Kitabı oku: «Die Akte Hürtgenwald», sayfa 4

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1956 – Montag, 21. Mai

Gressenicher Wald, 9.35 Uhr

– eine Viertelstunde vor dem Moment

Sie führte den Jungen in einem weiten Bogen durch dichten Wald um die Lichtung herum, bis sie auf der gegenüberliegenden Seite angekommen waren. Der Junge blieb die ganze Zeit hinter ihr. Dann blieb sie stehen. »Guck mal!«, rief sie. »Siehst du?« Sie zeigte auf eine Stelle im Unterholz, wenige Meter vor ihnen.

»Uiui«, staunte der Junge, »zwei Steinpilze.«

»Die kannst du nehmen. Unten direkt am Boden abschneiden und vorsichtig in die Tasche legen. Da stehen bestimmt noch mehr«, sagte sie und wies auf das Wurzelwerk eines großen Baums, ein paar Schritte entfernt.

»Womit denn?«, fragte der Junge.

Sie fasste in ihre Manteltasche, lächelte ihn strahlend an, holte ein großes silberglänzendes Taschenmesser hervor, an dem eine kleine Kette mit einer Medaille baumelte, und hielt es ihm hin.

Der Junge konnte es kaum fassen. »Boaaah! Für mich?«, fragte er leise, als würde er befürchten, dass sie es wieder wegnähme.

Sie nickte. »Ja, für dich, mein Schatz. Du wirst bald acht. Da kannst du mit so was jetzt umgehen.«

Voller Glück nahm er das schwere Messer in die Hand, las die Gravur darauf mit seinem Namen und öffnete es. Er wollte seiner Mutter in die Arme fallen, doch sie hielt ihn zurück. »Vorsicht, mein Junge, es ist scharf!«, sagte sie.

»Das ist ja richtig groß! Woher hast du es?«, fragte er leise, voller Ehrfurcht.

»Es … Es ist …«, ihr Blick lag zwischen Demut und Befürchtung, »es ist von deinem Papa.«

Der Junge sah sie traurig an. »Wo ist er denn?«

»Du weißt doch, dass er nicht da ist.« Sie wollte ihm gerade ausführlicher antworten, da ging sie schnell in die Hocke und hob den Zeigefinger an die gespitzten Lippen. »Psst«, flüsterte sie, »da sind zwei.«

Der Junge klappte das Messer zu, stützte seine Hände auf die Knie und folgte ihrem Blick durchs Unterholz, und tatsächlich: Zwei Männer sprachen miteinander, der jüngere schien dem älteren etwas zu zeigen. Mitten in dem Durcheinander gesprengter Bäume.

»Was machen die da?«, fragte der Junge.

»Ruhig!«, zischte sie und gab ihm einen Klaps auf die Lippen.

Vor Schreck zwinkerte der Junge kurz mit den Augen. Dann beobachtete er, wie der ältere der beiden Männer mit einem merkwürdigen Gerät voranging. Er trug einen schweren Rucksack, hielt eine Stange mit einem dicken Teller am unteren Ende in der rechten Hand und bewegte sie hin und her über den Boden. Ab und zu hob er die Hand und rief etwas, woraufhin der Jüngere hinter ihm ein kleines Fähnchen in den Boden steckte. Dann rief der Ältere: »Ich hab hier was!«

»Mama, was ist das für ein Ding?«, fragte der Junge aufgeregt. »Das sieht aus wie ein … ein Putzschrubber oder so.«

Die Mutter folgte mit ihrem Blick seinem ausgestreckten Zeigefinger. Sie beobachtete, was der Ältere machte, und hob ratlos die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ist egal. Ist nix für uns, hörst du?«

Der Junge nickte enttäuscht. »Aber …«

»Nix aber!«, befahl die Mutter streng. »Wir machen weiter. Und lauf nicht weg, hörst du? Ich nehme die Pilze dahinten.«

Während seine Mutter Pilze abschnitt, hockte der Junge neugierig hinter einem Busch und schaute den beiden Männern zu. Der Ältere begann damit, das Gestrüpp zu entfernen. Der Jüngere ging etwa die Hälfte des Weges zurück, den sie gegangen waren, sah kurz zum Älteren hinüber, der ihm gerade den Rücken zukehrte und anscheinend sehr beschäftigt war, zog vier Fähnchen heraus und pflanzte sie an einer anderen Stelle wieder ein.

»Nun mach schon«, tuschelte seine Mutter mahnend.

Der Junge schickte sich an, die beiden Pilze zu ernten, so wie seine Mutter es ihm gezeigt hatte. Dann entdeckte er vor sich unter einem kleinen Haufen Reisig ein weiteres Exemplar, viel größer als die beiden anderen. Er schnitt den dritten Pilz vorsichtig ab und hob ihn wie eine Jagdtrophäe jauchzend in die Höhe. »Guck mal, Mama!«, rief er. »Ein Riesending!« Stolz stand er da, mit einem Steinpilz in der gereckten Hand, fast so groß wie zwei seiner Fäuste, das Taschenmesser in der anderen.

»Psst«, mahnte die Mutter erneut, deutete dem Jungen an, sich zu bücken, und hoffte, dass die beiden Männer sie nicht gehört hatten.

Samstag, 13. Juni

Privathaus Adalbert Meurer

»Vandenberg«, sagte Meurer und nickte. »Alteingesessene Messingdynastie.« Er strich sich durch sein struppiges graues Haar. »Die Familie um Heinrich I. Vandenberg ist 1595 aus Aachen hierhergezogen. Und Heinrich I. Vandenberg war nicht der einzige Kupfermeister, der nach Stolberg kam! Die Stadt hatte einiges zu bieten«, erklärte Meurer voller Stolz.

»Messing, Kupfer? Messingdynastie, Kupfermeister, was denn jetzt?« Straubinger war verwirrt.

»Also Kupfermeister ist eigentlich nicht richtig. Stolberg hat ein besonderes Erzvorkommen, das sehr selten ist in dieser Ausprägung. Galmei heißt es.«

»Da bin ich ja beim Vorsitzenden des Geschichts- und Heimatvereins genau richtig«, stellte Straubinger fest. »Und ich bin dankbar, dass Sie mich an einem Samstag empfangen.«

Meurer nickte sichtlich geschmeichelt. »Ja, Galmei ist eines der bevorzugten Forschungsobjekte in unserem Verein. Und dann hatten wir natürlich noch die Bleierze, weshalb sich in Stolberg ein beachtlicher Bleiabbau entwickelt hat, aber das ist alles längst vorbei.«

»Galmei also. Was ist das genau?«, fragte Straubinger.

»Ein Zinkerz. Hier in Stolberg hauptsächlich Zinkcarbonat, im nahen Belgien kommt es überwiegend als Silikat vor. Dort nennen sie das Erz Calamine oder Kelmis, so heißt deshalb auch ein größerer Grenzort in der Nähe von Aachen. In Belgien, genauer in der Stadt Dinant, haben die Messingschläger, die sogenannten Batteurs, bis ins 15. Jahrhundert Messingfeingeschirr hergestellt und nach ganz Europa verkauft, Paris, London, Deutschland. Nach der Zerstörung Dinants durch die Burgunder und Niederländer sind die Batteurs nach Aachen geflohen und haben sich später in Stolberg niedergelassen. Den Galmei hat man gemahlen, mit Holzkohle und Kupfer vermischt, dann auf 1.000 Grad erhitzt, und raus kam Messing, eine Legierung aus Zink und Kupfer.«

»Und das wurde hier in Stolberg hergestellt?«

»Ja, in den Kupferhöfen. Bis vor ungefähr 200 Jahren wusste man allerdings noch nicht, dass im Galmei eigentlich Zink drinsteckt. Messing hielt man daher für eine andere Form von Kupfer und man hat es ›Gelbes Kupfer‹ genannt. Die Messingschmiede hießen folglich Kupfermeister und deren Wohnhäuser und Betriebsstätten nannte man Kupferhöfe. Und davon gibt es in Stolberg, und nur hier, noch ein gutes Dutzend.«

»Und warum sind so viele Kupfermeister nach Stolberg ausgewandert?«

»Drei Gründe. Erstens: Gefäße aus Messing kamen damals in ganz Europa mehr und mehr in Mode. Um Messing in Massenproduktion herzustellen, brauchte man Wasserkraft für die Hammerwerke, mit denen man aus den Messingplatten die Hohlformen herstellen konnte. In Aachen aber gehörte das Wasser den Tuchfabrikanten. Zweitens: Galmei ist sehr schwer. Die Aachener mussten das Erz erst einmal aus Belgien holen. Da bot es sich doch an, die Hammerwerke direkt dort zu errichten, wo das Erz unmittelbar neben fließendem Wasser abgebaut wurde, nämlich in Stolberg.«

»Und der dritte Grund?«, fragte Straubinger.

»Die Religion. Die Aachener Kupfermeisterfamilien waren überwiegend Protestanten. Das urkatholische Aachen hat ihnen im Zuge der Gegenreformation das Leben schwer gemacht. Ihnen wurden die Rohstoffe gesperrt, sie wurden geächtet. Die Stolberger aber haben sie dankbar aufgenommen. Stolberg wurde dadurch reich, Aachen verarmte. Wie dumm kann man sein?«, sagte Meurer kopfschüttelnd und lachte. »Tja, und so kam es, dass wir uns in Stolberg heute rühmen dürfen, das älteste industrielle Familienunternehmen Deutschlands zu beherbergen, die Prym Werke.«

»Spannende Geschichte. Aber was ist mit den Vandenbergs?«

Meurer dachte kurz nach. »Tja, die Vandenbergs. Verlierer zur Zeit des Umbruchs.«

Straubingers Neugier wuchs. »Welchen Umbruch meinen Sie?«

»Irgendwann hat man dann doch festgestellt, dass reines Zink viel leichter ist als Galmei. Also schaffte man reines Zink fortan dorthin, wo das Kupfer gefunden wurde, statt umgekehrt. Dadurch verlor die Messingindustrie in Stolberg an Bedeutung. Die Kupfermeister mussten sich auf andere Geschäftsfelder einstellen. Kurzwaren, Glas, Textilien. Während andere das wunderbar schafften, verloren die Vandenbergs den Anschluss.«

»Und ihr Kupferhof?«

»Ihr Anwesen, der Kupferhof Blumenthal, verfiel in der Folge zunehmend. Ein Teil der Familie lebte nur noch in einem Flügel des Hauses, im Südflügel.« Meurers Gesicht drückte Bedauern aus, hellte sich aber gleich wieder auf. »Aber dann, wie durch ein Wunder, in den 30er-Jahren, da kamen die Vandenbergs wieder zu Geld.«

»Wie das?«

Meurer hob die Schultern. »Die Vandenbergs hatten in Bier investiert. Nazis haben ja nicht nur gebrüllt, gesoffen haben sie auch wie die Löcher. Vandenberg Pils, ein schlimmes Gesöff.«

»Eine turbulente Zeit«, bemerkte Straubinger lakonisch. »Aber Gerhild Vandenberg lebt ja heute noch dort.«

»Ja. Die letzte Vandenberg ist Gerhild Vandenberg.«

»Und Heinrich Vandenberg, ihr Vater?«

Meurer stutzte. »Aha, Sie haben schon ein wenig vorgearbeitet. Da läuft also der Hase lang!« Meurer atmete durch. »Tja, Heinrich III. Vandenberg, er ist damals mit dem Brauen wieder zu großem Wohlstand gekommen. Später starb er bei Waldarbeiten. Im Gressenicher Wald. Tragische Sache, ist wohl auf eine Mine getreten.«

»Wissen Sie Näheres darüber?«

»Unterlagen gibt es angeblich nicht darüber. Wir vom Geschichtsverein haben da sehr gründlich recherchiert. Sogar in den Polizeiakten haben wir nichts gefunden.« Meurer schüttelte den Kopf. »Nein, da existiert nichts mehr.«

»Und Gerhild, was war mit ihr?«

»Gerhild ist in meinem Alter, sie war also damals 16, als das mit ihrem Vater passiert ist.«

»Welches Verhältnis hatte sie zu ihrem Vater? Was war er für ein Typ?«

»So gut kannte ich ihn nicht. Aber ich weiß noch, dass er politisch eher liberal gewesen ist. Belesen, geachtet, und er war kein Nazi, im Gegensatz zu seinem Bruder Olaf. Der hat ja nach Heinrichs Tod nicht nur das Familienerbe, sondern auch Gerhilds Vormundschaft übernommen, der alte Nazi-Kopp.«

»Und sie, war sie nicht aufmüpfig gegen ihn, einen Nazi?«

Er lachte. »Nein, Gerhild war zu schüchtern, ein bisschen ängstlich und sehr verletzlich. Hat sich immer nur für Kunst interessiert. Sie war leise, wurde in der Schule nicht gut behandelt von ihren Gleichaltrigen. Als ›Kopperdöppe‹ wurde sie verspottet, also Kupfertöpfchen. Nicht etwa, weil sie aus einer Kupfermeisterfamilie stammte, nein. Sie hatte kupferrote krause Haare.« Meurer verfiel in einen Flüsterton. Hinter vorgehaltener Hand ergänzte er: »Sie war unehelich.«

»Ihr alten Leut.« Straubinger grinste und schüttelte den Kopf. »Ihr kriegt die verschrobenen Moralvorstellungen irgendwie nicht aus dem Kopf, wie? Ist doch kein Verbrechen, unehelich zu sein.«

»Nein, im Gegenteil, also heut ist das doch alles egal. Aber damals war das ganz anders.« Meurer winkte verunsichert ab. »Ich mein ja nur!«

»Was meinen Sie ja nur?« Straubingers Stimme wurde ein wenig ärgerlich.

»Also in den 50ern«, Meurer hob den Zeigefinger und schwang ihn bedrohlich hin und her, »da war das … Es war eben so … eine Schande, unehelich zu sein, das kann ich Ihnen sagen.«

»Schon klar, das arme Mädchen wird es jeden Tag gespürt haben.«

»Ja, äh, und die roten Haare, das lag in der Familie mütterlicherseits. Rote Haare, das war damals kein Zuckerschlecken. Ihrer Cousine Gisela«, Meurer hielt kurz inne und sah nach oben, »Robrecht mit Familiennamen hieß sie, glaube ich, ihr ist es damals ähnlich ergangen. Die beiden waren die besten Freundinnen.«

»Lebt sie noch, ihre Cousine?«

»Ja, sie lebt heute, soweit ich weiß, in Gressenich.«

Montag, 15. Juni

Am Waldrand

Gisela Robrechts Name stand im Telefonbuch. Straubinger stutzte. Eine dreistellige Telefonnummer?

»Sagen Sie, Anja, was ist denn das für eine Vorwahl?«, fragte er und hielt ihr das dünne Telefonbuch der Stadt Stolberg hin.

»Das ist die Vorwahl von Gressenich und umliegenden Dörfern. Hatte als Gemeinde eine eigene Ortsvorwahl. Ist bis heute so.«

Straubinger verzog verwundert das Gesicht. »Aber eine dreistellige Telefonnummer. Was bedeutet das?«

»Nix Besonderes. Außer, dass es eine sehr alte Nummer ist. Das muss also jemand sein, der schon lange dort wohnt.«

»Kennen Sie die Straße?«

Anja Schepp sah sich die Adresse an und machte ein unwissendes Gesicht. »Nein, kenn ich nicht. Liegt daran, dass ich in Gressenich gar nix kenne. War nur ein- oder zweimal dort.«

Straubinger griff zum Hörer und wählte die Nummer.

»Bei Robrecht«, meldete sich eine junge weibliche Stimme.

»Straubinger, Polizei Stolberg. Ich möchte gern Frau Gisela Robrecht sprechen.«

»Das geht jetzt nicht. Frau Robrecht ist nicht gut dran.«

»Mit wem spreche ich?«

»Martina. Pflegedienst ›Der Sorgsame Heiland‹.«

Straubinger sammelte sich. »Hm, ja, das verstehe ich. Kann ich Frau Robrecht besuchen? Ich habe eine Frage an sie.«

»Augenblick«, sagte sie. Nach ein paar Sekunden: »Hören Sie? Frau Robrecht fragt, ob es wichtig ist.«

»Es betrifft ihre Vergangenheit«, sagte Straubinger und wartete ab.

Wieder kurzes Schweigen. »Frau Robrecht fragt, ob es Ihnen am Nachmittag recht ist. Kommen Sie vorbei. So gegen halb fünf? Kaffeezeit?«

»Gut. Ich werde pünktlich sein.«

Es roch nach Regen. Unter ihm pfiff der Asphalt. Der Himmel war düster, das Kraftwerk in der Ferne kaum zu sehen. Am Ortsschild orientierte er sich nach seinem Navigationsgerät. Es führte ihn quer durch das Dorf, vorbei an der Kapelle, über den Bachlauf, auf der anderen Seite den Berg hinauf. Das Haus stand auf einer Anhöhe, ein wenig isoliert in einer Gruppe von Pappeln, Birken und Blautannen. Straubinger parkte den Volvo direkt vor dem Haus und ging den Kiesweg entlang, der durch einen üppigen Vorgarten führte. Ein lauter dreitöniger Gong erschallte, als er auf die Klingel drückte.

Es dauerte etwa eine Minute, da wurde das kleine Tor mit einem Surren entsperrt. Straubinger ging die Treppe aus Naturstein hinauf, der zart gebändert in grünlichen und lila Farben glitzerte. Die schwere Haustür, mit schmiedeeisernem Laubwerk verziert, wurde einen Spaltbreit geöffnet.

Straubinger stellte sich vor und zeigte seinen Ausweis. »Darf ich eintreten?«

Die Tür öffnete sich. Vor ihm saß eine vielleicht 70-jährige Dame in einem Rollstuhl, die wild frisierten Haare leuchteten rot. Die Ähnlichkeit zu ihrer Cousine ließ sich nicht leugnen. Sie trug ein elegantes Kleid, ihre Lippen waren dunkelrot nachgezogen, ihre Wimpern mit Mascara geschminkt. In ihren blauen Augen mit den großen tiefschwarzen Pupillen war nichts Trübes zu erkennen, was ihnen ein unerhörtes Maß von jugendlichem Glühen verlieh, obwohl die Gesichtshaut der Frau in unzähligen Falten lag.

»Kommen Sie vom Gesundheitsamt, Herr … äh … Staubinger, richtig?«

»Straubinger, mit r, und nein, ich komme nicht vom Gesundheitsamt. Ich bin Polizist.«

»Wollen Sie irgendwas prüfen? Oder warum machen Sie den weiten Weg hierher?«, fragte sie skeptisch.

»Nein, nein. Ich hab ein paar Fragen zu früher, zu Ihrer Kindheit. Alles andere interessiert mich nicht.«

»Gut, kommen Sie rein«, sagte sie, atmete hörbar erleichtert durch und fuhr ein Stück zurück.

»Erst einmal vielen Dank, dass Sie mich empfangen, liebe Frau Robrecht.« Straubinger reichte ihr die Hand. »Ich bin wirklich froh, dass es Ihnen offensichtlich besser geht als heute Morgen.«

»Ach, alles halb so wild.« Sie wiegelte ab und kicherte. »Sie müssen entschuldigen.«

Straubinger nickte.

Sie ließ seine Hand nicht los. »Heute Morgen, die Schwester Martina. Immer besorgt um mich. In Wirklichkeit geht es mir ganz gut. Aber wenn sie hier ist, dann spiel ich ein bisschen die Kränkliche«, gluckste sie mit diebischer Freude. »Sonst fühlt sie sich nicht genug beachtet. Sie will ja gebraucht werden, das liebe Ding. Sonst kommt sie vielleicht irgendwann nicht mehr.« Die alte Dame klopfte sich auf die Schenkel. »Sie quatscht zwar ein bisschen zu viel, aber ansonsten ist sie ganz nett.« Gisela Robrecht rollte voran in die Küche. »Kommen Sie!«

Straubinger ging ihr hinterher. »Setzen Sie sich. Sie bekommen jetzt von mir einen guten Kaffee.«

»Wohnen Sie allein?«

Sie nickte. »Ich hab ein bisschen was geerbt. Da hab ich ein frei stehendes Haus in einer schönen Umgebung gesucht. Vor 30 Jahren, wissen Sie, da konnte man sich so ein Haus noch leisten.« Sie zeigte auf die Kaffeemaschine. »Wären Sie so nett, bitte?«

Straubinger füllte zwei Tassen und brachte sie hinüber zum Tisch.

»Und Sie sind wirklich nicht von der Pflegekasse oder so?«

»Nein, ehrlich nicht. Ich hab wirklich keine Gesundheitsfragen.«

»Dann ist ja alles gut.« Sie atmete noch einmal tief durch, stand auf und ging zum Kühlschrank.

»Nanu? Sie können ja laufen«, sagte Straubinger staunend.

»Ja, den da hab ich nur, weil sie ihn mir zugeteilt haben.« Sie deutete auf den Rollstuhl. »Pflegestufe und so. Wenn ich jetzt sag, ich brauch ihn nicht, dann kommt niemand vom Pflegedienst. Und dann wäre ich sehr einsam. Wenn es klingelt, dann sitz ich immer im Rolli. Man weiß ja nie, ob jemand kontrollieren kommt. Milch? Zucker?«

»Schwarz.«

»Oh, einer von den harten Burschen«, sagte sie fröhlich. »Ich nehme Milch und Zucker. Mein Arzt schimpft, aber mir ist das egal.« Sie brachte ein Milchkännchen und eine Zuckerdose an den Tisch. »Und nun, was kann ich für Sie tun, Herr Staubinger?«

»Straubinger. Hauptkommissar Straubinger, wenn es Ihnen recht ist«, gab er zurück und grinste.

»Ja, klar, Strrrraubinger«, sagte sie belustigt und rührte in ihrem Kaffee.

Er rückte sich zurecht. »Als Sie ein Kind waren, da sind Sie in die Mädchenschule in Stolberg gegangen?«

»Ja, das bin ich. Das heutige Ritzefeld-Gymnasium.«

»Und Ihre Cousine Gerhild auch.«

»Ja, Gerhild auch. Sie war zwei Klassen unter mir. Den Abschluss hat sie also erst später gemacht.«

Straubinger beobachtete sie aufmerksam. »Aber sie ist doch gleich alt wie Sie?«

»Ja, aber sie war ein wenig … zurückgeblieben … so haben wir immer gesagt«, sie lachte peinlich berührt. »Sie wurde ja erst ein Jahr später eingeschult. Und dann musste sie kurz vor Schulende, also das vorletzte Jahr, das musste sie wiederholen. Sie war still, in sich gekehrt.« Das Bedauern in ihrer Stimme klang echt. »Sie wurde von allen unterschätzt. Dabei konnte sie wirklich gut zeichnen und werken. Sie macht ja heut noch diese bemerkenswerten Statuen«, fügte sie etwas geringschätzig hinzu.

»Ja, ich hab welche in ihrem Garten gesehen«, sagte Straubinger. »Und ihr Vater? Wie war er zu ihr?«

Ihre Züge wurden streng. Sie presste die Lippen zusammen. »Was … Was soll ich zu ihm sagen? Ein fleißiger, gut aussehender, von allen geachteter Mann.«

Das kam etwas oberflächlich, dachte Straubinger. Ihm fiel das Unbehagen in ihren Augen auf. »Und? Da war sicherlich noch eine andere Seite an ihm.«

Sie sah zu Boden. »Wissen Sie, ich will nicht schlecht über einen Toten reden.«

»Sie reden ja nicht über den toten Heinrich Vandenberg, Sie reden ja über ihn, als er noch lebendig war. Also erzählen Sie es mir. Wie war er sonst noch?«

»Der konnte ganz schön böse werden. Ein Choleriker. Herrisch war er, dieser Heinrich Vandenberg III., der verbitterte Sack.« Sie hob die Hand an den Mund, als wäre noch jemand im Raum. »War ja ein linker Hund!« Sie zog die Hand wieder zurück. »Ist von den Nazis ziemlich drangsaliert worden und bisweilen hat er das an allen anderen ausgelassen«, presste sie hervor. »Die Gerhild, die hat er nicht anerkennen wollen, lange nicht.«

»Inwiefern?«

Sie räusperte sich. »Gerhilds Mutter und meine Mutter kamen aus einer ärmlichen Familie. Kaum was zu beißen. Der Heinrich hat zwar Gerhilds Mutter nicht geheiratet, aber die Gerhild hat er zu sich holen müssen.«

»Müssen, wieso müssen?«

Gisela Robrecht verdrehte die Augen. »Ach, ihr jungen Kerle, ihr wisst gar nichts über früher. Es gab Vorstellungen. Vom Zusammenleben, von Anstand und so. Ein uneheliches Kind, das war nicht so einfach. Das war … Schändlich war das. Der Heinrich, der hat sie geholt, zum Trotz. Aber gemocht hat er sie deshalb noch lange nicht.«

»Und woher wissen Sie das alles?«

»Ich durfte sie oft besuchen, ich war eben die Cousine. Manchmal tagelang, wochenlang. Dem Heinrich war es recht, da musste er sich weniger um sie kümmern. Und meiner Mutter auch, ein Maul weniger zu stopfen. Seine Haushälterin, die brave Tini, die hat die Gerhild und auch mich streng erzogen. Heinrichs Frau war ja früh gestorben und er hat nie wieder geheiratet. Und uns ging es gut, solange der Olaf in der Nähe war.«

»Der Bruder, Olaf, war also gut zu ihr?«

Sie nickte, sagte aber nichts weiter.

»Und dann, dann ist ihr Vater, Heinrich, gestorben«, ließ Straubinger fallen. »Bei Holzarbeiten.«

Sie keuchte, schüttelte sich und sah an die Decke. »Die alten Geschichten. Immer wieder die alten Geschichten.«

»Wenn Sie eine Pause brauchen …«

»I wo! Ich brauch keine Pause. Ich will, dass das endlich vorbei ist! Wissen Sie, wie lange ich gebraucht habe, um alles zu vergessen?«

»Es war sicher schlimm für Gerhild, als er gestorben ist.«

»Ja, das war es … aber Holzarbeiten?« Sie hob die Schultern und seufzte. »Er konnte nicht mal eine Säge halten. Wir mussten es einfach glauben.«

»Was ist nach Heinrichs Tod passiert?«

»Gerhilds Onkel Olaf, er hat sich ihrer angenommen. Gerhild war klein, schmächtig, ein bisschen linkisch, mit kupferrotem Krollenkopp, sie konnte sich nicht wehren. Für die meisten Menschen galt er als unausstehlicher Mann, während sein Bruder Heinrich nach dem Krieg von allen hofiert und gemocht wurde. Und dann, nach Heinrichs Tod, da war nur noch Olaf übrig. Ein Scheiß-Nazi«, sagte sie und spie das Wort beinahe aus. »Aber mir hat er nichts getan.«

»Und ihr, also Gerhild?«

Sie hob die Schultern. »Er hat sie beschützt, wenn alle wieder mal über sie herzogen, sie wegen ihrer roten Haare beschimpften und verspotteten.«

»Rote Haare? War das Grund genug, jemanden zu verspotten?«

»Haben Sie ’ne Ahnung! Sehen Sie sich das an!«, schäumte sie vor Wut und krempelte sich die Arme hoch. »Sommersprossen überall. Rote Haare überall. Rote Haare waren in den 50er-Jahren noch was wirklich Schlimmes bei uns hier. Juden durften ja nicht mehr beschimpft werden, aber Leute mit roten Haaren, die konnte man beschimpfen und verschmähen. Mädchen und Frauen, das waren Hexen«, sagte sie, hob die Hand vor den Mund und flüsterte, »und galten vielen sogar als Huren.« Empört richtete sie sich auf. »Heute sind Frauen stolz drauf, wenn sie rote Haare haben. Gut so. Aber für Gerhild und mich, für uns kam das zu spät.«

»Das klingt alles ziemlich verbittert.« Straubinger beobachtete sie genau und erkannte, wie nahe ihr das immer noch ging. »Wie sind Sie und Gerhild damit umgegangen?«

»Umgegangen?« Zorn troff regelrecht aus ihren Worten. »Sie können sich das nicht vorstellen! ›Rote Ziege‹, ›Englische Hexe‹, das waren noch die feinsten Bezeichnungen, die sie für uns hatten. ›So was wie euch hätte man früher verbrannt‹, haben sie geschrien.« Dann zeigte sie ihm ihre Pulsadern. »Sehen Sie das? Quer geschnitten, so ein Quatsch! Wie es richtig geht, haben wir damals noch nicht gewusst. Ist halt schiefgegangen.«

»Oh Gott!« Straubinger stand blankes Entsetzen im Gesicht.

Sie sah ihm in die Augen. »Nein, nein, ich hab das alles längst überwunden. Aber Gerhild, sie hat viel länger darunter gelitten. Ich glaube, das tut sie heute noch. Ich konnte es mir irgendwann nicht mehr anhören. Wir haben kaum noch Kontakt. Heute kann ich darüber reden.«

Straubinger machte eine Pause. Dann fragte er: »Glauben Sie, dass jemand versucht haben könnte, Heinrich Vandenberg umzubringen?«

»Uff. Das ist ja eine Frage!«

»Überrascht Sie das? Also diese Frage?«

»Überraschen? Nein, die Frage an sich nicht. Was mich überrascht, ist, dass sie heute, nach all den Jahren, noch mal jemand stellt.«

»Hat das schon einmal jemand gefragt?«, wollte Straubinger wissen.

Sie grinste. »Und ob.«

»Wollen Sie mir verraten, wer?«

Sie nickte erneut. »Ein Militärpolizist vom Camp Pirotte in Aachen. Ein Belgier. Der tauchte damals bei uns auf.«

»Wissen Sie seinen Namen noch?«

»Ja, den weiß ich noch. Capitaine Jean-Baptiste Debiers aus Malmedy.« Sie sprach den Namen Debiers nicht französisch aus, sondern deutsch, wie Bier.

»Und den Namen haben Sie sich so gut gemerkt?«

»Ja«, antwortete sie. »Den Namen werde ich nicht vergessen.«

Straubinger ahnte, dass mehr dahintersteckte.

»Darf ich fragen, warum?«

»Er mochte meine roten Haare. Bis vor vier Jahren hat er sie gemocht. Dann ist er gestorben. Dort hinten«, zeigte sie, »auf der Couch, mit 71.«

*

Im »Petit Marron«

Straubinger parkte seinen Wagen vor dem »Petit Marron« um 18.00 Uhr. Vor dem Eingang standen einige Männer und rauchten. Auf der Tafel stand diesmal ein anderer Spruch: »Unser Möhrengemüse verbessert Ihre Sehkraft, unser Chardonnay verdoppelt sie!«

Der Wirt schien kreativer zu sein, als Straubinger vermutet hatte. Als er den Gastraum betrat, herrschte eine ausgelassene Stimmung. Die Kneipe war gut besucht, alle Tische, heute grün kariert eingedeckt, waren besetzt, es duftete nach Pommes Frites, Schnitzel und Huhn. Die Kellnerin hatte entsprechend viel zu tun und lief emsig hin und her, auf dem Hinweg mit kühlen Getränken und dampfenden Speisen, auf dem Rückweg stets mit einem Tablett voller leerer Teller und Gläser. Auch draußen unter der Kastanie waren alle Tische besetzt. Die Regenwolken hatten sich verzogen.

An der Theke standen und saßen ausschließlich Männer, die Bier tranken. Tschick musterte Straubinger griesgrämig, ohne zu grüßen. Am anderen Ende hatte der Wolkenmaler ein fast leeres belgisches Bierglas vor sich. Neben ihm saß ein Mann, der ebenfalls belgisches Bier trank. Bei den beiden stand ein großer Kerl, der Straubinger momentan den Rücken zukehrte, er hatte geölte schwarze Locken und trug einen hellen Anzug. Er redete auf den Wolkenmaler ein. Straubinger glaubte zu erkennen, dass der Kerl ihm unangenehm war. Erst auf den zweiten Blick erkannte er Dieter Dorenbusch, den miesen Nachbarn von Gerhild Vandenberg. Er grüßte den Wolkenmaler kurz und stellte sich abseits an die Theke.

»Ah, Bayern ist wieder da«, sagte der Wirt. »Was trinkst du, Fremder?«

»Wen könnte ich befragen, wenn ich etwas über die Zeit nach dem Krieg erfahren möchte. Also was den Gressenicher Wald betrifft. Gibt es da noch …«

»Geh doch mal in die Seniorenresidenz ›Der Sorgsame Heiland‹. Da leben einige, die es noch aus der Zeit gibt. Oder hier im Dorf ins Seniorenheim. Es gibt aber auch ein paar alte Leute, die noch zu Hause wohnen.«

»Hast du ein paar Namen?«

»Ganz schön neugierig«, sagte der Bierbaron und schüttelte den Kopf. »Was du alles wissen willst.« Dann beugte er sich leicht vor. »Tschicks Oma und Opa, die leben noch. Die könnten dir was erzählen. Sein Opa hat früher bei der Gemeinde gearbeitet, oder, Tschick?«

Tschick nickte mürrisch. »Aber Rumschnüffeln, das haben wir hier nicht so gern«, brummte der Glatzkopf. »Was gehen dich hier unsere Dinge an?«, fragte er bissig. »Bist du ein Bulle?«

»Mach mal ein Bier für Tschick«, rief Straubinger dem Wirt zu.

Sogleich stellte der Wirt Tschick ein frisches Pils hin. »Von ’nem Schnüffler nehm ich nix«, grummelte Tschick, stand auf, streckte den Arm, kippte das Bier genüsslich in den Ausguss hinter der Theke, fischte eine Zigarette aus seiner Packung und ging nach draußen.

»Schmeckt auch allein«, sagte Straubinger zu sich selbst und trank an seinem Kölsch. Er beobachtete den Mann, der neben dem Wolkenmaler saß. Straubinger schätzte ihn auf Mitte 40, er hatte schütteres, dunkelbraunes Haar, war ziemlich stämmig gebaut und groß gewachsen. Jetzt hob er die Hand und streckte dabei zwei Finger in die Höhe. Der Wirt ging zu ihm hin, sah den Mann an und fragte: »Encore deux bière belge?«

»Oui«, antwortete der Mann lächelnd und nickte.

Der Wirt zapfte zwei Leffe und stellte eines dem Mann und das zweite dem Wolkenmaler hin. Ohne aufzusehen, aber höflich prostete der Wolkenmaler dem Mann zu und trank einen Schluck.

»Hey, Bierbaron!« Straubinger winkte den Wirt zu sich. »Hast du Maßkrüge?«, fragte er ihn flüsternd.

»Pfff«, machte der Wirt und ruderte mit den Händen. »Ja, irgendwo im Keller stehen ein paar. Ich hatte mal so ’nen bayerischen Nachmittag. Waren nachher alle besoffen.«

»Hol zwei.«

Der Wirt grinste ablehnend. »Nee.«

»Hol zwei. Bitte!«

»Hört sich schon anders an«, sagte er und ging langsam hinaus. Als er zurückkam, spülte er die Maßkrüge durch und fragte: »Und jetzt?«

»Eine Maß Pils, eine Maß Kölsch.«

Der Wirt starrte ihn an.

»Also, ich warte!«, sagte Straubinger und verschränkte die Arme.

Der Wirt machte sich ans Werk und schüttelte den Kopf. »Ein Liter, das ist hier bei uns ein verdammt großes Bier!«, rief er gegen den Lärm an und verdrehte die Augen.

»0,2 wie das hier«, antwortete Straubinger und hob sein Kölschglas in die Höhe, »ist dort, wo ich herkomme, ein verdammt kleines Bier.«

In dem Moment kam Tschick wieder herein und stellte sich an seinen Platz. Der Bierbaron knallte ihm den Liter hin, den anderen stellte er vor Straubinger auf den Tresen.

»Bei uns, wo ich herkomme, da trinkt man das in einem Zug leer. Und ablehnen geht nicht.« Straubingers Blick war unerschütterlich.

An der Theke wurde es ruhig. Tschick schien überrumpelt und sah sich herausgefordert. Die Leute ringsherum starrten die beiden voller Erwartung an.

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25 mayıs 2021
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