Kitabı oku: «Vom Angsthasen zum Liebesküken», sayfa 3

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„Heute entscheide ich mich neu. Ich entscheide mich, neu zu denken über die Zeit, die ich habe. Es ist genug Zeit da. Von heute an will ich mich nicht mehr abhetzen, sondern mir Zeit nehmen für das Wichtigste in meinem Leben: für mich selbst. Ich entscheide mich für die Langsamkeit.“

Während ich noch eine weitere Minute mit geschlossenen Augen auf dem Gehsteig verweilte, kam mir die Idee, Scarlett einfach anzurufen, um ihr Bescheid zu geben, dass ich mich verspäten würde. In aller Seelenruhe griff ich nach meinem Handy und wählte Scarletts Nummer, um ihr die Situation zu erklären und mir Zeit zu verschaffen. Erleichtert über ihre verständnisvolle Reaktion setzte ich mich wieder in Gang, diesmal aber mit der größtmöglichen Achtsamkeit: einen Fuß vor den anderen. So langsam und bewusst wie schon lange nicht mehr ging ich die Straße entlang, bis ich schließlich eine halbe Stunde später mein Nachtquartier erreichte. Stolz hielt ich an der Straßenecke kurz vor Scarletts Wohnung inne und klopfte mir in Gedanken auf die Schultern. Scarlett war nicht wegen Schlafentzug gestorben. Unser Verhältnis war nach wie vor ungetrübt. Obendrein war es mir gelungen, zum ersten Mal in meinem Leben aus der Masse der Gehetzten auszusteigen und bewusst Nein zur Rastlosigkeit zu sagen.

Ein Gefühl von Freiheit durchströmte mich, als ich mich wenig später in die wohlriechende Bettwäsche kuschelte. Ruhig und friedlich schlief ich auf meinem Gästebett in Scarletts Zimmer ein.

Silvester stand vor der Tür und ganz Edinburgh befand sich unübersehbar in den Vorbereitungen für Hogmanay, jenem schottischen Festtag, an dem sich Hunderttausende von Menschen zum Jahreswechsel in der Hauptstadt treffen. Ich freute mich auf das gigantische Feuerwerk vor der spektakulären Kulisse des Edinburgh Castles und setzte große Erwartungen in die legendäre Party, die laut Aussage diverser Veranstalter in keinem anderen Land der Welt mit vergleichbarer Leidenschaft gefeiert wird. Doch statt einem unvergesslichen Silvesterrausch begleitete mich ein zunehmender Schmerz in der Nierengegend beim abendlichen Übergang in das neue Jahr, sodass ich mein Partyvorhaben revidierte und mich für einen kurzen Besuch in der Notaufnahme des nächsten Krankenhauses entschied. Den Rest der Nacht verbrachte ich mit Scarlett und Jesus von Nazareth zu Hause. Während draußen Tausende von Feiernden entlang der Princess Street zu Livemusik tanzten, verfolgten Scarlett und ich die von Mel Gibson verfilmte Verurteilung und Kreuzigung Jesu durch die Römer und seine Auferstehung.

Wenngleich dieses Silvester abrupt eine ganz andere Richtung nahm, als ich es geplant hatte, musste ich mir eingestehen, dass mir die Filmauswahl durchaus sympathisch war. Bereits als Kind hatte die Figur Jesus großes Interesse in mir hervorgerufen, und die Geschichten über ihn hatten den ansonsten eher langweiligen Konfirmandenunterricht für mich lohnenswert gemacht. Später hatte ich den Messias zu meinem Thema der mündlichen Abitur-Prüfung erkoren und mein Wissen über ihn vertieft. Ganz besonders faszinierten mich die Wunder, die ihm zugeschrieben wurden und die Versuche, diese wissenschaftlich zu erklären. Auch während meines Studiums als Grund- und Hauptschullehrerin begleitete mich evangelische Theologie als Grundlagenwahlfach, und ich besuchte mit Vorliebe Vorlesungen zu den Themen „Jesus“ und „Engel“. Was ich bei aller Bewunderung für den weisen Mann aus Nazareth allerdings nie so recht verstanden hatte, war die Bedeutung der Aussage, Jesus wäre „für unsere Sünden“ gestorben und demzufolge wäre das ewige Leben ausschließlich von ihm und seinem ultimativen Opfer abhängig. Ich empfand einen Widerspruch zwischen den Botschaften des Mannes, der aufgrund seiner ausgeprägten Nächstenliebe verständlicherweise eine große Anziehung auf die Menschen der damaligen Zeit ausgeübt hatte, und dem, was die Kirche daraus gemacht hatte. Wie konnte beispielsweise Jesus, und zwar nur er allein, der Sohn Gottes gewesen sein, wenn er, derselbe Mann, auch verkündet haben sollte: „Was ich bin, seid ihr ebenso. Was ich tun kann, könnt ihr ebenfalls tun. Diese Dinge und mehr werdet ihr auch tun.“ Offenbar hatte der Klerus ihm diesen alleinigen Status zugeschrieben. Außerdem sagte man den großen Meistern anderer Religionen doch ähnliche Positionen nach.

Ich war noch tief berührt von den haarsträubenden Ereignissen, die wir über den letzten Abschnitt im Leben Jesu auf Scarletts Fernseher verfolgt hatten, da stoppte Scarlett den Abspann und fragte mich, ob ich Lust hätte, in die nahegelegenen Bruntsfield Links zu laufen, um das Silvesterfeuerwerk zu bestaunen. Ich nickte – froh darüber, dass die verordneten Schmerzmittel bereits Wirkung zeigten – und folgte Scarlett in den Flur, um die Schuhe anzuziehen.

Eine halbe Stunde später fand ich mich inmitten mehrerer Hundert feierfreudiger Menschen wieder, die kurz vor Mitternacht wie Bienen aus ihren Häusern geschwärmt waren und sich nun auf der Rasenfläche im Park südlich des Edinburgh Castles tummelten. Ich griff in die Tasche meines grauen Wintermantels, um die zwei Piccolo hervorzuzaubern, die ich in einem kleinen Lebensmittelladen um die Ecke am Vormittag besorgt hatte. Mit den Worten „Happy New Year!“ hielt ich Scarlett freudestrahlend eine der beiden Fläschchen unter die Nase, überzeugt davon, dass sie heute ebenso eine Ausnahme bezüglich ihrer Grundsätze machen würde wie am ersten Weihnachtsfeiertag bei Amber.

„Nein danke“, lehnte sie meine Einladung lächelnd ab. Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: „Trinken in der Öffentlichkeit ist illegal.“

Ich sah mich um und blickte über die größtenteils stark alkoholisierte Menschenmasse, die wie ein bunter Teppich die Rasenfläche überlagerte. Scarletts Antwort erschien mir vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der unzähligen Bierflaschen und Plastikbecher, die rundherum auf dem Rasen verstreut lagen, wenig plausibel. Nach einem kurzen Gefühl der Enttäuschung darüber, dass meine Überraschung nicht wirklich gelungen war und ich keine andere Wahl hatte, als mir selbst zuzuprosten, entschied ich mich, Scarletts Entscheidung zu akzeptieren und hieß das neue Jahr willkommen – in der Hoffnung, dass dieses weniger schmerzhaft und turbulent für mich ausfallen würde als die zurückliegenden zwölf Monate.

Am Neujahrstag saß ich zusammen mit etwa vier Dutzend silvestergeschädigten Touristen in einem Reisebus und war auf dem Weg in die Highlands. Ich ließ meinen Blick über die Menschen schweifen, die größtenteils schliefen oder mit offenen Augen vor sich hin dösten. Manche machten regen Gebrauch von den an den Sitzen im Mittelgang befestigten weißen Müllbeuteln, um ihren Mageninhalt darin zu entleeren. In Anbetracht des Bildes, das sich mir bot, erschien mir der unerwartet atypisch verlaufene Silvesterabend, den ich und Scarlett der Passion Christi gewidmet hatte, in einem völlig anderen Licht. Ich war dankbar, dass es mir körperlich besser und auch seelisch recht gut ging, und freute mich auf meine nächste und letzte Couchsurf-Begegnung: Milena.

Die großgewachsene junge Polin mit rotem Kurzhaarschnitt und hellem Teint empfing mich am Busbahnhof der Hauptstadt des schottischen Verwaltungsbezirks Highland mit quirligem Geplapper und Regenschirm. Zu Fuß liefen wir durch das verregnete Inverness und überquerten den Ness über eine kleine bunt beleuchtete Fußgängerbrücke, um zu ihrem mehrstöckigen Zuhause am anderen Ufer zu gelangen. Zusammen mit vier weiteren WG-Mitgliedern bewohnte Milena ein gemütliches Steinhaus direkt am Fluss, der von dort zu seiner Mündung in den Moray Firth fließt. Ein Wall aus Sandsäcken zierte das Ufer und versuchte die Anwohner vor dem Hochwasser zu schützen, das das Resultat starker Regenfälle an den vergangenen Tage war. Milena führte mich in ihr Zimmer im zweiten Stock, welches sie für mich hergerichtet hatte. Sie selbst würde bei ihrem Freund übernachten, der nur ein paar Häuser weiter in derselben Straße wohnte, wie sie mir erklärte. Das Zimmer war sauber und aufgeräumt und besaß sogar einen Kamin, der aber scheinbar schon längere Zeit nicht mehr benutzt worden war.

„Ich dachte, wir könnten heute Abend Pizza bestellen“, schlug Milena vor. „Ich warte unten in der Küche auf dich. Dann kannst du erstmal ankommen und dich frisch machen.“ Dann verließ sie das Zimmer.

Später saßen wir mit einem Teil der übrigen Mitbewohner um die dampfenden Pappschachteln versammelt und unterhielten uns über unsere waghalsigsten Reiseabenteuer. Einer der jungen Männer hatte sogar schon die Pyrenäen auf dem Mountainbike erkundet. Ich lauschte vergnügt den Stories der anderen, hielt mich selbst aber zurück, glücklich, einfach nur Publikum sein zu dürfen. Nach dem Essen folgte ich Milena in den Flur, wo sie für uns beide je einen ziemlich großen Regenschirm hervorkramte. Wir hatten uns darauf verständigt, einen kleinen Verdauungsspaziergang zu machen. Mit etwas zu viel Pizza im Bauch liefen wir bei strömendem Regen über die romantischen Ness Inseln, die wir über eine Hängebrücke erreichten. Geduldig lauschte meine Gastgeberin meiner gerafften, wohl nicht ganz alltäglichen biografischen Erzählung und blieb auch dann noch aufmerksam, als ich zu den Erkenntnissen überging, die ich bis zu diesem Zeitpunkt daraus gewonnen hatte. Ihr Schweigen deutete ich gelegentlich auch als Zeichen, dass sie mir nur begrenzt folgen beziehungsweise zustimmen konnte, daher hielt ich es für angebracht, immer wieder das Thema zu wechseln und mich auf Bereiche zu konzentrieren, die vermutlich mehr ihrem Erfahrungshorizont entsprachen. Als wir uns schließlich wieder Milenas Haus näherten, erklärte sie mir, es gäbe um die Ecke einen Supermarkt, falls ich mir am nächsten Morgen etwas zum Frühstück holen mochte. Dann verabschiedete sich von mir, um sich auf den Weg zu ihrem Freund zu machen.

Als ich über die Außentreppe zum Eingang hinaufstieg, staunte ich wieder einmal mehr über die Vielseitigkeit all der Couchsurferfahrungen, die ich in so kurzer Zeit hatte sammeln dürfen, und auch darüber, welches Bedeutungsspektrum sich hinter dem Wort „Gastfreundschaft“ verbarg. Und wenngleich ich zugegebenermaßen gerne mit einem gemeinsamen Frühstück in den nächsten Tag hätte starten wollen, sollte meine Enttäuschung nur vorrübergehend anhalten, denn zwölf Stunden später erwiesen sich Milena und ihr Partner als meine perfekten Reiseführer …

Selten zuvor hatte mich eine Landschaft derart in Entzücken versetzt wie die von kleinen Bächen und Tümpeln durchzogenen Heidelbeerwälder, die wir auf dem ausgeschilderten Fußweg zum Fyrish Monument, acht Kilometer westlich von Alness, durchquerten. Nach dem einstündigen Anstieg erwartete uns nicht nur ein beeindruckender Blick auf das Denkmal, sondern auch eine atemberaubende Rundumschau und eine fabelhafte Aussicht auf die Cromarty Firth. Diese fesselte mich noch mehr als die Geschichte des hochrangigen Soldaten Sir Hector Munro, der in Indien gedient und das Denkmal 1783 aufgestellt hatte, welches nun an die Einnahme des indischen Nagapattinam erinnern sollte.

Nach vergeblichen Versuchen, das Monster Nessie bei einem nächsten Halt an der Burgruine Urquhart Castle und einem weiteren Abstecher in den beschaulichen Ort Drumnadrochit am Westufer des Loch Ness zu sichten, blieb bezüglich meiner Reise in das nördlichste Land Großbritanniens nur noch ein Wunsch offen: die Verkostung eines edlen schottischen Whiskys. Dafür wollten Milena und ihr Lebensgefährte im Verlauf unseres Abendprogramms sorgen.

Einige Stunden später, nach einer warmen Dusche, saß ich am Tisch eines Restaurants und betrachtete hungrig den dampfenden Kloß namens Haggis, der in einer cremigen, köstlich riechenden Whiskysoße vor mir auf dem Teller lag. Die Neugier auf das traditionelle Nationalgericht ließ mich an diesem Abend sogar von meiner ansonsten überwiegend vegetarischen und nahezu veganen Ernährungsweise Abstand nehmen, und ich konnte nicht leugnen, dass ich Milenas Essensempfehlung bis zum letzten Bissen genoss – sogar so sehr, dass ich mir nach einem kurzen Blick in meinen Geldbeutel eine zweite Portion bestellte. Meine Bargeldvorräte gingen zwar allmählich zur Neige, aber sie würden allenfalls noch ausreichen, um an diesem Abend die Rechnung für uns zu bezahlen.

Obwohl ich überraschenderweise von meinen Gastgebern zum Essen eingeladen wurde, bat ich Milena vorsorglich auf dem Weg in die nächste Bar, bei einer Bank Halt zu machen. Während die junge Frau mir den Schirm hielt, stand ich gut gelaunt vor dem Geldautomaten und steckte meine EC-Karte in den Schlitz. Ich realisierte nur in Zeitlupe das kurze ratschende Geräusch, dann riss ich erschrocken die Augen auf. Zu meinem Entsetzen kam weder Geld zum Vorschein, noch spuckte das Gerät meine Karte wieder aus. Stattdessen las ich auf dem Display, die Karte würde einbehalten. In diesem Moment fiel mir ein, dass meine Giro-Karte abgelaufen war und die neue vermutlich bereits in meinem Briefkasten in über 1500 Kilometern Entfernung auf ihre Freischaltung wartete. Nervös zückte ich meine Kreditkarte und versuchte mich an meinen PIN-Code zu erinnern, den ich so gut wie noch nie benutzt hatte, da bei Einkäufen im Geschäft meist die Unterschrift genügte. Nach zwei Fehlversuchen brach ich die Transaktion vorsorglich ab und blickte bekümmert zu Milena.

„Ich kann dir aushelfen“, bot sie ohne zu zögern an.

„Vielleicht kann ich meine Mutter kontaktieren und sie bitten, sich in meinem Büro auf die Suche nach der PIN zu machen …?“, überlegte ich laut, wenngleich mir diese Idee ein wenig umständlich vorkam und zudem sofort peinlich war – ein gefundenes Fressen, mir Vorhaltungen zu machen, wie leichtsinnig und wenig vorausschauend ich wieder einmal verreist wäre.

„Denk darüber nach, Annie.“ Milena zuckte mit den Schultern.

Für heute Abend reichte mein Bargeld vielleicht noch. Aber ich hatte noch zwei Tage zu überbrücken bis zur Heimreise. Es war mir unangenehm, Milenas Angebot anzunehmen, aber nicht ganz so unangenehm, wie meine Mutter um Hilfe bitten zu müssen. Also fragte ich nach ihrer Bankverbindung, damit ich ihr das geliehene Geld zurücküberweisen könnte.

„Du machst wohl Witze”, lachte Milena und hielt mir einen Schein entgegen. „Nimm, es ist okay.”

„Na gut, für alle Fälle.“ Dankbar und berührt von der Hilfsbereitschaft der Frau, die ich erst einen Tag kannte, griff ich nach den zwanzig Pfund und freute mich nach dem unerwarteten Missgeschick nun noch mehr auf den angekündigten Whisky im nächsten Pub, der noch auf dem Programm stand.

Nach einem geselligen Abend unter Schotten war es am nächsten Tag Zeit, nach Edinburgh zurückzukehren. Dort würde ich noch einmal eine letzte Nacht bei Scarlett verbringen und anschließend meinen Heimflug nach Deutschland antreten. Auf dem Weg von Inverness nach Edinburgh – diesmal teilte ich den Bus mit wesentlich ausgeschlafeneren Insassen – fasste ich den Entschluss, die letzten vierundzwanzig Stunden meiner Reise so sparsam wie möglich zu leben. Zugegebenermaßen fiel es mir immer noch schwer, Milenas finanzielle Hilfe anzunehmen, und ich fragte mich, ob es mir gelingen könnte, meine letzten Pence so einzuteilen, dass ich ihr die zwanzig Pfund vor meinem Abflug noch mit der Post zurückschicken könnte.

Um mir die Zeit während der dreieinhalbstündigen Fahrt zu vertreiben, nahm ich meinen Reader aus dem Rucksack und widmete mich meiner gegenwärtigen Lektüre über ein Leben in Liebe. Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte, überflog ich die Literaturhinweise im Anschluss an die Informationen über den Autor und hielt bei einem Namen plötzlich inne: Walsch, Neale Donald. Ach nein! War das nicht der Autor, den mir Luigi so ans Herz gelegt hatte? Ich suchte nach der Notiz in meinem Handy. Bingo! Die Gespräche mit Gott schienen also auch den Autor meines Buches nachhaltig beeinflusst zu haben, zumindest führte er Mister Walsch gleich fünfmal hintereinander auf. Kein Wunder, dass Luigis Weltanschauung und die gelesenen Inhalte in dieselbe Richtung gingen. Das erklärte nun auch die auffallende Übereinstimmung in unseren Intensiv-Gesprächen.

In Vorfreude auf die neue Lektüre stieg ich am Busbahnhof in Edinburgh aus und kaufte mir auf dem Weg zu Scarletts Appartement ein trockenes Weißmehlbrötchen und eine Banane. Mit diesem kostengünstigen Frühstück und ein bisschen weiterer Verpflegungsunterstützung von Seiten Scarlett würde mein Geld auch ohne Milenas Spende noch ziemlich genau für den Bustransfer zum Flughafen reichen …

Mein Plan ging auf: Als vorbildliche Gastgeberin sorgte Scarlett auch am letzten Tag für mein leibliches Wohl. Mit den letzten Pence in meinem Geldbeutel kaufte ich am nächsten Morgen am Flughafen eine Briefmarke, die ich auf einen an Milena adressierten Umschlag klebte, und schickte die zwanzig Pfund Sterling zusammen mit einem Dankesschreiben nach Inverness.

Ein Gefühl unendlicher Fülle und Dankbarkeit durchströmte mich, als ich dem Boardingaufruf folgte und in den Flieger stieg. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich dem Ruf meiner Seele bewusst gefolgt. Ich hatte mir mit meiner Reise nach Schottland einen lang gehegten Herzenswunsch erfüllt. Die interkulturellen Erfahrungen der vergangenen zwei Wochen hatten mein Leben auf vielfältige Art und Weise bereichert und damit jeden Hotelurlaub, den ich bis dahin erlebt hatte, bei Weitem übertroffen. Ohne Vorbehalte und voller Offenheit war ich mutiger denn je dem Unbekannten begegnet und hatte im Gegenzug Gastfreundschaft, Inspiration und Hilfe erfahren. Dadurch waren mir neue wertvolle Erfahrungen ermöglicht worden, die meinen Horizont erweitert hatten.

Als wir durch die Wolkendecke flogen und über mir die Bläue des Himmels erstrahlte, beschlich mich das Gefühl, dass meine Reise nach Schottland den Beginn einer folgenschweren Reise zu mir selbst markieren könnte, auf der sich mir ein Leben voller Freude, Frieden, Freiheit und Erfüllung enthüllen würde, und dieses Leben wartete womöglich nur darauf, von mir entdeckt zu werden.

EINE SACHE VON „SCHULREIFE“

Nach den Ferien startete ich mit noch reduzierter Stundenzahl in den zweiten Schulabschnitt seit meiner Wiedereingliederung. Während sich allmählich alles um die bevorstehenden Halbjahresinformationen drehte, erreichte mich in einer Gesamtlehrerkonferenz eine Ankündigung, die mich aufhorchen ließ: Unsere Schule müsste wegen des derzeitigen Lehrerüberhangs, so verkündete unsere Schulleitung, eine Krankheitsvertretung zur Verfügung stellen. Diese würde für das kommende Halbjahr an eine andere Schule abgeordnet werden. Für den Fall, dass sich niemand freiwillig meldete, sei sie dazu verpflichtet, eine Kollegin zu bestimmen.

Ängstliche Blicke wanderten ausweichend unter den langen ovalen Tisch im Lehrerzimmer, vermutlich weil der Gedanke, das sichere und bekannte Terrain der Stammschule verlassen zu müssen, nicht gerade für Jubelgeschrei im Kollegium sorgte. Während die Lippen meiner Kolleginnen ein stummes Gebet an den Himmel zu formulieren schienen, in der Hoffnung, das Los möge jemand anderen treffen, kamen mir auf einmal die Worte in den Sinn, die ich während meines Schottlandurlaubs in einem spirituellen Ratgeber gelesen hatte: „Alle deine Probleme entstehen durch ein NEIN! Alle Lösungen beginnen mit einem JA!“ Mit diesem Impuls begann ich mich plötzlich zu fragen, ob in einer üblicherweise eher als leidig empfundenen Angelegenheit wie dieser Abordnung nicht eine Chance für mich liegen könnte. Seit ich nach dem Zusammenzug mit Philippe begonnen hatte, an dieser Schule im Wohnort meiner Verwandtschaft zu unterrichten, war meine Kraft auf unerklärliche Weise zusehends geschwunden. Die Tatsache, dass ich nach wenigen Monaten bereits krankheitsbedingt für den Rest des Schuljahres ausgefallen war, warf bei Kollegen und Eltern nicht gerade ein gutes Licht auf mich, und wenn sich auch meine Rektorin bisher äußerst verständnisvoll und einfühlsam gegenüber meiner Situation gezeigt hatte, fing ich immer noch den einen oder anderen bemitleidenden Blick im Lehrerzimmer auf. Ich würde mich ganz schön ins Zeug legen müssen, um mir hier das Image der fleißigen, belastbaren und kompetenten jungen Lehrerin aufzubauen, welches ich während meiner ersten vier Berufsjahre an der ländlich gelegenen Dorfgrundschule im Kreis Schwäbisch Hall genossen hatte, sofern dies überhaupt möglich war.

„Ich mach’s!“, hörte ich mich laut und fest sagen, noch ehe meine Ratio meine Intuition vom Gegenteil überzeugen konnte.

Zahlreiche Dankesbekundungen drangen aus den Mündern meiner Kolleginnen an mein Ohr, aus denen offensichtliche Erleichterung sprach. Doch während diese anscheinend froh darüber waren, dass sie sich nicht aus ihrer Komfortzone herausbewegen mussten, spürte ich, wie mir bei dem Gedanken, meine Stammschule vorrübergehend zu verlassen, eine Last von den Schultern fiel, die ich erst ein knappes Jahr später verstehen sollte …

So kam es, dass ich zunächst für sechs Wochen an einer knapp zwanzig Kilometer entfernten städtischen Grundschule Kinder in „Klasse 0“ unterrichtete. Nachdem ich meiner Stammschule den Rücken gekehrt hatte, tat ich an meinem neuen Einsatzort mein Möglichstes, jenen Kindern, die laut Homepage-Beschreibung „zwar schulpflichtig sind, aber noch nicht in allen Bereichen die Schulfähigkeit besitzen“, zu einem erfolgreichen Schulstart zu verhelfen. Neben der Vermittlung der Voraussetzungen für den Erwerb der Rechen-, Schreib- und Lesekompetenz lag ein besonderes Augenmerk der sogenannten „Grundschulförderklasse“ auf der Förderung der Fein- und Grobmotorik, der Selbstständigkeit und der emotionalen und sozialen Fähigkeiten. Nach einem Jahr, so zumindest der Plan, würden solche Kinder die Kriterien für die sogenannte „Schulreife“ erfüllen und die Grundschule besuchen können. Angesichts der mir Anvertrauten, von denen die meisten aus Familien mit Migrationshintergrund oder sozial benachteiligten Verhältnissen stammten, fragte ich mich, wer sich eigentlich anmaßte, zu entscheiden, wann ein Kind „Schulreife“ besitzen müsste. Und war die spielerische Kreativität, die ich in den Kinderaugen wahrzunehmen glaubte, nicht wichtiger als die einseitige Ausrichtung auf Lernziele, die in einem bestimmten Alter erreicht werden sollten?

Ich räumte gerade die Stationen zum Training grundlegender Arbeitstechniken auf, mit welchen ich die Schüler auf motivierende Weise im Umgang mit Schere, Kleber und Stift fit machen wollte, und sammelte die Krepppapierkügelchen vom Teppichboden auf, die ihren Weg beim Anwenden der Knüll-Technik nicht auf das Haus der Tonpapierschnecke geschafft hatten, da erblickte ich die Rektorin der Schule im Türrahmen des mittlerweile leeren Klassenzimmers.

„Hallo Frau Frank“, begrüßte sie mich freundlich und erkundigte sich nach meinem Befinden. Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie nach: „Ich habe gerade mit dem Staatlichen Schulamt telefoniert. Sie sollen Anfang März an eine neue Einsatzschule bestellt werden. In der Nachbargemeinde wird dringend eine Krankheitsvertretung in der Werkrealschule benötigt. Es handelt sich um eine jahrgangsgemischte 5. und 6. Klasse. Die Dame vom Staatlichen Schulamt bittet um Rückruf, um mit Ihnen abzuklären, ob das für Sie in Ordnung geht. Möglichst jetzt gleich.“

Ich wusste, dass mein gegenwärtiger Einsatzort nur eine vorübergehende Station sein würde und die Abordnung, der ich freiwillig zugestimmt hatte, eine große Flexibilität von mir fordern könnte. Also bedankte mich für die Mitteilung und beobachtete im Stillen, wie sich trotz dieses Wissens mein Herzschlag beschleunigte. Die herausfordernde Zeit während meines Referendariats in einer nicht ganz pflegeleichten 5. Hauptschulklasse war mir noch sehr präsent. Meine Lehrerfahrung hatte sich überwiegend auf den Anfangsunterricht bezogen, der mir immer sehr viel Freude bereitet hatte. Ich erinnerte mich an die leuchtenden Kinderaugen, wenn ein Stempel als Belobigung für eine besonders formgetreue Buchstabenreihe seinen Weg in ein Erstklässler-Heft gefunden hatte oder die Klassenmaus auf einem Poster im Klassenzimmer am Ende einer Schulwoche bei vorbildlichem Verhalten mit einem Käse-Aufkleber hatte „gefüttert“ werden dürfen. Pubertierende Heranwachsende, so überlegte ich, würde ich nicht mit solchen Mitteln „ködern“ können, und ich fürchtete, dass sich mein nächster Einsatz als Krankheitsstellvertreterin als große Herausforderung herausstellen könnte. Vielleicht war es auch einfach die Angst vor dem Unbekannten, die mich mit Unwohlsein erfüllte, und da ich diese nun schon einmal erfolgreich überwunden hatte, entschloss ich mich, auch diese neue Herausforderung anzunehmen und zuversichtlich in die Zukunft zu blicken.

Augenblicke später nahm ich den Telefonhörer in die Hand und wählte die Nummer der promovierten Persönlichkeit, die mir wenig später versuchte, meine neue Aufgabe und die damit verbundene Mehrbelastung so schmackhaft wie möglich zu machen. Ich fragte mich, ob sie selbst jemals einen Fuß in ein Klassenzimmer gesetzt hatte, geschweige denn sich vorstellen konnte, mit welchen Belastungen der Lehrerberuf tatsächlich einherging. Ich formulierte eine knapp gehaltene Zusage und legte mit einem tiefen Seufzer den Hörer auf, überzeugt, dass ich nicht vor diese Prüfung gestellt wurde, um aus Angst vor dem nächsten Hindernis einen Rückzieher zu machen, sondern um in mir die Kraft zu finden, meiner Angst mit Zuversicht zu begegnen.

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