Kitabı oku: «Die Akte Hürtgenwald», sayfa 2
»Sie wissen ja, jeder Fall, der älter als die 70er-Jahre ist, ist eigentlich längst wegen der verstrichenen Aufbewahrungsfrist entsorgt worden.« Müller setzte sich auf die Kante von Straubingers Schreibtisch und nahm ihm die Akte kurz aus der Hand, schlug sie auf und betrachtete das Foto von Heinrich Vandenberg. »Wolfberg ist dieser Fall sehr nahegegangen, ich hab damals als Junge zugehört, als er das meinem Vater mal erzählt hat. Und mir ist seine Beschreibung nicht aus dem Kopf gegangen, wie er und der damalige Förster, der alte Enno ter Wey, den Toten gefunden haben.«
»Und ein Hepp Dorenbusch, der hat das ja gemeldet, steht hier drin.«
»Ja, genau«, bestätigte Müller. »Da war noch jemand dabei.«
»Hepp Dorenbusch, Besenbinder, Gressenich, wohnhaft Dorado.« Straubinger stutzte. »Was bedeutet Dorado?«
Müller zuckte die Achseln. »Nie gehört.«
»Aber warum hat er gerade diese Akte gehütet?«
»Wolfberg hat wohl irgendwie Zweifel an irgendwas gehabt.«
»Und, haben Sie dann weiter nachgeforscht?«
Offensichtlich war Müller Straubingers Frage unangenehm. »Na ja, Sie wissen, wie das ist. Das war unendlich lange her und ich hatte anderes zu tun, als ich den Laden hier übernommen habe. Aber die Akte hab ich ja wenigstens verwahrt.«
»Mir erscheint da Einiges merkwürdig. Nur zwei beschriebene Seiten. Keine weiteren Nachforschungen.«
»Es gab damals viele Minentote, bis lange Zeit nach dem Krieg. Das war also nichts Außergewöhnliches. Man hat das seinerzeit als ein naturgegebenes Schicksal betrachtet.«
»Trotzdem, irgendwas scheint mir nicht klar.«
»Und wenn schon«, sagte Müller abweisend. »Es ist nicht Ihre Aufgabe, HK Straubinger.«
»Ich würde mich gern drum kümmern. Mord verjährt nun mal nicht.«
»Es war kein Mord! Vandenberg ist auf eine Mine getreten, es war also kein Mord.«
»Vielleicht, vielleicht nicht. Kollege Wolfberg hatte daran anscheinend Zweifel.«
Müller wurde unruhig. »Wie kommen Sie drauf?«
»Darf ich?« Straubinger nahm die Akte wieder an sich, zog den Zettel heraus.
Müller beugte sich über und Straubinger las vor: »›Akte Hürtgenwald‹, darunter ein großes Fragezeichen, mit Bleistift geschrieben. Darunter die Frage: ›Wonach hat Vandenberg gesucht?‹ Und zum Abschluss die Initialen ›M.W.‹«
Müller richtete sich wieder auf. »Wo hat der Zettel gesteckt?«
»Hinten bei dem Foto, ein bisschen versteckt in der kleinen Leinentasche.«
Straubinger beobachtete, wie es in Müller arbeitete.
»Gut, HK Straubinger. Nehmen Sie sich der Sache an. Vielleicht bin ich das dem alten Wolfberg schuldig.« Müller schüttelte den Kopf und stöhnte. »Hab ich es doch gewusst! Warum musste der Herrgott mir einen Mordermittler schicken?« Flehend blickte Müller an die Decke und reckte die Hände in Verzweiflung wie einst Desdemona im Angesicht Othellos. Dann wurde sein Blick streng. »Aber bitte vergessen Sie nicht, wozu Sie eigentlich hier sind. Machen Sie das im Stillen und außerhalb der Dienstzeit. Wir werden sehen, was sich draus entwickelt. Einverstanden?«
»Akzeptiert, Sie sind der Chef.«
»Und übrigens: Sie sollten eine Kaffeemaschine hier unten haben. Da in dem Schrank, unten links, da müsste sie stehen. Die können Sie nehmen.« Müller stützte die Hände in die Hüften, nickte und verließ den Raum.
Straubinger ging zu dem offenen Aktenschrank und räumte unten links einen Karton zur Seite. Und da stand sie, eine »Wigomat 100«, völlig verstaubt. Straubinger lachte. So was gab es eigentlich nur noch im Design-Museum, Abteilung 50er-Jahre. Diese Kaffeemaschine war tatsächlich älter als er. Grinsend schüttelte er den Kopf und schloss die Schranktür.
Nach diesem denkwürdigen Tag in Stolberg fuhr Straubinger durch einen heftigen Regensturm auf die Autobahn und zurück nach Köln. Nach eineinhalb Stunden war er in seiner Wohnung.
Freitag, 12. Juni
Der Hürtgenwald
Das Gesicht des Mannes und das Foto seiner Leiche hatten ihn nicht losgelassen, er hatte schlecht geschlafen. Jetzt saß er frisch geduscht am Frühstückstisch und strich sich durch die Haare. Der Duft von frischem Kaffee half ihm, munter zu werden. Und schnell waren die Bilder von gestern wieder da. Von dem Mann, dem Toten im Gressenicher Wald.
Ein diffuses Gefühl der Unruhe kam in ihm auf. Der Mann und der Fall erinnerten ihn an ein Ereignis, das lange zurücklag. War es das Porträt? Oder war es das Foto im Wald, der Tote, wie er dort inmitten dieser einsamen Waldlichtung lag, kaputte Bäume ringsumher, sein Bein in einem der Äste hängend. Grausam.
Josef Straubinger war in den Wäldern des Chiemgaus aufgewachsen, sein Vater war Bauer gewesen und hatte zwei Hektar besessen. Jeden Sommer hatte es ihn mit den Nachbarn in die Forste gezogen, um für den Winter vorzusorgen, denn die Höfe der Region wurden allesamt mit Scheiten beheizt. In der Nachbarschaft hatten sie zusammengehalten, man hatte sich gegenseitig geholfen. An einem warmen Sommertag im Juli, bei Neumond, zogen sie aus. Dem Korbi Mühlburger, dem stets gut gelaunten Nachbarn, war es nicht wohl an diesem Morgen. Er klagte über Magenprobleme. Selbst der Kräuterschnaps hatte keine Besserung gebracht. Doch er wollte nicht zurückstehen und begleitete Straubingers Vater und die anderen. Und er, der zwölfjährige Josef, durfte auch mit. Mit festem Bergschuhwerk, einer groben Leinenhose und einer dicken Cordjacke bekleidet, war er bestens gerüstet für die schwere Arbeit. Als sie gerade dabei waren, eine riesige Fichte, die der Vater und der Bruno geschlägert hatten, mit dem Flaschenzug den Hang hinaufzuziehen, da passierte es. Straubinger erinnerte sich, wie er die Riesenratsche bediente, die der Korbi ihm eingerichtet hatte. Zug um Zug ächzte der Baum den Hang hinauf. Dem Korbi wurde unvermittelt schlecht. Er ging ein paar Schritte den Hang hinab und übergab sich. Dann, plötzlich, rutschte er aus, glitt auf dem Hosenboden auf den Baum zu und verhakte sich im Schritt mit beiden Beinen zwischen Stamm und Boden. Er fluchte. Straubingers Vater und der Bruno hechelten den Hang hinauf. Riefen ihm etwas zu. »Auslassen, Josef, auslassen!« Doch er hatte nicht gewusst, was sie meinten. Panisch hatte er den winzigen Hebel betätigt, der die Bremsnase aus dem Zahnrad der Ratsche löste, und der Baum war den Hang hinabgerast. Der Korbinian hatte geschrien wie am Spieß, denn der Baum und das Stahlseil hatten ihm den Unterschenkel abgerissen.
Straubinger saß am Küchentisch und schüttelte sich. Die Erinnerung daran war jedes Mal fürchterlich. Der Korbinian hatte ihm niemals die Schuld gegeben. Mit einem trefflichen Holzbein ausgestattet, hatte er ihm immer wieder gesagt: »Mein Junge«, währenddessen hatte er auf das Holz geklopft, »hätt der Herrgott gewollt, dass ich mein Bein behalt, hätt er mir morgens keinen üblen Magen beschert.« Da wurde ihm klar, an wen ihn das Porträt des Mannes aus dem Wald erinnerte. Der Korbinian hatte ähnlich ausgesehen. Hellblaue Augen, schütteres blondes Haar, Seitenscheitel. Straubinger starrte ausdruckslos an die Wand und trank langsam den Kaffee aus. Dieses Gesicht!
Als er seine Wohnung im Kölner Süden verließ, regnete es in Strömen. Auf der A 4 Richtung Aachen war die Hölle los. Er kam eine halbe Stunde zu spät in Stolberg an und begab sich gleich ins Archiv.
»Guten Morgen!« Eine junge Frau, Ende 20, kam auf ihn zugeschossen und streckte ihm die Rechte hin. »Anja Schepp, ich soll Ihnen helfen, hier Ordnung reinzubringen.« Sie grinste verlegen.
»Das ist schön, Anja Schepp. Darf ich Anja sagen?«, fragte Straubinger, wobei sein brummiger Bariton fast warm klang.
»Ja, klar«, antwortete Anja fröhlich.
»Haben Sie schon mal so was gemacht?«
Sie zögerte. »Na ja, zum Schluss. Bei Ihrer Vorgängerin.«
»Nanu, und Sie haben das nicht bemerkt? Ich meine dieses Chaos?«
Anja sah zu Boden. »Doch«, sagte sie leise. »Ich hab es ja … aufgedeckt … also sozusagen. Ich hab ja bemerkt, dass …«
»Dafür müssen Sie sich nicht verteidigen. Das ist doch gut, dass Sie das bemerkt haben.«
Sie lächelte verschämt. »Finden Sie? Hm … Ihre Vorgängerin fand das nicht. Die hat mich ganz schön beschimpft.«
»Ich beschimpfe Sie nicht.« Straubinger ging zu seinem Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz, hier, gegenüber.« Straubinger klatschte kurz in die Hände. »Also, dann fangen wir mal an.«
Anja Schepp erklärte ihm, wie alles zusammenhing, wo er was finden konnte und ein paar Worte zum Chef. »Ein wirklich netter Mensch, aber reizen Sie ihn nicht, er kann ganz schön ungemütlich werden.«
»Er ist Polizist. Warum sollten Polizisten immer nur lieb sein?«, fragte er sie.
»Auch wieder wahr.« Anja Schepp nahm eine Flasche Wasser aus ihrer Tasche und trank sie zum Drittel aus. »Ah«, stieß sie genussvoll hervor. »Aachener Heilwasser. Wollen Sie einen Schluck?«
»Macht das was mit mir?«, fragte Straubinger scherzhaft.
»Einen klaren Kopf. Köln hat sein Kölsch zur Verwirrung, Aachen seine Heilquellen zur Wiederbelebung.« Sie goss ihm ein Glas ein und stellte es ihm hin. »Die Produktion wird Ende des Jahres eingestellt. Noch haben Sie also die Chance, Körper und Geist zu reinigen.«
»Danke!« Straubinger probierte und verzog das Gesicht. »Uiui, ist Ihnen da der Salzstreuer reingefallen?«
Anja lachte. »Ha, Sie sind nicht der Erste, der so reagiert. Aber Sie werden sehen, es wird Ihnen guttun.«
Straubinger nickte. »Nun gut«, sagte er und trank den Rest des Glases aus. »Anja, was ganz anderes. Kennen Sie Gressenich?«
»Klar, so ein Dorf, gehört zur Stadt Stolberg.«
»Und wo liegt das? Gibt es so was wie eine Umgebungskarte?«
»Ja, kommen Sie, hinten an der Wand steht eine, die können wir aufhängen.«
Anja Schepp ging voran und drei Regalgassen weiter stand tatsächlich eine große aufgezogene Wandkarte mit dem Stadtgebiet von Stolberg.
Straubinger hob die Karte hoch, schleppte sie zurück und stellte sie auf den Tisch, sodass sie gegen die Wand lehnte. »Ein bisschen muffig«, sagte er und rümpfte die Nase.
»Also, Gressenich, das ist nicht weit«, erklärte Anja Schepp. »Sehen Sie, hier sind wir, Stadtteil Münsterbusch. Dort ist die Stolberger Burg, und noch weiter, immer nach Osten, da ist Gressenich. Ungefähr … vielleicht zehn Kilometer von hier weg.«
»Also eine Viertelstunde mit dem Auto?«
»Ja, ungefähr. Ist ganz schön da. Aber auch wirklich eigenwillige Leute.« Sie zog einen Flunsch.
Straubinger nickte. »Wo nicht?«
»Ja, wo nicht. Aber dort besonders. Sie haben keinen Karnevalsprinzen, Karneval feiern sie an anderen Tagen und sie hätten immer noch gern einen eigenen Bürgermeister.«
Straubinger lachte. »Von diesem Karnevalszeug verstehe ich zwar nichts, aber hört sich in der Tat sehr eigenwillig an. Wo auf der Karte ist der Gressenicher Wald?«
Anja sah ihn mit großen Augen an. »Da fragen Sie mich was!« Sie schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Irgendwo bei Gressenich, nehme ich an.«
»Genau so ist es, südlich von Gressenich«, sagte eine Stimme von der Tür her. EPHK Müller betrat den Raum. »Ich bringe Ihnen was. Frischer Kaffee aus Aachens bester Rösterei. Und Filtertüten. Milch und Zucker.« Er stellte eine Dose und eine Tüte auf den kleinen Tisch.
»Vielen Dank, Sie sind ja ein großartiger Chef!«, sagte Straubinger sichtlich erfreut.
»Haben Sie die Maschine getestet?«
»Äh, nein, keine Zeit gehabt.«
»Aha! Dann mal los.« Müller ging zum Schrank und holte die Maschine raus. »Oh je, die muss mal geputzt werden. Dahinten ist ein Waschbecken, Straubinger, schon gesehen?« Müller ging hin und begann, die Maschine vom Staub zu befreien.
»Frau Schepp, besorgen Sie doch mal ein paar Tassen, bitte«, rief Müller, füllte Wasser in den Glasbehälter und ging hinüber zu Straubingers Tisch. Er gab Straubinger das Kabel mit dem Stecker in die Hand, legte einen Filter in den Trichter und füllte ihn mit Kaffeepulver aus der Blechdose, die ein Relief des Aachener Doms zierte. Ein paar Sekunden später röchelte die Maschine kaum hörbar los. Kaffeeduft erfüllte augenblicklich den Raum.
»Wusste ich es doch, sie funktioniert. Das war noch Qualität! Und fast geräuschlos. Das Wasser läuft nur durch Metallbauteile. Im Gegensatz zu den heutigen Maschinen aus Plastik. Die hier kann noch richtig guten Filterkaffee machen.«
Anja kam zurück und brachte drei Steinguttassen.
Müller schenkte jedem Kaffee ein. Dann stellte er sich vor die Karte. »Sehen Sie sich unsere Heimat gut an, HK Straubinger. Studieren Sie die Karte. Jeder Fall, den Sie hier in dem Chaos finden, hat irgendwo dadrauf seinen Punkt.« Müller trank einen Schluck. »Ahh, ist der gut!«
Straubinger trat ein Stück näher und trank ebenfalls. »Tatsächlich, nur ein bisschen Staubgeschmack«, sagte er und verzog kurz das Gesicht, »aber nach dem dritten Durchlauf ist der auch weg.«
»Sehen Sie hier«, erläuterte Müller, »alles, was im Süden von Gressenich liegt, das ist der Gressenicher Wald. Das ist der nördlichste Teil des Forstgebietes, das man Hürtgenwald nennt.«
»Ich hab mal ein Buch von Ernest Hemingway gelesen, ist das dieser Hürtgenwald, den er in dem Buch beschreibt? Wo diese Riesenschlacht war? Das größte Desaster für die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg?«
»Ja genau, das ist der Hürtgenwald. Dieser dicht bewaldete Höhenrücken hier«, sagte Müller und zeigte auf die Karte, »zwischen Roetgen, unten im Süden an der belgischen Grenze, Stolberg im Westen, Langerwehe und Düren im Norden. Und dieser obere Teil des Hürtgenwalds, also der Gressenicher Wald, gehört zum Stadtgebiet von Stolberg«, schloss er und fächerte mit der Handfläche über die Karte. »In diesem verfluchten Hürtgenwald, da haben die Amerikaner so viele Soldaten verloren wie sonst nirgendwo. Zehntausende Männer, die genaue Zahl kennt man nicht. Die Deutschen nicht ganz so viele. Und vor Gressenich, da sind die Amis damals hängen geblieben. Aber«, sagte er leise, »das erzähl ich Ihnen ein andermal. Ich muss jetzt weiter.«
»Und Vandenberg?«, fragte Straubinger.
Müller sah ihn verdutzt an.
»Die ›Akte Hürtgenwald‹, Heinrich Vandenberg. Wo ist er gestorben?«
Müller runzelte die Stirn. »Tja, genau kann ich Ihnen das auch nicht …« Er fixierte noch einmal die Wandkarte und zeigte schließlich auf einen Punkt. »Also das hier ist der Parkplatz ›Buche 19‹«, murmelte er und fuhr mit dem Finger den Bachlauf nach Süden entlang, »hier unten, da etwa. Da muss das gewesen sein. Mitten im Gressenicher Wald.«
Straubinger nickte und nahm noch einen Schluck.
»Tun Sie mir einen Gefallen, HK Straubinger. Beißen Sie sich nicht zu sehr fest in die Sache», sagte Müller und schlenderte zur Tür.
»Danke für den Kaffee!«, rief Straubinger ihm hinterher.
Anja Schepp setzte sich an ihren Tisch und betrachtete die Karte. »Da lernt man in einer Minute mehr über seine Heimat als in drei Schuljahren Heimatkunde.«
Straubinger sah sie ein paar Sekunden lang an. »Sagt Ihnen der Kupferhof Blumenthal etwas?«, fragte er schließlich.
»Blumenthal? Ja sicher. Das ist das Stammhaus der Vandenbergs. Eine alte Villa. Mitten in Stolberg. Schönes Anwesen.«
»Kupferhof? Was bedeutet das?«
»Stolberg ist eine alte Kupferstadt. Steht ja auch auf allen Ortsschildern, Kupferstadt Stolberg.«
»Und die Vandenbergs? Was sind das für Leute?«
»Kupfermeister, reiche Industrielle.« Anja hob die Schultern. »Ich kenne sie nicht, nie gesehen. Irgendwie abgehoben, glaub ich. Was weiß ich? Hab in Heimatkunde nie so richtig aufgepasst.«
Straubinger stutzte. Heinrich Vandenberg entstammte also einer reichen Industriellenfamilie. Und so jemand machte Holzarbeiten im Wald? Zu jener Zeit wurden die Klassenunterschiede noch viel deutlicher gelebt als heutzutage. Sehr geheimnisvoll, dachte Straubinger. Er nahm sich die Akte noch einmal vor und las. Dann stutzte er. »Anja, können Sie mal rausfinden, was eine ›Dolmar CP‹ ist?«
»Wie?«
»Dolmar CP«, wiederholte Straubinger.
»Klar«, sagte sie, verdrehte die Augen, tippte etwas auf der Tastatur und starrte angestrengt auf den Bildschirm.
»Ich hab’s! Die erste Einmann-Benzinmotorsäge weltweit trug den Namen Dolmar CP. Wurde 1952 in Deutschland erfunden.«
»Hier im Polizeibericht steht, dass sich unmittelbar neben Heinrich Vandenbergs Leiche so eine befand.«
»Ja, und?«, fragte Anja.
Straubinger kramte das Bild hervor, auf dem die Leiche zu sehen war, und legte es Anja hin. »Sehen Sie irgendwo eine Kettensäge?«
Anja sah sich das Bild an, verzog das Gesicht. »Nein, keine Kettensäge. Aber ganz schön heftig«, sagte sie leise und reichte Straubinger das Bild zurück über den Tisch.
»So was machen Minen mit einem.«
Heute war Freitag. Am Nachmittag, nach Dienstschluss, würde er diesen Kupferhof Blumenthal besuchen. Und anschließend, wenn noch Zeit blieb, würde er sich dieses Dorf einmal ansehen. Das befahl ihm einfach seine Neugier.
*
Kupferhof Blumenthal
Gesäumt von kniehohen Mauern, endete die gepflasterte Einfahrt an einem prunkvollen Torbogen aus Blaustein. Zwischen den vorgelagerten Betriebsgebäuden und dem Torbogen spannten sich hohe Brüstungsgatter, die oben in Lilienspitzen endeten und das Überklettern unmöglich machten. Dahinter thronte ein mächtiger dreistöckiger Bau mit einer Fassade aus gelbrotem Sandstein, die von Simsen und Faschen aus demselben Blaustein gegliedert wurde, aus dem auch der Torbogen war. Eine Freitreppe mit kunstvoll gestaltetem Schmiedewerk und Zustiegen von rechts und links führte zu dem mächtigen Eingangsrisalit, der oben in einem klassisch dreieckigen Giebel abschloss. Das graue Blechdach und die beiden Schornsteinbauten aus rotem Ziegelmauerwerk verliehen dem Gebäude trotz seiner Pracht den Eindruck unprätentiöser Behaglichkeit.
Straubinger war beeindruckt. Er sah auf die Uhr. 15.10 Uhr. Auf Viertel nach drei hatte er sich angemeldet. Nun stand er vor dem runden Blumenbeet aus Buchsbäumen und Rosensträuchern, das die Hofeinfahrt wie eine Verkehrsinsel teilte. Dahinter, am Fuß der Freitreppe, befand sich ebenfalls ein Beet mit unterschiedlichen Sträuchern und Pflanzen, flankiert von zwei weißen Puttenstatuen, die die beiden Treppenaufgänge bewachten. Hier schien alles seine klare Ordnung zu haben.
»Wow, so möchte ich auch mal wohnen«, murmelte Straubinger und blickte an der Fassade empor zu der prachtvoll ornamentierten Schmuckfläche des Giebeldreiecks. Er bemerkte, dass er beobachtet wurde. Im zweiten Stock lugte eine Frau aus einem der weißen Sprossenfenster. Sie zog sofort ihren Kopf zurück und knallte das Fenster zu.
Zwei Minuten später stand Gerhild Vandenberg in einem schwarzen Morgenmantel aus blumenbesticktem Samt vor ihm, der bis zum Boden reichte. Ihre Haare waren unter einer Samthaube versteckt, ihr Gesicht frisch geschminkt, knallroter Lippenstift, dunkler Lidschatten, leicht nachgezogener Augenbrauenstrich, und ihre Füße steckten in plüschbesetzten roten Pantoffeln. Am auffälligsten jedoch waren ihre wachen Augen. Einen Moment war es Straubinger so, als würde er in dem funkelnden Glühen ihres Blicks versinken.
»Es ist Freitag, ich hab meine Fitnessübungen gemacht, komme gerade aus der Wanne, und Sie überfallen mich hier wie ein Kater eine Maus. Sie sind also der Hauptkommissar?« Ihre penetrante Blasiertheit überraschte Straubinger, doch er blieb ruhig.
»Ich hatte angerufen und mich angemeldet.«
»Ja, aber Sie sind fünf Minuten zu früh«, schimpfte sie.
»So ist es, Gnädigste, und ich habe Fragen an Sie, die sich kaum aufschieben lassen.«
»Kaum, sagen Sie. Das heißt doch, sie lassen sich aufschieben«, gab sie barsch zurück. »Sehen Sie, es gibt immer eine Möglichkeit, wenn man sich bemüht.« Sie musterte Straubinger von oben bis unten. »Ach was, kommen Sie rein. Was soll’s.« Sie drehte sich um und ging voran ins Haus. »Und schließen Sie die Tür.« Ihr Trippeln auf dem Steinfußboden hallte wider wie in einem Kirchengebäude.
Straubinger ging drei Schritte hinter ihr her. Plötzlich blieb sie stehen und drehte sich um. »Ich komme mir vor, als hätte ich einen … einen Mord begangen.« Dabei ließ sie ihre Arme in der Luft herumwirbeln.
»Wer weiß.«
»Oh, ich werde verdächtigt. Na, so was. Wen hat es denn erwischt?«
»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, die Ihre Vergangenheit betreffen.« Straubinger deutete auf einen der Stühle. »Darf ich mich setzen?«
»Vergangenheit?« Sichtlich irritiert sah sie ihn an. Erst als Straubinger die Stuhllehne anfasste, bot sie ihm einen Platz an dem großen Holztisch vor dem offenen Kamin an. »Ja, natürlich, setzen Sie sich. Oder gehen wir vielleicht in den Garten?«
Straubinger nickte und folgte ihr durch den nördlichen Gebäudeflügel. An den Wänden hingen Gemälde. Drei Bilder, nur Himmel und Wolken. Straubinger blieb fasziniert stehen.
»Gefallen sie Ihnen?«, fragte sie mit verschränkten Armen neben ihm. »›Der Morgen‹, ›Der Mittag‹ und ›Der Abend‹.«
»Ja, sie sind sonderbar. Leicht, verletzlich, und doch haben sie etwas Dräuendes, Eindringliches.«
»Sehen Sie, Sie haben es verstanden.« Ihr Tonfall wurde sanfter. »Kunst, die nur schön sein will, hat die Bezeichnung Kunst nicht verdient. Kunst muss Sie innen berühren, ganz tief in Ihnen drin. Ansonsten ist sie sinnlos.« Gerhild Vandenberg lächelte. »Dieser Mann hat uns alle berührt. Ganz tief, tief in uns drin.«
»Wer ist der Maler?«, fragte Straubinger.
Sie hob den Zeigefinger an die Lippen und sagte leise: »Psst, das wird nicht verraten.« Dann wandte sie sich um und ging weiter. »Kommen Sie, wir gehen raus. Ich habe gerade einen Tee aufgebrüht. Mögen Sie Tee?«
Straubinger nickte. Nach einer Minute kam sie zurück mit einem Tablett, darauf altenglisches Porzellan, ein kleines Sahnekännchen und eine Keksdose.
Sie nahmen Platz an einem weißen Tisch und ebensolchen Stühlen, die aus Gusseisen gefertigt waren, der morgendliche Regen war abgetrocknet. Gerhild Vandenberg goss den Tee ein und bot ihm Shortbread dazu an.
»Ein beeindruckendes Anwesen. Sagen Sie, wohnen Sie alleine hier?«
»Es gehört der Vandenberg-Stiftung und ich habe das Wohnrecht, lebenslang.«
Straubinger ließ seinen Blick schweifen. Ihm fielen die Holzskulpturen auf. Große Figuren, die ihn ein wenig an afrikanische Kunst erinnerten. »Wunderbar, Sie sind Liebhaberin afrikanischer Kunst?«
Sie lachte. »Gefällt es Ihnen?«
»Ja, sehr. Wunderschön.«
Sie wirkte ein wenig verlegen. »Ich mach das selbst. Schnitzen, behauen, bemalen. Meine Leidenschaft. Mit irgendwas muss man sich ja beschäftigen im Alter. Solange man noch kann.«
Straubingers Blick fiel auf ein Nebengebäude, dessen Steinfassade zwar ebenso gepflegt wirkte wie der Rest der Anlage, dessen direkte Umgebung aber verwahrlost war. Keine gemähten Rasenflächen, keine Blumen, ungeputzte Fenster, und jede Menge Kinderspielzeug aus Plastik lag verstreut umher, ausgeblichen und teilweise kaputt. In einem Sandkasten aus angefaultem Holz spielten zwei unvorstellbar hässliche Bullterrier-Albinos, die an Ketten gelegt waren. Daneben stand ein verrosteter Blechgrill, an dem eine ebenso verrostete Grillzange hing.
»Und wer wohnt dort?«
»Das kann man nicht wohnen nennen«, schimpfte sie zischend. »Dort haust der Albtraum. Ich weiß nicht, wieso. Aber mein Onkel hat dieser Familie freies Wohnen eingeräumt, schon seit ewigen Jahren. Der Alte ist lange tot, aber nun wohnen sie in dritter Generation dort und sie werden nicht weniger, wie sie unschwer erkennen können. Ungebildetes und streitsüchtiges Volk!«
»Wo sind sie denn alle? Sieht ja nach einem ganzen Klan aus.«
»Sie hatten heute Morgen Streit. Danach setzte es Schläge. Wie so oft. Die Polizei kommt gar nicht mehr her, wenn ich sie anrufe. Jedes Mal haben die zusammengehalten wie Pech und Schwefel und mich der Lüge bezichtigt. Statt die Kinder zu beschützen, hat die Polizei mir Schwierigkeiten gemacht. Sollen sie sich die Köpfe einschlagen, mir ist es egal. Nach einer Stunde sind sie alle ausgelaugt und geben Ruhe.«
»Und woher wissen Sie, dass sie sich nicht die Köpfe eingeschlagen haben?«
»Weil der dreckige Kerl nach jedem Streit erst mal die beiden Kampf-Albinos vor die Tür setzt. Die machen mir echt Angst.«
»Kann ich gut verstehen.«
»Manchmal bedroht er mich damit und seine beiden Jungs, zehn und zwölf, sind auch nicht besser.«
In dem Moment ging die Tür des Nachbargebäudes auf. Ein Hüne von einem Mann kam heraus und schnauzte irgendwas in Richtung der Hunde, sodass Gerhild Vandenberg zusammenzuckte. Aus dem Augenwinkel beobachtete Straubinger, dass er den Viechern ihr Fressen in einen Napf füllte.
»Wie heißt der gute Mann?«, fragte Straubinger leise.
»Das ist der Herr Dorenbusch.«
»Dorenbusch?« Straubinger horchte auf. »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir doch ins Haus zurückgehen? Wir sitzen ja irgendwie auf dem Präsentierteller.«
»Wenn Sie das möchten. Ich traue mich ja gar nicht mehr in meinen Garten. Und ich hatte mich gefreut, dass ein Mann neben mir sitzt, damit dieser Unmensch dort sieht, dass ich nicht ganz hilflos bin.«
Straubinger stellte beide Tassen auf das Tablett, nahm es, ging voran und setzte sich zurück vor den Kamin an den großen Holztisch. »Ich habe gestern eine alte Polizeiakte gelesen. Über den tragischen Tod Ihres Vaters im Jahr 1956. Dorenbusch, Hepp Dorenbusch, so hieß doch der Mann, der Ihren Vater damals gefunden hat.«
Sie nickte und Straubinger glaubte zu sehen, wie ihr ein Schmerz der Erinnerung durch die Glieder fuhr. Ihre Fassade schien zu bröckeln. »Ja«, antwortete sie leise. Zitternd. »Das ist der Mann, der damals hier eingezogen ist mit seiner Familie. Und das da eben, das war sein Sohn Dieter Dorenbusch.«
»Und Hepp Dorenbusch, er ist tot?«
»Tsss«, zischte sie. »Ja. Er war ja ganz nett. Damals ist er spurlos verschwunden, wurde aber für tot erklärt, damit diese elende Sippe das Erbe antreten konnte!«, antwortete sie fast schnippisch und deutete auf das Haus gegenüber.
»Wann ist er verschwunden?«
»Warten Sie, ich muss nachdenken. Ich glaube, es war 1968, im Sommer. Ja, er ist nicht mehr aufgetaucht. Einfach weg.«
»Und das ist nie aufgeklärt worden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben vermutet«, sagte sie leise, »dass er abgehauen ist. Durchgebrannt, mit einer Frau.«
»Wann hat Hepp Dorenbusch hier das Wohnrecht erhalten?«
»Es war kurz nach dem Tod meines Vaters. Unser Onkel, Vaters jüngerer Bruder Olaf, hat damals das Familienvermögen erhalten, so stand es in der Familienverfügung. Ich als unehelicher Bastard bekam nur einen Pflichtteil.«
»Wie geht denn das?«
»Damals war alles möglich. Juristen haben das so gedreht. Na ja, aber es geht mir ja einigermaßen gut. Olaf jedenfalls hat Dorenbusch hier einziehen lassen.«
»Haben Sie eine Idee, was Ihr Vater damals mit Hepp Dorenbusch im Wald gemacht haben könnte?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Es hieß Holzarbeiten.«
»Aber was sollte Ihr Vater dort für Holzarbeiten durchführen?«
Sie machte eine nachdenkliche Miene.
»Vielleicht hat er etwas gesucht?«, bemerkte Straubinger.
Sie seufzte und legte die Hände zusammen. »Es war damals für mich und für meine Cousine Gisela ein harter Schlag. Vater war ein wunderbarer Mann. Und auf einmal war er weg. Was hätten wir tun sollen? Sie haben uns gesagt, er wäre bei Holzarbeiten auf eine Mine …« Sie drehte sich weg, verzog ihr Gesicht und fing sich dann wieder.
»Verstehe«, sagte Straubinger. »Es muss sehr schwer für Sie gewesen sein.« Er trank einen Schluck Tee und betrachtete den Shortbread Finger, den er in der Hand hielt, biss hinein und kaute. »Sagt Ihnen Dorado etwas?«
Sie zog die Augenbraue hoch, stutzte und schüttelte den Kopf. »Nein. Dorado? Was soll das sein?«
»Ein Wohnort?«
»Eldorado, die sagenumwobene Goldstadt?« Sie lächelte.
»Nein, es soll irgendwo in Gressenich sein.«
Erneut schüttelte sie den Kopf. »Nie gehört. Das weiß ich nicht. In Gressenich kenne ich mich eigentlich kaum aus.«
Straubinger nickte. »Dieser Onkel, wo ist er und was macht er?«
»Olaf, er hat sich nach dem Tod unseres Vaters ganz allmählich zurückgezogen.« Sie machte eine Pause, weil die Hunde so laut kläfften und miteinander rangen, als würden sie sich gegenseitig auffressen wollen. Wie wild rannten sie hin und her, dabei knurrten sie bedrohlich.
»Scheißviecher!«, fluchte Straubinger aufgebracht. »Entschuldigen Sie, aber diese Hunde gehören nicht hierher.«
Sie nickte hilflos. »So geht das jeden Tag. Manchmal hetzt er sie auf mich und macht sich einen Spaß daraus zuzusehen, wie sie in die Kette rennen und kurz vor mir zum Stehen kommen, dass ich Angst bekomme. Und wenn ich ihn darauf ansprechen will, dann laufen die Hunde wieder auf mich zu. Der Onkel, der hat nach Vaters Tod als Nachlassverwalter das Familienvermögen in die Dürener Papierindustrie gesteckt. Man muss sagen, ziemlich erfolgreich, denn er lebt heute in einem kleinen Schloss dort oben.«
»Wieso hat er gerade in Düren investiert?«
»Die Frau vom Onkel, die gute Tante Ottilie, sie stammte von dort. Früh gestorben.«
Straubinger ließ den Blick schweifen. »Sagen Sie, was ist eigentlich mit Ihrer Mutter?«
»Meine Mutter? Na ja, sie hat mich damals gern abgegeben, in Vaters Obhut. Sie hat sich kaum um mich gekümmert. Ich hab sie noch ein paarmal gesehen nach Vaters Tod, aber sie war nicht gerade das, was man sich unter einer guten Mutter vorstellt. Vor 20 Jahren hab ich sie dann beerdigt. Lungenkrebs. Und tot«, sagte sie und machte eine Handbewegung, die das Zerplatzen einer Seifenblase imitierte.
»Ihnen geht es ja nicht gerade schlecht hier. Also bis auf den Nachbarn.« Straubinger beobachtete, wie sie reagieren würde.
Sie zeigte keine Regung. »Ich würde diese Leute dort gern loswerden, bisher ist es mir nicht gelungen.«
Irgendwie berührte Straubinger diese Frau. Ihre aufgeplusterte Art hatte zwar etwas von einer Vogelscheuche, aber er hatte erkannt, dass sie in frühen Jahren wohl ein hartes Schicksal hatte ertragen müssen, als sie ihren Vater verlor.