivierung der religiösen Praxis verbunden. Ihre Bedeutung entscheidet sich in der Beziehung zwischen dem einzelnen und dem „Vater“, nicht aber an ihrer sozialen Wahrnehmung. Jesus lehnt weder Fasten noch Almosengeben ab, aber er unterstreicht durch rhetorische Zuspitzungen, dass die Willensbildung und das Tun „im Verborgenen“ entscheidend sind, weil genau dieses von Gott wahrgenommen wird.

Aus dieser Haltung heraus formuliert Jesus eine Polemik gegen Pharisäer und Schriftgelehrte, die in der synoptischen Tradition aufgrund der Konflikte der Gemeinde mit den Pharisäern noch erweitert wurde. Die Rhetorik Jesu ist bisweilen auch scharf und verletzend. Die Pharisäer gelten ihm als Gegner in Fragen der „mündlichen“ Tora, genauer bezüglich des Zehnten, der Reinheitstora und der Speiseregeln (Q 11,39–44; Mk 2,16). Eine ähnliche, wenn auch nicht so schneidende Kritik der Pharisäer und ihres Umgangs mit den Geboten der Tora findet sich auch in den Qumrantexten, wo sie als solche dargestellt werden, „die glatte Dinge“ suchen, d. h. den Sinn der Tora verfälschen (CD 1,18–2,1; 1QH 2,32 f.; 4,9–11; 4Q169).34

Jesus steht den Bindungen, die durch die Herkunftsfamilie und durch Besitz entstehen, sehr kritisch gegenüber. Die Aussagen brechen mit ethischen Vorstellungen, die für antike Gesellschaften grundlegend sind. Die Königsherrschaft fordert eine Nachfolgebereitschaft, der die Verpflichtung, den Vater zu begraben, nicht im Wege stehen darf (Q 9,59 f.). Sie bringt Entzweiung zwischen Vater und Sohn, Mutter und Tochter (Q 12,51–53). Die Familie, sowohl die Eltern als auch die eigenen Kinder, ist zu „hassen“ (gr. miseo; μισέω), d. h. gering zu achten und aktiv zurückzuweisen (Q 14,26). An die Stelle der Herkunftsfamilie tritt die Nachfolgegemeinschaft (Mk 3,35).

Wie die Familie so erscheint auch Besitz als ein Hindernis der Gottesherrschaft. Dabei folgt bereits aus der Konkretisierung der Feindesliebe die Forderung nach Rechts- und Besitzverzicht (Q 6,29): „gib auch den Mantel, […] verlange nichts zurück“. Das Vaterunser thematisiert den Schuldenerlass (Q 11,4). Die Frage nach der Erlangung des ewigen Lebens wird einerseits mit der Einhaltung des Dekalogs (Mk 10,19) und andererseits mit der Forderung des Besitzverzichts beantwortet (Mk 10,21parr.): „verkaufe […] und gib den Armen“. Besitz ist aber mehr als ein passives Hindernis. Von ihm geht auch eine Machtsphäre aus, die die alleinige Herrschaft über den Menschen erringen will:

Q 16,13: Niemand kann zwei Herren dienen; er wird entweder den einen hassen und den andern lieben, oder er wird zu dem einen halten und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott und dem Mammon dienen.

Die Forderung des Besitzverzichts richtet sich an jeden, dessen Besitz dem Willen der Königsherrschaft entgegensteht. Die Gottesherrschaft fordert auch der Nachfolgegemeinschaft ein neues Verständnis von Macht ab:

Mk 10,42–44/Mt 20,25–27: Ihr wisst, dass die Mächtigen der Völker über sie herrschen und ihre Großen sie niederhalten. (43) So soll es nicht bei euch sein, sondern derjenige, der unter euch groß werden will, sei euer Diener, (44) und der unter euch der Führende sein will, der Sklave aller.

Die jesuanische Verkündigung setzt sich nur gelegentlich direkt mit den Machtstrukturen der Gesellschaft auseinander. Das Wort zur Kaisersteuer gilt als klassischer Text zur Unterscheidung von Staat und Religion. Angesichts des Gewichts der Gottesherrschaft, die so viele grundlegende Sozialbeziehungen wie Achtung der Ahnen, Familie und Besitz ablehnt, kann das Wort nicht vorrangig als Aufforderung zum Steuerzahlen verstanden werden, auch wenn es in der synoptischen Tradition so interpretiert wurde.35 Es fordert vielmehr dazu auf, die Frage nach dem, was dem Kaiser zukommt, und dem, was Gott zukommt, zu stellen. Der Bereich des Kaisers kann angesichts der jesuanischem Vorstellung von der Gottesherrschaft nur sehr klein und vorläufig sein. Angesichts der Loyalitätserwartung des römischen Kaiserhauses ist diese Antwort sowohl klug als auch heikel, vor allem aber eine „Relativierung des Kaisers“,36 wenn nicht gar „eine politisch subversive Semantik“, die eine kritisch distanzierte Haltung zur römischen Herrschaft empfiehlt.37

Dieser weitgehend unumstrittene Befund zu den ethischen Aussagen Jesu in der ältesten Jesusüberlieferung ist nun nicht ganz leicht in grundsätzliche Aussagen zur Ethik zu übersetzen. Im Folgenden werden zunächst drei Konzepte der Ethik Jesu in ihren Grundzügen dargestellt. Die Bandbreite der Lösungen dieser Frage reicht von der sozialverträglichen Relativierung (Dunn) über eine Zwei-Stufen-Ethik (Schröter) bis hin zu einer konfrontativen Explikation (Schnelle):

1.Dunn:38 Dunn ist zurückhaltend in der genauen Bestimmung der Adressaten der ethischen Verkündigung Jesu. Jesus richte sich jedenfalls an Israel, aber jeweils auch an sich überschneidende und überlappende Personenkreise und Gruppen wie die Jüngergemeinschaft, Nachfolgende oder Sünder und Zöllner. Seine Ethik führe aus, auf welche Weise sich die Gottesherrschaft auf das Leben der Menschen, an die er sich richtete, auswirken soll. Bestimmte Themen treten dabei deutlicher hervor: a) Macht und Barmherzigkeit des Schöpfers, b) Hinwendung zu den Armen, c) Vergebung, d) Offenheit der Nachfolgegemeinschaft, e) Liebesgebot sowie f) soziale und politische Folgen. Jesus stelle sich eine Gemeinschaft vor, „die vor allem nach den Prioritäten Gottes strebe, in der Vergebung erfahren werde, die immer wieder von der Gnade überrascht wird und weiß, wie die Gottheit Gottes in der Offenheit der Mahlgemeinschaften und der Nächstenliebe zu feiern ist.“39

2.Schröter:40 Eine Ethik Jesu lasse sich nicht feststellen. Vielmehr entfalte Jesus ein Ethos im Sinne einer „Lebensordnung“, die im Vorgriff auf die Ordnung des Gottesreiches entworfen werde. Jesus unterscheide dabei zwischen der Nachfolgegemeinschaft und dem zu „erneuernden Israel“, das Schröter auch in Anknüpfung an Jesu Aussage in Mk 3,35 „Familie Gottes“ nennt. Jesus richte radikale Forderungen an die Nachfolgegemeinschaft, die vor allem in der Bergpredigt zusammengestellt seien, und dazu analoge, aber abgemilderte Forderungen an diesen erweiterten Kreis der „Familie Gottes“. Jesus fordere von der Nachfolgegemeinschaft Feindesliebe, Besitzverzicht, den Bruch mit der Herkunftsfamilie und die Umkehrung von Herrschen und Dienen. In Analogie dazu verlange er vom weiteren Adressatenkreis der „Familie Gottes“ Vergebungsbereitschaft, den angemessenen Umgang mit Besitz, die Orientierung an der Gottesherrschaft und die Begrenzung der weltlichen Herrschaft. Jesus lehne die Tora nicht grundsätzlich ab, noch hebe er sie auf, vielmehr stelle er sie in den Horizont der Gottesherrschaft.

3.Schnelle:41 Schnelle hebt die Provokationen, die mit der Ethik Jesu verbunden sind, deutlich hervor. Jesu Ethik sei keine Sammlung situationsgebundener und unsystematischer Einzelworte, sondern habe prinzipiellen Charakter. Sie entfalte den Willen Gottes als radikale Liebe. Sie sei auf das Liebesgebot als Mitte hin strukturiert und stimme mit Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft überein. Schnelle führt eine Argumentation mit langer exegetischer Tradition weiter, nach der Jesu Ethik nicht der Tora folge, sondern souverän auf den unbedingten Willen des Schöpfers zurückgreife, etwa wenn er das Scheidungsverbot mit Gen 1,27 und 2,24 begründe (Mk 10,2–12), die Institution des Scheidebriefs (hebr. get; גט: bGit 85b) ablehne oder das Sabbatgebot (Mk 2,27) und die Reinheitstora (Mk 7,15) relativiere. Es gehe Jesus um die Entsprechung zum Willen des Schöpfers und nicht um die Inkraftsetzung oder Interpretation der Sinaitora. Jesu ethische Forderungen seien gerade deswegen radikal, weil sie „unüberhörbar“ Gottes unbedingten Willen zum Ausdruck brächten, etwa in den Antithesen zu Töten und Zorn, Ehebruch und Begehren, Schwören und Wahrheit. Jesus fordere aktiven Vergeltungsverzicht und die Feindesliebe. Er verbiete das Richten und die Ehescheidung, kritisiere den Reichtum, das Fasten und den Tempel. Er fordere in „souveräne(r) Freiheit“, radikal und konkret zum Liebesgebot auf und zwar „exemplarisch“ und „in jeder Situation neu“.42

Alle drei Entwürfe gehen von der Überlegung aus, dass die Ethik Jesu Folge seiner Reich-Gottes-Botschaft sei. Dunns Zugang über den „erinnerten“ Jesus führt dazu, dass er recht großzügig vieles aus der Jesusüberlieferung auf Jesus selbst zurückführt. Dadurch gelingt es ihm, die provokanten Aussagen Jesu, etwa die Forderung der Feindesliebe und des Bruchs mit der Familie, in größere Zusammenhänge, etwa der Nächstenliebe und der grundsätzlichen Akzeptanz familialer Strukturen zu stellen, die diesen Aussagen die Spitze abbrechen. Die Ethik Jesu erscheint so als eine sozialverträgliche, leicht altruistische Gruppenethik in der Tradition der jüdischen Armenfrömmigkeit.

Schröter hingegen nimmt die radikalen Aussagen Jesu deutlicher auf, ordnet sie aber der Nachfolgegemeinschaft als „Lebensordnung“ im Sinne einer Sonderethik zu. Diese stehe in Analogie zur Lebensordnung für eine zweite Adressatengruppe, die „Familie Jesu“. Schröter verteilt somit die radikalen und die sozialverträglichen Forderungen Jesu auf zwei Gruppen und stellt sich damit in die Tradition der Zwei-Stufen-Ethik. Die spontane, illustrative Ethik Jesu wird so zu einem zielgruppenorientierten, durchdachten und dadurch ebenfalls einigermaßen sozialverträglichen System gebildet, das zudem auf die Lebensführung (Ethos) beschränkt wird.

Schnelle konzentriert sich auf das kritisch rekonstruierte Jesusmaterial und arbeitet das Profil der Ethik Jesu pointiert heraus: Feindesliebe, Besitzverzicht, Scheidungsverbot. Diese und andere Gebote gelten für alle. Schnelle stellt allerdings die Radikalität der Ethik Jesu vor allem als Überbietung von Tora und Altem Testament dar, was die Haltung Jesu zum Judentum unnötig verzeichnet.

Dunn und Schröter sehen richtig, dass eine Ethik Jesu nur angemessen dargestellt werden kann, wenn ihre jüdischen Voraussetzungen positiv und integrativ mitbedacht werden. Schnelle ist darin zuzustimmen, dass er die konfrontative Radikalität und die Unausweichlichkeit der ethischen Forderungen Jesu deutlich herausarbeitet.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Im Zentrum der Ethik Jesu steht die Vorstellung von Gott als barmherzigem Schöpfer und Vater. Die ethischen Forderungen Jesu verstehen sich als Nachahmung der fürsorglichen Eigenschaften Gottes und übergehen seine majestätischen Attribute. Jesus konkretisiert die altruistische jüdische Ethik angesichts krisenhafter Erscheinungen, wie Missbrauch von Macht, Recht und Besitz als Gewalt-, Rechts- und Besitzverzicht. Diese Praxis des Verzichts versteht er als Vorgriff auf die Wiederherstellung der Gerechtigkeit sozialer Reziprozität (iustitia connectiva). Die Hinwendung zu einfachen Frauen und Männern, den „Armen“, ist ebenso charakteristisch für seine Ethik wie ihre expressive rhetorische Struktur, die die Unausweichlichkeit der ethischen Entscheidung unterstreicht.

3.5Selbstverständnis Jesu

Die Verkündigung Jesu gruppiert sich um den Zentralbegriff der Königsherrschaft Gottes. Die Theologie Jesu bewegt sich uneingeschränkt im Rahmen des jüdischen Monotheismus und erwartet alles von Gott. Deswegen ist die Frage nach dem Selbstverständnis Jesu für das Verständnis seiner Theologie von untergeordneter Bedeutung. Die christliche Theologie fragt aber mit Recht, welchen Anhalt ihr Bekenntnis zu Jesus als wahrem Sohn und wahrem Gott an Jesus von Nazareth selbst hat. Diese theologisch interessierte Frage ist mit den Mitteln der kritischen historischen Forschung zu beantworten und hat den Druck zu reflektieren, der von dem Interesse ausgeht, die historischen Ergebnisse so weit als möglich in Übereinstimmung mit dem religiösen Bekenntnis zu bringen. Allerdings sperren sich die neutestamentlichen Schriften weitgehend gegen eine solche Vereinnahmung. Die Aussage, Jesus sei Gott (gr. theos; θεός), findet sich nur am Rande des Neuen Testament, aber nie aus dem Mund Jesu selbst und jeweils in recht interpretationsbedürftigen Kontexten (Hebr 1,8 f.; Joh 1,1; 20,28). In den synoptischen Evangelien spricht Jesus von sich selbst nie als Sohn Gottes oder Messias/Christus. Die Evangelien lassen zwar keinen Zweifel daran, dass sie Jesus als Christus, Herr und Sohn Gottes verstehen, aber in der ältesten Jesusüberlieferung fehlen derartige Aussagen. Die Logienquelle etwa verzichtet völlig auf die Bezeichnung Messias/Christus.

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