Kitabı oku: «Mit dem Fahrrad vom Atlantik bis ans Schwarze Meer», sayfa 2

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Auch wenn ich mich pudelwohl bei meinem sympathischen Gastgeber mit der runden Brille, den weißen Haaren und dem gestreiften Longsleeve fühle, so ist es an der Zeit weiterzuziehen, obwohl es leider immer noch regnet. Jean malt mir den kürzesten Weg zum Campingplatz auf ein Stück Papier und öffnet die Haustür. Ich drücke ihm noch eine Magdeburg-Postkarte, einen Gruß aus meiner Heimat, in die Hände und parke aus. Solche kleinen Souvenirs habe ich auf jeder Reise dabei, sie schaffen eine Verbindung zu meinem Wohnort und sind der visuelle Zugang, mit dem ich zeigen kann, woher ich komme und wie es dort aussieht.


Der glückliche Jean an seinem Morgan

Während ich Fidibus nehme, um ihn rückwärts aus dem Schuppen zu schieben, knackt es plötzlich und mein Fahrradständer, der schon erste Spuren eines Defekts gezeigt hatte, bricht vollends ab und liegt traurig zwischen meinem Rad und mir. Jean und ich nehmen es mit Humor, mein Gastgeber hebt das kaputte Teil auf und ich entgegne lachend: „Nun haben Sie noch ein Souvenir von mir.“

Als ich wieder auf der Straße bin und der Route folge, die mir Jean aufgezeichnet hat, freue ich mich über meinen Makel in puncto Orientierung, denn was entginge mir nur, wenn ich mich nicht verfahren würde … Manchmal haben eben auch Schwächen ihre Stärken.

Die selbstgemalte Karte ist jedenfalls großartig und ich erreiche schnell die Stelle, an der laut meiner Fahrradkarte der Zeltplatz sein müsste. Ich rolle am Loire-Ufer vor und zurück, einmal, zweimal, dreimal, kann jedoch partout keinen Campingplatz ausmachen. Das gibt es doch nicht! Ich frage Jogger, Fußgänger, biege sogar zur nächsten Straße ab, um mich bei einem Autofahrer zu erkundigen. Ich weiß nicht, wie lange ich schon umherirre, als eine junge Frau, die Englisch mit mir spricht, ausführlich auf ihrem Smartphone recherchiert und dann eine Nummer anruft, von der wir beide der Meinung sind, sie gehöre zum Campingplatz, der nahezu vor unserer Nase sein müsste. Wir erfahren, dass er erst ab dem 22. Juni geöffnet hat, was erklärt, warum wir ihn nicht sehen, da das Areal noch komplett abgeriegelt und winterfest gemacht und damit nahezu versteckt ist. „Was mache ich denn jetzt?“, frage ich mich und fahre langsam Richtung Innenstadt, denn an eine Weiterreise bis zum nächsten Platz ist gar nicht zu denken, angesichts der abendlichen Tageszeit.

So viel zum Thema „Heute steht das Zelt mal zeitig“. Momentan fühlt sich der Grund, weshalb ich so gern individuell reise, also weil ich mich gern überraschen lasse, eher negativ als positiv an. Die Kehrseite der Medaille, die Seite, die mich mehr fordert als fördert, liegt oben. Allein unterwegs zu sein, ist aufregend, macht mir Spaß und hat bisher ja auch gut funktioniert, aber wenn es eben mal nicht so läuft, kippt die Stimmung doch ein wenig. Meine

Optionen sind zudem weniger, als sie es in Zweisamkeit wären, denn dann würde ich Wildniscamping in Erwägung ziehen. Aber allein begebe ich mich auf gar keinen Fall in ein nasses Gebüsch am Stadtrand, dafür fehlt mir der Schneid. Es bleibt also nur, irgendeine Form von touristischer Unterkunft zu finden.

Glücklicherweise entdecke ich bald ein Hotel, sehe aber keinen geeigneten Ort, an dem ich mein Rad, das ohne Ständer nun nicht mehr überall ausharren kann, sicher zu parken. So schiebe ich Fidibus in die Lobby, tropfe erst den Boden, dann den Tresen mit meinen Jackenärmeln voll, als ich mich zur Rezeptionistin hinüberbeuge und nach einem Zimmer frage. Nicht nur dieses Hotel ist restlos ausgebucht, sondern auch eine Handvoll anderer, welche die freundliche Frau für mich abtelefoniert. Ich schraube mein Maximalbudget zwangsläufig nach oben und sie findet ein freies Zimmer in der Nähe, was sie noch von 85 auf 80 Euro heruntergehandelt bekommt. Dank ihrer Wegbeschreibung finde ich es schnell und werde von einer jungen, perfekt geschminkten Mitarbeiterin freundlich begrüßt. Fidibus darf in den Haushaltsraum, in dem die Rezeptionistin ihn geduldig festhält, während ich alle Taschen entferne. Ich hinterlasse eine dicke Spur aus nassem Dreck, als ich am Fahrstuhl zum Stehen komme und den Knopf drücke. Zusammen mit all meinen Taschen, die ich mir an jedes erdenkliche Körperteil gehängt habe, quetsche ich mich hinein und fahre nach oben.

Es ist 20 Uhr, als ich die Taschenriemen, die sich trotz des nur kurzen Weges tief in meine Schultern geschnitten haben, von mir streifen kann. Ich lasse mich auf das Bett fallen, atme einige Male erleichtert durch und schäle mich dann aus den Klamotten, um mich auf den Weg unter die heiße Dusche zu machen. Anschließend möchte ich wenigstens einen meiner Pläne in die Tat umsetzen, erhitze Wasser und bereite mir den ersehnten Tassenpudding zu. Na bitte, geht doch!

Am nächsten Morgen bin ich schon um 7 Uhr wach, obwohl ich erst zur Geis-terstunde das Licht ausgeschaltet habe. Ich fühle mich noch müde, kann aber auch nicht mehr einschlafen. So schaut mir aus dem Badezimmerspiegel ein recht zerknautschtes Gesicht entgegen. „Dann wasche ich dich eben, wenn du nicht mehr schlafen willst“, grummele ich mein Abbild an und beschließe, die Zeit gut zu nutzen und mir Orléans anzuschauen.

Fidibus und mein Gepäck dürfen nach dem Auschecken im Hotel lagern, sodass ich unbeschwert und zu Fuß losziehen kann.

Die Stadt liegt am nördlichsten Punkt des Laufs der Loire und ist mir vor allem wegen Jeanne d`Arc, der Jungfrau von Orléans, bekannt. Unter Karl dem Großen erblühte die Stadt zu einem geistigen Zentrum, in dem im Jahr 1305 die erste Universität gegründet wurde. Im Laufe der Zeit erlangte Orléans so große Bekanntheit, dass man diesen Ort sogar als Hauptstadt Frankreichs betrachtete. Die Jungfrau von Orléans kam ins Spiel, als die Engländer die Stadt in den Jahren 1428/29 für fünf Monate belagert hatten, denn Jeanne d`Arc bekämpfte mit ihren Mannen die Eindringlinge erfolgreich und zog am 8. Mai 1429 als Nationalheldin in die befreite Stadt ein.

Nahe ihrer Statue, die sie auf einem hohen Sockel zu Pferd zeigt, lerne ich einen jungen Mann kennen, der hochkonzentriert über eine Sandskulptur gebeugt kniet und sorgfältig mit Küchenmesser und Pinsel ein Kunstwerk schafft, das ich jetzt schon als zwei schlafende Hunde erkennen kann. Offensichtlich sitzt er hier bereits seit einigen Stunden.


Besuch bei Jeanne d`Arc


Die wilde Loire

Neugierig zu erfahren, wer er ist, spreche ich ihn auf Französisch an, woraufhin er nur mit wenigen Worten gebrochen reagiert. Mit Englisch geht es auch nicht besser, wohl aber auf Spanisch, das sei seine beste Fremdsprache, erfahre ich von dem Rumänen. Er arbeite in seinem Heimatland als Lkw-Fahrer und mache gern Urlaub in Frankreich, um jeweils fünf Stunden pro Tag Sandfiguren zu erschaffen – etwas, was ihn erfülle. Dass hinter dem Mann, der hier so vertieft in seine Kunst am Boden hockt, ein rumänischer Brummifahrer steckt, welcher seine Ferien als Hobbykünstler in einem Land Tausende Kilometer entfernt verbringt, hätte ich wohl kaum vermuten können. Längst hat er sich wieder seiner Arbeit gewidmet und besprüht den Sand mit Wasser, um präziser modellieren zu können.

Mal zu Fuß unterwegs zu sein, noch langsamer als mit Fidibus, empfinde ich, auch angesichts dieser unerwarteten Begegnung, als sehr wertvoll. Außerdem macht mich die pure Leichtigkeit glücklich, die ich beim Flanieren ohne Gepäck fühle. Ich verliere mich in kleinen Gassen mit alten Fachwerkhäusern, sitze in der Sonne am Loire-Ufer, werfe einen Blick in die Kathedrale Sainte-Croix d’Orléans, religiöses Zentrum des Bistums Orléans. Der fünfschiffige Bau wurde vielfach zerstört und im Jahr 1601 im gotischen Stil wiederaufgebaut. Mein Blick schweift besonders gern über die Buntglasfenster, die das Tageslicht zum Leuchten bringen.

Überraschenderweise darf ich ein weiteres Treffen mit meinem Vater und Franka erleben. Die beiden haben die Gelegenheit genutzt, noch einige Tage Urlaub zu machen. Dieser neigt sich nun aber so langsam seinem Ende zu – allerdings nicht ohne ein Wiedersehen, wie sie mir per WhatsApp vorschlagen. Ihre Rückfahrtroute haben sie nämlich extra so gelegt, dass wir uns heute auf dem Campingplatz in Sully, gut 50 Kilometer von Orléans entfernt, sehen können. Ich freue mich auf einen finalen Abend im familiären Nest, in dem es für mich ganz sicher bestes Essen und für Fidibus ein wenig Pflege geben wird.

Meine Tagesetappe ist damit kurz und ich lasse es langsam angehen, pausiere auf einer Bank am Loire-Ufer und schaue mir die Wolken an, die sich im Wasser spiegeln, und erfreue mich am üppigen Grün an der Uferlinie, an Sandstränden in der Ferne und der endlich wiedererwachten Sonne, welche ihre Strahlen auf mein Gesicht schickt. Die Inseln, die ich immer wieder in diesem Fluss sehe, gefallen mir besonders, sind sie doch Kennzeichen eines Gewässers, das vom lauten vereinnahmenden Schiffsverkehr glücklicherweise verschont bleibt.


Pause hinter Orléans

Der Radweg führt unter anderem auf hervorragendem Asphalt auf dem Deich entlang und kurz vor meinem Ziel verläuft er dann abgegrenzt neben einer Landstraße, über die mein kleines familiäres Begleitteam und ich nahezu zeitgleich den Campingplatz erreichen. Die Freude über das Wiedersehen ist groß, wir tauschen unsere Erlebnisse aus, schlemmen gemeinsam, zeigen einander Reisefotos und spielen Boules – ein Hobby, dem meine beiden gern in ihren Campingurlauben nachgehen, vor allem in Frankreich, wo es an jeder Ecke entsprechende Plätze dafür gibt. Vor Einbruch der Dunkelheit baut mein Vater noch einen neuen Fahrradständer an meinen Fidibus. Ein passendes Geschenk, denn mein treuer Drahtesel und ich feiern heute Jubiläum: Eine ganze Woche schon fahren wir an Frankreichs wildem Fluss entlang und haben um die 550 Kilometer zurückgelegt. Es rollt …


Die Loire von oben in der Nähe von Sully

In meiner ersten Woche bin ich so freundlich in diesem Land aufgenommen worden, dass ich meine persönliche „Tour de France“ jeden Tag aufs Neue genieße. Immer wieder sprechen mich Menschen an, auch wenn ich sie gar nicht nach dem Weg frage. Wenn sie dann erfahren, wohin meine Reise noch geht, sind sie aus dem Häuschen und bewundern meinen großen Plan, bis nach Rumänien zu radeln. „Sie sind sehr mutig“, ist der meistgehörte Satz bisher, gefolgt von den Top drei Fragen: „Wo kommen Sie her?“, „Wohin wollen Sie?“ und „Haben Sie sich verfahren?“ Offensichtlich wirke ich manchmal etwas verloren, wenn ich – vor allem in Städten und in deren Vororten – nach Wegweisern Ausschau halte. An mancher Schlüsselstelle fehlt mir ein Schild beziehungsweise taucht es erst ein paar Meter später auf, was mich hin und wieder suchen lässt. Aber alles in allem gelingt es mir, die grobe Richtung nach Rumänien zu halten.

Ja, ich sagte die „grobe Richtung“. Gut eine Woche nach meinem Start verfahre ich mich so gründlich, dass ich mich ziemlich fernab des Weges befinde, aber auch hier gilt: „Schwächen haben ihr Gutes“, denn ich lerne zwei sympathische Frauen kennen. Die Häuser des Dorfes, in dem ich gelandet bin, wirken eher schlicht, manche sogar etwas ärmlich. Die ältere der beiden Frauen hat dünnes Haar und der mangelnde Wohlstand ist ihr an den Zähnen abzulesen. Die jüngere ist kräftiger, trägt ihr blondes Haar kurz, aber modisch und hat zwei Kinder im Schlepptau. Dank der häufigen Herumfragerei ist mein Französisch in der kurzen Reisezeit viel besser geworden, sodass wir ins Plaudern kommen. Die beiden Nachbarinnen sind restlos beeindruckt von meiner Tour und wollen mir beinahe nicht glauben, dass es aus eigener Kraft noch bis nach Rumänien gehen soll. Allein schon die zurückgelegte Distanz vom Startpunkt am Atlantik wirkt auf sie wie eine Unmöglichkeit und das mit so viel Gepäck. Dass ich allabendlich auf Campingplätzen mein Lager aufschlage und mir mein Essen selbst koche, lässt sie dann fast an meiner realen Existenz zweifeln. Es ist schon spannend, wie unterschiedlich Gesprächspartner mein Abenteuer wahrnehmen. Für die radelnde Kollegin aus der Reisebranche bin ich diejenige, mit der es sich austauschen lässt. Im Vergleich zum weltreisenden Totalaussteiger erscheint mein Vorhaben vielleicht als – zugegeben etwas überspitzt formuliert – Sonntagsspaziergang. Aber für die Frauen vor meiner Nase vollbringe ich eine wahre Meisterleistung. Ja, es ist alles Ansichtssache und verändert sich mit der Perspektive und dem Erfahrungsschatz des Gegenübers. Alles in allem zählt natürlich, wie ich selbst auf mich blicke. Weil ich mit Outdoorurlauben groß wurde, bin ich an diese Art des Reisens zwar gewöhnt, empfinde trotzdem Stolz über meine Umsetzung. Es ist meine bisher längste Radlerdistanz und das auch noch allein, zumindest die erste Streckenhälfte betreffend. Dass die Frauen vor meiner Nase mich so loben, steigert diese Empfindung.


Die Loire in Nevers

Ich will mich später besser an sie erinnern und packe meine Kamera aus. Währenddessen erzählen sie mir von der Wichtigkeit des Familienzusammenhalts. Die Angehörigen der älteren Frau leben zwar verstreut an unterschiedlichen Orten, aber sie sehen einander regelmäßig, essen dann zusammen und tauschen sich aus. „Das macht mich glücklich“, erzählt mir meine Gesprächspartnerin. Ihre Nachbarin hat sich in der Zwischenzeit umgezogen und nun posieren sie zusammen mit den beiden Kindern vor einem der Häuser für mein Foto. Sie lachen und winken in die Kamera und ich nehme ihnen ab, dass die regelmäßige Aussicht auf Familienbesuch in diesem kleinen abgelegenen Dorf sie immer wieder erfreut.

Am Abend erreiche ich – ohne weitere Extrarunden – die Stadt Nevers, am Zusammenfluss von Loire und Nièvre rund 260 Kilometer südlich von Paris gelegen. In dieser 36.500-Einwohner-Stadt, deren Altstadtbild von engen Gassen und Bürgerhäusern aus dem 14. bis 17. Jahrhundert geprägt ist, ist heute richtig etwas los. Ich gerate mit meiner Kameraausrüstung mitten in eine Wohltätigkeitssportveranstaltung, bei der Menschen für einen guten Zweck einen Laufwettkampf absolvieren. Ihre Strecke führt sie am „Espace Bernadette Soubirous“, dem Kloster, in dem der Leichnam der heiligen Bernadette Soubirous zu finden ist, vorbei. Die Heilige hatte einst als Mädchen mehrere Marienerscheinungen.

Bevor ich mich in das Reich der Träume verabschiede, kann ich heute noch mein erstes Radtourenbuch verstauen, denn die Karte „Loire-Radweg“ endet hier in Nevers und wird von „EuroVelo 6 – Frankreich Ost“ abgelöst. Stolz über meine bisher erbrachte Leistung schließe ich die Augen und träume schon von der Region Burgund, dem südlichen Elsass und den Tälern sowie Kanälen, die mich erwarten.

FRANKREICH OST Von Nevers nach Basel rund 600 Kilometer

Ich verlasse Nevers und folge einem unbefestigten, aber sehr gut zu fahrenden Kanalradweg in südöstliche Richtung. Weil ich so zügig vorankomme, rolle ich bis zur Mittagspause durch und bestelle mir beim Universum einen Supermarkt, der am heutigen Sonntag lange genug geöffnet hat und in dem ich mich mit Keksen eindecken kann. Seit einigen Tagen vermute ich verwandtschaftliche Beziehungen zum Krümelmonster, so groß ist mein Heißhunger auf das Gebäck geworden.


Mein neues Grundnahrungsmittel

Ziemlich exakt 12:30 Uhr stehe ich vor einem riesigen Markt am Ortseingang von Decize und überfliege schnell die Öffnungszeiten an der Tür: sonntags bis 12:30 Uhr. Eine Mitarbeiterin, die eigentlich gerade die Pforten dicht machen will, mustert mich freundlich. Mein Blick scheint Bände zu sprechen, denn plötzlich unterbricht sie ihre Tätigkeit und bietet an: „Na, los, fünf Minuten! Ihr Radler müsst doch essen …“

Dankbar schlüpfe ich hinein, kaufe in Windeseile Kekse, einen Joghurtdrink und ein paar frische Sachen aus der Obst- und Gemüsetheke. An der Kasse danke ich ihr und dem Universum und reiße vor der Tür hungrig die Packung meiner Krümelmonsternahrung auf.

Es geht noch ein Weilchen am Kanal entlang, bis der Weg dann über eine asphaltierte Straße führt, die nahezu verkehrsfrei ist, allerdings habe ich das Gefühl, dass es deutlich häufiger auf als ab geht. Kaum komme ich mal ein kleines Stück zügig rollend voran, tritt schon die nächste Steigung in mein Blickfeld und meine Hand muss in den ersten Gang drehen. Hoffentlich reicht die Keksenergie, denn ich stecke mitten in einer Einhundert-Kilometer-Etappe, die nötig ist, um meinen anvisierten Campingplatz zu erreichen. Ich schalte auf den Meditationsmodus um, statt auf meinen Atem konzentriere ich mich nun auf nichts anderes mehr als „fahren, fahren, fahren“, Gefühle der Anstrengung blende ich bewusst aus, was wirklich gut funktioniert. In einem Dorf, dessen Namen ich vergessen habe, frage ich eine Frau, die in an ihrem Haus werkelt, nach frischem Wasser. Bereitwillig füllt sie meine Trinkflaschen auf, bietet mir sogar den Besuch ihres WCs an. Wenig später wechsele ich ein, zwei Worte mit einem belgischen Pärchen, das nach Frankreich ausgewandert ist, sonst begegne ich keiner Menschenseele, auch andere Radler sind nirgendwo auszumachen.


Wegweiser

Ich ziehe durch und erreiche nach 104 Kilometern Diou, einen kleinen Ort, der alles hat, was ich heute noch brauche: einen Campingplatz. Erneut meint es das Universum gut mit mir, als es erst, nachdem ich das Zelt aufgebaut habe, einen starken Schauer auf die Erde schickt. Wo könnten die Kekse und der heiße Tee besser schmecken als hier in meinem Zelt, auf dessen Dach die Wassertropfen ein Konzert geben …?! Auch das ist Glück für mich.

Die Nachteile des Alleinreisens erwischen mich heute eiskalt. Das Zusammenspiel aus warmer Jahreszeit, Campingplatz und Arachnophobie führen mich gleich am Morgen an den Rand meines persönlichen Wahnsinns. Wer 1990 US-amerikanische Horrorfilme geschaut hat, weiß, wovon ich spreche. Als ich meine Behausung öffne, um Richtung Sanitäranlagen aufzubrechen, regnet es zwar nicht mehr, aber alles ist noch sehr nass. Und wem begegnet man in der Natur gern einmal? Ich denke, man muss keine große Zelterin sein, um die Antwort zu kennen. Meine Finger haben den Reißverschluss des Eingangs gerade bis zum oberen Ende bewegt, als eine dicke schwarze Spinne pfeilschnell hinabsaust. Ich schrecke heftig zurück, wähle die Flucht und finde mich Hundertstelsekunden später auf einem Bein hopsend im nassen Gras vor meinem Zelt wieder. Entgegen meiner üblichen Reaktion auf diese Tiere bleibe ich weitestgehend stumm. Nur ein leiser gepresster Laut verleiht meinem Schreck Ausdruck. Schließlich steht unweit von mir das nächste Zelt, welches zwei deutsche Paddler bewohnen, und blamieren möchte ich mich nicht, ein bisschen Stolz habe ich auch. Da stehe ich nun schwankend auf einem Bein, um wenigstens nur eine Socke zu durchnässen, und überlege, was ich tun soll. Normalerweise habe ich jemanden in meiner Nähe, der weniger Angst vor Spinnen hat als ich, was zugegebenermaßen keine allzu große Kunst ist. Es hilft nichts, ich muss da jetzt allein durch. So nähere ich mich meiner Behausung, schlüpfe erst einmal in meine Turnschuhe, allerdings nicht ohne sie vorher gründlich ausgeschüttelt zu haben – man weiß ja nie – und suche den Rasen zwischen Innen- und Außenzelt gründlich ab, die Spinne ist nirgendwo zu sehen. Ob ich das nun als gutes oder schlechtes Zeichen werten möchte, weiß ich nicht, zunächst zählt das Ergebnis und dieses lautet: keine Spinne mehr.

Als ich wenig später frisch und in Radlerkleidung im Schneidersitz im weit geöffneten Zelt hocke, um mir mein Frühstück zuzubereiten, habe ich mich erstaunlich gut beruhigt und den Vorfall wirklich erfolgreich verdrängt. Ich packe mir ein paar Kekse zurecht, belege ein Brot und schnippele einen Apfel, dann greife ich nach meinem Topf, um Kaffeewasser einzufüllen, schieße ihn jedoch wie eine gezündete Handgranate von mir weg, als ich sehe, wer in diesem Topf sitzt: die Spinne. Igitt, ausgerechnet hier hat sie sich versteckt! Mir stehen die Haare zu Berge. Durch den Wurf ist sie aus ihrem Versteck geschleudert worden und verharrt verschreckt und perplex auf der Wiese vor mir, vielleicht ein, zwei Armlängen entfernt. Ich will ein guter Mensch sein und nicht sinnlos Tiere töten, nur weil ich diese irrationale Reaktion zeige. Ich gebe ich ihr eine Chance und flüstere: „Wenn du vom Zelt wegläufst, darfst du leben, wenn nicht, dann muss ich leider …“ In diesem Moment setzt sich das Spinnentier in Bewegung und krabbelt zielgerichtet auf mich zu. Ich murmele noch „Sorry, ich habe es wirklich versucht“ und wumms landet mein Turnschuh auf dem hohen Rasen … Von diesem Morgen an rüttele ich immer, wirklich ausnahmslos immer, von innen das ganze Zelt einmal durch und klopfe an die Decke, bevor ich den ersten Reißverschluss öffne.

So grün ich im Gesicht auch bin, als ich endlich meinen Morgenkaffee schlürfe, so sehr zeigt mir diese simple Begebenheit, wie erkenntnisreich das Alleinreisen sein kann. Mal eine Zeitlang sich selbst überlassen zu sein und sich seinen Ängsten stellen zu müssen, erlebe ich als wertvolle Erfahrung. Wenn ich über mich nachdenke, fällt mir auf, dass einige meiner Eigenschaften gegen eine solche Reise sprechen. Ich bin weder sonderlich begabt, wenn es um Reparaturen geht, mein technisches Verständnis ist mittelmäßig, der Orientierungssinn verkümmert und Angst vor Viehzeug habe ich auch, trotzdem bin ich mit einem Verkehrsmittel, an dem theoretisch einiges kaputt gehen könnte, unterwegs und zelte, obwohl ich mich vor Spinnen fürchte. Ja, klar, meine Kommunikationsstärke ist hilfreich, vermag aber auch nicht zu zaubern. Die Achtbeinerin weg zu quasseln hat schließlich nicht funktioniert. Das Motto meiner allerersten Tage „einfach machen“ treibt mich an, denn die Lust auf solche Touren und mein Hunger auf die Welt sind einfach größer, als dass ich stattdessen immer zu Hause bleiben mag. Ich versuche vor und während einer Reise, die ganze Unternehmung nicht allzu sehr zu „zerdenken“ und mir auszumalen, was alles Problematisches passieren könnte. Ich baue ganz einfach darauf, dass ich in dem Moment, in dem ich vor einer Herausforderung stehe, diese dann meistern werde. Ein Grundstock an Vorbereitung, Recherchen zu Land und Leuten sowie das Erlernen, wie ich einen Platten repariert bekomme, habe ich getroffen, den Rest gehe ich mit einer gesunden Portion an Vertrauen in die Welt und mich an. Ich stelle fest, allein bin ich weniger emotional: Wenn da niemand ist, der nach dem Verfahren den richtigen Weg mit mir sucht oder der Viehzeug für mich entfernt, dann behalte ich einen kühleren Kopf, denn das muss ich, wenn ich weiterkommen will. Wenn es regnet und ich morgens alles nass zusammenpacke und keiner da ist, der zuhört, in dem Moment, in dem ich gerade das Wetter beklagen möchte, dann lasse ich es sein. Eine spannende Erkenntnis.

Als ich heute alles fertig verstaut habe, Fidibus beladen ist und ich mich gerade noch einmal umdrehe, um zu prüfen, ob irgendetwas herumliegt, bleibt mein Blick an der Stelle hängen, an der der schwarze Leichnam so ungefähr liegen müsste. Genauer hinsehen und suchen möchte ich gar nicht. Keine Ahnung, ob der weiche Untergrund und die hohen Halme das Überleben des Tieres gesichert haben. Ich entschuldige mich zur Sicherheit noch einmal kleinlaut für den – mindestens versuchten – Mord und fahre mit der Befürchtung los, gerade keine Karma-Punkte gesammelt zu haben.

Ich weiß nicht, womit ich das ausgerechnet heute verdient habe, aber bereits gegen halb drei Uhr am Nachmittag steht mein Zelt auf dem wunderschönen Campingplatz an einem See in der Nähe des Örtchens Palinges. Es gibt für Radler extra Parzellen mit Tisch und Stühlen, wunderbar gepflegt für elf Euro, was in den Schnitt passt, den ich bisher für meine Zeltnächte aufgebracht habe. Ja, mit acht bis elf Euro komme ich gut aus, um meine Übernachtungen zu finanzieren.


Auf dem Campingplatz in Palinges

Ich kann es kaum glauben, als ich an meinem zwölften Reisetag Bekanntschaft mit Didier und Claudine mache, sie sind die ersten „Verrückten“, die ich treffe, die auch bis nach Constanța in Rumänien radeln wollen. Voll bepackt, mit Fahne am Rad und in gelbe Warnwesten gehüllt, auf denen Unterschriften und Sprüche stehen, sind die beiden fröhlichen Radler kaum zu übersehen. Ins Gespräch kommen wir, weil wir gemeinsam an einer Stelle landen, an der wir den weiteren Wegverlauf auskundschaften müssen und nach Schildern suchen. Das französische Rentnerehepaar ist ähnlich erfreut wie ich über dieses Gleichgesinnten-Treffen und wir sind uns auf Anhieb sympathisch, dennoch verlieren wir uns bald wieder aus den Augen, weil die zwei eine Pause machen. Als wenig später ich für ein Weilchen verschnaufe, rollen sie fröhlich winkend an mir vorbei. Ich schließe wieder zu ihnen auf und unser Wettrennen findet ein Ende. Dem Radweg am Canal du Centre gemeinsam folgend, verlieren wir uns nun im ausführlichen Gespräch. Für Claudine ist heute ein ganz besonderer Tag, der offizielle Beginn ihrer Altersrente, nachdem sie als Assistentin für Menschen mit geistiger Einschränkung oder Erkrankung gearbeitet hat. Ihr Mann Didier ist bereits seit drei Jahren pensioniert. Er war in einer Fabrik für Dämmungen oder Isolierung tätig. Die gemeinsamen Söhne, Ende zwanzig und Ende dreißig arbeiten als Architekt und Manager, leben in Paris und Lyon, während das Zuhause von meinen neuen Radlerfreunden in der Nähe von Clermont-Ferrand ist. Ungefähr drei Mal im Jahr kommt die Familie zusammen, berichtet mir Claudine – eine Frau, der die Fröhlichkeit in jedem Fältchen ihres Gesichts geschrieben steht. Ihr Lachen erklingt oft und äußerst herzlich. Als ich von meiner Arbeit als Reisejournalistin und -referentin berichte, ist sie ganz aus dem Häuschen und staunt: „Solch einen Job mache ich in meinem nächsten Leben auch.“ Wenn ich an mein nächstes Leben denke, muss ich wohl eher fürchten, ein Dasein als Regenwurm zu fristen, bei der aktuellen Karma-Bilanz …

Von meiner dunklen Vergangenheit als vermeintliche Mörderin wissen die beiden zum Glück nichts und schlagen vor, mich zu adoptieren. Ich läge schließlich altersmäßig zwischen ihren Jungs und über ein Mädchen würde sich Claudine sowieso freuen. Wir lachen viel und plaudern ununterbrochen, was der weiteren Schulung meiner Sprachkenntnisse sehr zugute kommt. Englisch oder andere Sprachen beherrschen die beiden kaum, sodass uns lediglich ihre Muttersprache bleibt. Wir haben für heute unterschiedliche Campingplätze anvisiert, weil diese aber nur wenige Kilometer voneinander entfernt liegen und wir uns so mögen, einigen wir uns auf ein gemeinsames Tagesziel: Chagny, eine 5500-Seelen-Gemeinde im Département Saône-et-Loire. Hier wählen wir für unsere Zelte zwei nebeneinander liegende Parzellen aus. Nicht lange, nachdem wir aufgebaut haben, linst Claudine über die Hecke und lädt mich zum Abendessen ein. Natürlich sage ich sofort zu.

Die hohe Esskultur der Franzosen zeigt sich sogar beim Camping, denn das Essen, was die beiden zaubern, ist um Welten besser als meine traditionelle Pasta, in die ich allabendlich eine andere Sorte Tütensuppe rühre. Hier gibt es Nudelsuppe mit frischem Brokkoli, dazu Brot, Cracker, Obst. Mein Magen freut sich über die hochwertigen Zutaten, mehr jedoch noch über die liebenswerte Gesellschaft. Während Claudine herrlich mitreißend lacht, ist Didier eher der Typ stiller Schmunzler, mit Augen, die sich mit ihm und der Welt freuen. Claudines Persönlichkeit wird von ihren frechen kurzen Haaren und der sportlichen Figur, die in einer langärmligen karierten Outdoorbluse sowie einer Funktionshose steckt, unterstrichen. Didier ist groß und drahtig, hat eine Glatze und auf seiner Nase sitzt eine Brille mit schmalem dunklem Rand, über Kinn und Wangen verteilen sich weiße Bartstoppeln. Das Bild dieser beiden Menschen auf der großen Camping-Plane, die zugleich Buffettafel ist, ist herrlich. Fröhlich schlemmen die Eheleute und bieten mir immer wieder von ihrem leckeren Brot an. Wir kommen ins Philosophieren darüber, wie gut wir es doch alle gerade haben – in herzlicher Gesellschaft, an der frischen Luft und der gleichsam reichhaltigen sowie schmackhaften Nahrung.

„Hach, was haben wir es schön. Wir dürfen die Reise machen, die uns mit dem, was der Mensch wirklich braucht, auskommen lässt“, preist die quirlige Claudine unser Beisammensein.

„Das ist es, was uns so gefällt: das simple Leben, die Natur, das Bewegen an der frischen Luft“, ergänzt ihr Mann.

„… wohlgemerkt freiwillig“, schaltet sich seine Liebste wieder ein, „wir haben diese Einfachheit bewusst gewählt. Natürlich kippt das Konzept, wenn du ohne Wohnung bist, auf der Straße leben musst, an Würdegefühl verlierst, weil du schmutzig bist, da du keine Dusche hast und nicht, weil du darauf verzichtest, wenn – wie bei uns – auch mal ein schöner Wildcampingplatz lockt.“

Ich nicke und glaube den beiden jedes ihrer Worte, als ich auf den Auslöser meiner Kamera drücke und ihre strahlenden Gesichter einfange.

Im Laufe des Abends stellen wir fest, dass wir einige Reiseerfahrungen wie Pilgertouren teilen. Die beiden haben genauso wie ich die Distanzen ihrer Radwanderungen kontinuierlich gesteigert. Mit dem aktuellen Vorhaben von 4000/5000 Kilometern soll es auch ihre bisher längste Tour auf zwei Rädern werden.

Nachdem wir uns aufgrund beginnenden Regens voneinander verabschiedet haben, sitze ich in meinem Zelt, die Beine stecken im Schlafsack und ich lächele, weil ich glücklich bin über meine neuen Bekannten. Wir ticken gleich, finden es schön, unbeschwert und aus eigener Kraft zu reisen, sind der Meinung, dass Träume angepackt werden müssen und empfinden Dankbarkeit für das Leben, welches man uns teils geschenkt, was wir uns aber auch selbst geschaffen haben. Nur in einer Sache sind wir nicht einer Meinung, etwas, das allerdings dafür sorgt, dass sich mein Glück heute sogar noch steigert: Sie mögen Vollmilchschokolade nicht sonderlich gern, sodass ich mein Gastgeschenk wieder mit in mein Zelt genommen habe, wo ich nun Stück für Stück die ganze Tafel allein aufesse. Das ist definitiv die gute Seite der Medaille …

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23 aralık 2023
Hacim:
287 s. 130 illüstrasyon
ISBN:
9783947944798
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