Kitabı oku: «Salafismus», sayfa 4

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2.2 Historische Perspektive

Im Folgenden fragen wir: Aus welchen Narrativen wurde der historische Salafismus konstruiert? Wie konnten sich diese Narrative durch die gesamte islamische Ideengeschichte hindurch bis ins 21. Jahrhundert behaupten? In welchen historischen Epochen konnte sich der Salafismus in besonderer Weise entfalten?

Die Herkunft des Begriffs Salafismus wird unter Islam- und Religionswissenschaftlern kontrovers diskutiert (über weitere Streitigkeiten bezüglich des Begriffs unter Gelehrten siehe Nafi 2014 auf Arabisch und Lauzière 2010 auf Englisch). Freilich liegt es mir im Rahmen dieser praktisch orientierten Studie fern, eine theoretisch fundierte historische Kontinuität dieses Begriffes zu postulieren und nachzuweisen. Ziel meiner Darstellung ist es vielmehr, einige besonders prägende historische Konzepte und Vordenker dieser Denkschule zu charakterisieren, welchen ich während meiner Feldforschung immer wieder in Befragungen und Freitagspredigen begegnete und die also im gelebten Alltag des Salafismus in Deutschland präsent sind. Mir geht es in erster Linie darum, dem interessierten Laien einen stringenten Überblick über ideengeschichtlich einflussreiche Terminologien und Persönlichkeiten zu geben, welche in bestimmten Epochen zu beobachten sind und einen wichtigen Referenzrahmen für die Narrative des modernen Salafismus bilden. Diese wiederum wirken sich unmittelbar auf weltanschauliche Haltungen, religiöse Einstellungen und den Lebensalltag ihrer Anhänger und deren Umfeld aus.

[37]

2.3 Die sunnitischen Traditionalisten

Das Derivat Salafīya ist von der Wortwurzel salaf abgeleitet. Laut Basheer Nafi, einem der renommiertesten arabischen Historiker im Bereich der islamischen Geistesgeschichte und ihrer prägenden Bewegungen, entstand die Verklärung der salaf (als salaf werden im sunnitischen Islam die ersten drei Generationen des Islam bezeichnet, siehe Abschnitt 2.5) im Zuge eines heftigen theologischen Richtungsstreits in der Formierungsphase des Islam zwischen der sogenannten Muʿtazilā, einer zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert n. Chr. einflussreichen, an einem rationalen Verständnis der religiösen Texte orientierten geistigen Bewegung, und den ahl al-ḥadīṯ, den auf die Sunna des Propheten (die Hadithe/Prophetenüberlieferungen) fokussierten Traditionalisten, welche sich vehement gegen die aus ihrer Perspektive drohende Vergeistigung der islamischen Lehre zur Wehr setzten (Nafi 2014: 15). Stark vereinfacht gesagt interpretierten die Anhänger der Muʿtazilā den Wortlaut der Offenbarungstexte mittels rationaler Messinstrumente und Methoden (Imara 1994: 11). Demgegenüber räumten die ahl al-ḥadīṯ dem Wortlaut der Offenbarungsquellen – dem Koran und den Hadithen – eindeutige Priorität gegenüber anderen Texten bzw. rationalen Erwägungen ein (Imara 1994: 21).

Im 9. Jahrhundert n. Chr. war Ahmad Ibn Hanbal (gest. 855 n. Chr., zum Leben und Wirken Ibn Hanbals siehe Schneiders 2014) der vielleicht herausragendste Verfechter dieser minimalistischen Textdeutung, welche sich im Wesentlichen auf die tradierten Aussagen der salaf stützt (Imara 1994: 12; Nafi 2014). In den Reihen der Traditionalisten genießt Ahmad Ibn Hanbal einen märtyrerhaften Heldenstatus, da er die durch die abbasidische Herrschaft9 protegierten Spekulationen der Muʿtazilā über die Erschaffenheit des Koran und ihre Negierung der göttlichen Attribute trotz massiver Einschüchterungsversuche ablehnte und sich dabei auf die Auslegung des Koran und der Sunna des Propheten durch die salaf berief und umgekehrt jede Form des Zuwiderhandelns und Denkens gegen das Islamverständnis der salaf als gefährliche häretische Neuerung (bidʿa) brandmarkte. In dem Theologiestreit, aus dem letztlich das traditionsorientierte Sunnitentum als Sieger hervorging, profilierten sich die ahl al-ḥadīṯ mit ihrer textbezogenen, puristischen und asketischen Haltung als die Bewahrer der unverfälschten Lehre der salaf, während sie die Anhänger der Muʿtazilā als ahl al-bidaʿ, also als von [38]diesem Weg in gefährlicher Weise abgewichene „Sekte“, abwerteten (Nafi 2014: 16).

Indes muss angemerkt werden, dass manche Forscher die inhaltliche Verbindung zwischen Taqi ad-Din Ahmad Ibn Taimiya10 und dem Gedankengut des Neo-Salafismus als fraglich betrachten und Ibn Taimiya als eher progressiven Denker beurteilen, den die auf Simplizität gründende Lehre des modernen Salafismus selektiv und verzerrt darstellt. Dazu gehört Muhammad Imara, ein profilierter zeitgenössischer muslimischer Intellektueller, der besonders die Tendenz des modernen Salafismus zum takfīr, d. h. der Aberkennung des islamischen Glaubens aufgrund bestimmter abweichender Glaubensüberzeugungen, als Fehlverständnis von Ibn Taimiyas Schriften betrachtet. In Wahrheit habe Ibn Taimiya sogar vor unüberlegtem takfīr gewarnt. Er habe Meinungsverschiedenheiten in weiterführenden Angelegenheiten theologischer und juristischer Natur als das Resultat von rationalen Erwägungen der Gelehrten gesehen. Die Berechtigung zum Aussprechen des takfīr erfordere dagegen zwingend einen unzweideutigen Textbeweis auf Basis des religiösen Rechts, der Scharia.

Ein solcher Textbeweis existiere aus Ibn Taimiyas Perspektive jedoch schlicht und ergreifend nicht, weshalb er explizit die Aberkennung des Glaubens jeder Person ablehnt, welche die Schahada (aš-šahāda) ausgesprochen hat. Die unter den Gelehrten umstrittenen Fragen drehten sich nicht um die elementaren Glaubensgrundsätze oder die Säulen der Glaubenspraxis, welche in den Offenbarungsschriften unzweideutig und verbindlich (qaṭʿīya ad-dalāla) festgelegt seien. Die Zuweisung des Unglaubens (kufr) sei ein schwerwiegendes rechtliches Urteil (ḥukm šarʿī) und könne nur durch einen unzweideutigen Beweis aus den Offenbarungstexten oder durch eine eng am Text orientierte Schlussfolgerung aus einem solchen Text getroffen werden. Persönliche Erwägungen (iǧtihād) religiöser Autoritäten seien in dieser Frage irrelevant.

Aus dieser Argumentation lasse sich wiederum indirekt ablesen, dass Ibn Taimiya das Urteil des takfīr sowohl in Bezug auf Individuen als auch auf islamische Gruppierungen ablehnt, solange deren Unglaube nicht auf der Hand liegt oder nicht von den Beschuldigten selbst bezeugt wird. Hinsichtlich der Spannung zwischen polemischer Schärfe und abmildernder Relativierung bewegt sich Ibn Taimiyas Argumentation [39]hier absolut im Rahmen der zeitgenössischen ideologischen Debatten innerhalb des Sunnitentums.

Interessanterweise erfuhren Ibn Taimiya und sein wissenschaftliches Erbe nach Ansicht mancher Experten vor dem Ausbruch des Ibn Taimiya-Booms in der Moderne, der auch durch den Neo-Salafismus mitausgelöst wurde, in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod ein eher verhaltenes Echo. Nafi begründet das wohl zu Recht damit, dass Ibn Taimiyas Visionen an der Dominanz der scholastischen Rechtsschulen und der Sufi-Bruderschaften im 14. Jahrhundert abprallten und somit in den ersten drei Jahrhunderten nach seinem Tod auf keine nennenswerte Resonanz stießen oder gar als exotische Außenseiterposition belächelt wurden. Zwar gab es immer wieder Versuche der Wiederbelebung seiner Thesen, allerdings handelte es sich dabei stets um das Engagement Einzelner, das sich nicht zu einer einflussreichen Denkschule auswachsen konnte (Nafi 2014: 20).

2.4 Muhammad Ibn Abd al-Wahhab

Im 18. und 19. Jahrhundert traten im Zuge gewaltiger zeitgeschichtlicher Umwälzungen in der islamischen Welt bedeutende religiöse Erneuerer auf, welche dem Salafismus den Weg in die Moderne weisen sollten. Die wohl berühmteste, gleichwohl berüchtigtste Figur dieser Epoche ist Muhammad Ibn Abd al-Wahhab (gest. 1799 n. Chr.). Laut Muhammad Imara öffnete die geistige Erstarrung des verbreiteten Volksislam (einschließlich Heiligenverehrung und Reliquienkult) im Osmanischen Reich, das über sechs Jahrhunderte lang bestand (1299–1923) und über weite Teile der arabischen und islamischen Welt herrschte, dem europäischen Kolonialismus seine Pforten. Am Vorabend seines Untergangs war das schwächelnde Vielvölkerreich von den europäischen Mächten als ‚kranker Mann am Bosporus‘ bezeichnet worden.

Der erste große Schock für die islamische Welt war die militärische Unternehmung der Franzosen unter dem Kommando Napoleon Bonapartes in Ägypten in den Jahren 1798 bis 1801. Diesem Trauma folgte die Expansion der europäischen Kolonialmächte, die im Zeitraum von 1830 bis 1920 um die Aufteilung des riesigen Osmanischen Reichs rangen und verhandelten, welches weite Teile der östlichen und westlichen arabischsprachigen Welt einschloss. Während die heutigen Maghreb-Staaten unter französische Kolonialherrschaft fielen (Algerien 1830, Tunesien 1881), besetzte das britische Empire Aden im heutigen Jemen (1839), Ägypten (1882) und den Sudan (1898). Italien verleibte sich wiederum 1912 Libyen ein. 1916 teilten Frankreich und Großbritannien [40](mit Zusicherung des russischen Zarenreichs, das ein Jahr später selbst von der bolschewistischen Revolution blutig hinweggefegt werden sollte) in dem Geheimabkommen von Sykes und Picot das Erbe des Osmanischen Reichs unter sich auf und bereiteten somit das baldige Ende des Ersten Weltkriegs vor. Frankreich usurpierte Syrien und den Libanon, Großbritannien Palästina und Jordanien.

Im Zuge dieser tiefgreifenden politischen und sozioökonomischen Umbrüche erschienen diverse arabische Erweckungsbewegungen, welche von der Hoffnung auf die Wiedererlangung der arabischen Dominanz über den Islam beseelt waren11 und die Rückbesinnung auf die Fundamente der islamischen Lehre propagierten, dabei jedoch sehr unterschiedliche Ansätze verfolgten. Die bekanntesten Köpfe dieser Bewegungen sind der bereits erwähnte Ibn Abd al-Wahhab, Jamal ad-Din al-Afghani (gest. 1897) und Muhammad Abduh (gest. 1935) (Imara 1994: 20f.).

Die drei Letztgenannten verbanden mit dem Begriff Salafismus die Rückbesinnung auf das geistige Erbe und die Fundamente des Islam im Lichte der Moderne und in Übereinstimmung mit der Wissenschaft und der Vernunft, während die Spielart Ibn Abd al-Wahhabs die Rückbesinnung auf die salaf im Sinne der ahl al-ḥadīṯ bzw. der ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa, also der sunnitischen Traditionalisten, verstand. Im Rahmen dieses Buches interessiert uns die Entstehung der wahhabitischsalafistischen Bewegung unter der Federführung Ibn Abd al-Wahhabs, deren Entstehungskontext bis heute wesentliche Narrative salafistischer Bewegungen prägt, nicht zuletzt auch in Deutschland. Ibn Abd al-Wahhab und seine Anhänger beriefen sich auf die beinahe der Vergessenheit anheimgefallenen Schriften Ibn Taimiyas und belebten die in der gesamten islamischen Welt kaum noch praktizierte ḥanbalitische Rechtsschule unter neuen Vorzeichen wieder.12

Wie der marokkanische Intellektuelle Muhammad Abed al-Jabri zeigt, zeugen die Inhalte der wahhabitischen Ideologie durch und durch von einer theokratischen Mission.13 Die Bewegung der Wahhābīya verschrieb sich der Bekämpfung der wuchernden bidaʿ (häretischer Glaubenskonzepte und Praktiken), welche ihrer Meinung nach die reine [41]monotheistische Glaubenslehre durch Heiligenverehrung korrumpiert und die Gläubigen an den Rand des Polytheismus (širk) getrieben hätten.

In der rigorosen Auslegung der Bewegung Ibn Abd al-Wahhabs schließt dies z. B. das Bündnis mit weltlichen Vertragspartnern, die Invokation Gottes mittels des Propheten oder eines (meist verstorbenen) spirituellen Meisters als Medium (tawassul), den Besuch von Gräbern und Grabmälern für den Segenserwerb (tabarruk) sowie den Glauben an unheilvolle magische Kräfte und ihre Gegenmittel (siḥr) oder an die Beschwörung von Dschinnen (Feuergeistern) zur Heilung von Epilepsiekranken ein (al-Jabri 2003). Die Thesen Ibn Abd al-Wahhabs sind als unverhohlener Frontalangriff auf den innerislamischen Feind der sunnitischen Traditionalisten zu bewerten, nämlich die im Osmanischen Reich weit verbreiteten Sufi-Bruderschaften, welche sowohl spirituell und gesellschaftlich als auch politisch über enormen Einfluss verfügten (mehr Informationen zu diesem Konflikt unter 5.3). Darüber hinaus wurde auch von Abd al-Wahhab bereits ein fanatischer Kampf gegen das Schiitentum ausgerufen, was unter anderen zur Zerstörung der wichtigen Pilgerstätte von Kerbela im Jahr 1802 führte. Bis heute werden die Schiiten in der Ostprovinz Saudi-Arabiens brutal verfolgt und unterdrückt (siehe z. B. Wilcke 2009).

Das strategische Bündnis zwischen der beduinischen Monarchie der Familie Saud und den religiösen Eiferern der Wahhābīya ermöglichte es der wahhabitischen Bewegung bald, den saudischen Staat und seine Institutionen als eine mächtige Operationsbasis zur Verbreitung der wahhabitischen Lehre in der gesamten Welt zu nutzen. Diese Entwicklung wurde über den Ölboom hinaus durch weitere Faktoren begünstigt. So konnte sich Saudi-Arabien in den 1970er Jahren als Zufluchtsort für verfolgte Verfechter des politischen Islam profilieren, die vor allem aus Syrien und Ägypten kamen. Diese konnten dort in der religiösen und staatlichen Hierarchie schnell aufsteigen und nutzten die politische Protektion und Alimentierung durch den saudischen Staat zur aktiven Verbreitung ihrer sendungsbewussten Ideologie in die gesamte islamische Welt und bis hin nach Europa weidlich aus (Nafi 2014: 27f.).

In der Folge der schiitischen Revolution im Iran (1979), die im strikt sunnitischen Saudi-Arabien als Gefahr wahrgenommen wurde, öffnete das Königreich in den 1980er Jahren tausenden religiös ambitionierten, jungen Muslimen, insbesondere aus der arabischen Welt, die Tore für das Studium der Religion, wodurch der gerade erst wieder entbrannte Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten weiter befeuert wurde. Gleichzeitig begann das Königreich, zehntausende von Büchern der salafistischen Denkschule – darunter sämtliche Schriften Ibn Abd al-Wahhabs [42]und Ibn Taimiyas – in der arabischen und islamischen Welt kostenlos oder weit unter Wert zu vertreiben (Nafi 2014: 29) und finanzierte verschiedene Werbeaktivitäten für die wahhabitische Agenda auf internationaler Ebene, nicht zuletzt auch Fatwa-Sammlungen und Schriften der umstrittenen Großmuftis Abd al-Aziz Ibn Baz und Muhammad Ibn Salih Ibn al-Uthaymin (gest. 2001) (siehe z. B. von Delong-Bas 2004).

Der lange Arm der saudischen Unterstützung reicht zweifellos bis nach Deutschland. Im Rahmen meiner Feldforschung gelangte ich an reichhaltiges salafistisches Werbematerial (Bücher, Broschüren und CDs), das in Saudi-Arabien veröffentlicht oder dessen Druck und Veröffentlichung von Saudi-Arabien aktiv unterstützt wird. Es muss nicht erwähnt werden, dass die Globalisierung und moderne Social-Media-Kanäle wie Facebook oder WhatsApp der salafistischen Mission weiteren Vorschub leisten. So wurden ca. zwei Drittel der Predigten, welche ich verfolgen konnte, wortwörtlich von saudischen Internetseiten übernommen, die auf die Mission (daʿwa) ausgerichtet sind und direkt von Saudi-Arabien aus kontrolliert werden. An dieser Stelle sei erwähnt, dass der deutsche Konvertit Pierre Vogel (geb. 1978), eine Ikone der salafistischen Bewegung in Deutschland vor allem für junge, in Deutschland geborene Muslime, in der Umm-al-Qurā-Universität in Mekka in Saudi-Arabien studierte (Wiedl 2014: 192; Lindow 2014). Auch in meinen Befragungen vertrauten mir einige junge Salafisten, insbesondere Konvertiten, ihr Vorhaben an, für einige Zeit zum Studium der arabischen Sprache und des Islam nach Saudi-Arabien reisen zu wollen.

2.5 Wer sind die Salafisten? ‚Die errettete Gruppe‘

Wie ich in Kürze aufzeigen werde, sind die Etymologie des Begriffs Salafismus und seine historische Entwicklung unter Forschern umstritten. Darüber hinaus gibt es aber auch eine innersunnitische Debatte über die Frage, was ein salafī ist und wodurch er sich auszeichnet. Denn durch den schlechten Ruf der salafistischen Ideologie auch innerhalb des sunnitischen Mainstreams hat der im Sunnitentum ursprünglich ausschließlich positiv konnotierte Begriff salaf heute mit einem negativen Image zu kämpfen. Meine Feldforschung führte mich auch zu muslimischen Akteuren außerhalb des salafistischen Spektrums. Einige von ihnen beklagten den negativen Beiklang des Wortes Salafismus seitens vieler Akademiker, Journalisten und Politiker. Der Begriff salaf sei von den Anhängern der Neo-Salafīya, die keinerlei Gemeinsamkeiten mit den historischen salaf aufweise, gekapert worden.

[43]In diesem Zusammenhang meinte z. B. Ayman, ein hoher Funktionär in einer arabischen Moschee, in einem Interview im Dezember 2016, dass der Begriff Salafismus in den deutschen Medien sehr negativ besetzt sei und nicht zuletzt von den Salafisten selbst in bewusster Verzerrung der islamischen Geschichte missbräuchlich verwendet werde. In Wahrheit seien die ehrenwerten salaf für jeden Muslim Vorbilder, denen er sich emotional verbunden fühle. Die Neo-Salafismus habe dem Begriff eine politisierende und ideologische Semantik in religiösem Gewand übergestülpt. Daraus ergibt sich seiner Ansicht nach die dringende Notwendigkeit, den heute verwaschenen Begriff mit einer klaren Neudefinition zu versehen.

Die Anmerkungen von Ayman spielen auch auf die Unschärfe der Gruppenbezeichnung salafiyūn (Salafisten) innerhalb der akademischen Landschaft im Zusammenhang mit der Moderne an. Morphologisch ist sa-la-f-ī-ya ein Derivat der Verbform sa-la-fa, was entsprechend dem klassischen Lexikon al-Muʿǧam al-Wāsiṭ (2004: 443) in etwa mit ‚vorübergehen‘ oder ‚vergehen‘ übersetzt werden kann. Terminologisch steht salaf in seinem islamischen Gebrauch für die ersten drei Generationen des Islam, welche mit der Generation des Propheten, dessen Berufungserlebnis um 610 n. Chr. datiert wird, und seinen Gefährten beginnen und mit dem Tod von Ahmad Ibn Hanbal enden (Haykel 2009: 39).

Die Eigenbezeichnung Salafismus soll auf Ibn Taimiya zurückgehen. Die oben angesprochene Unschärfe des akademischen Diskurses über den Begriff rührt daher, dass er seit dem 19. Jahrhundert als Eigen- oder Fremdbezeichnung verschiedene Erneuerungsbewegungen beschreibt, die zum Teil modernistisch-progressiv, zum Teil antimodernistischregressiv ausgerichtet sind und sich auf der einen Seite voneinander distanzieren, auf der anderen Seite aber auch gegenseitig beeinflusst haben.

Der Streit um die Terminologie soll uns im Folgenden nicht mehr weiter beschäftigen. Stattdessen werde ich nun – unter Zuhilfenahme von Interviews in vom Verfassungsschutz beobachteten Moscheen – verschiedene Akteure der neo-salafistischen Bewegung in Deutschland zu Wort kommen und über ihr eigenes Verständnis des Salafismus sprechen lassen.

Ich beginne mit Suhail, einem in einer Moschee aktiven Salafisten Anfang 30, der mir in einem Interview im Oktober 2016 sein Verständnis von Salafīya wie folgt darlegte: „ Salaf steht für die Vergangenheit. Die Salafisten (as-salafiyūn) verstehen den Koran und die Sunna, wie sie die Prophetengefährten verstanden haben, d. h. das Konzept des Salafismus versteht den Koran und die Sunna im Sinne der Prophetengefährten.“ [44]Ein weiterer Aktivist namens Samir, der vor 20 Jahren zum Studium nach Deutschland eingewandert ist und heute als Angestellter in einer Firma arbeitet, meint, dass der Prophet Muhammad in einem Hadith gesagt habe: „Die besten Menschen sind meine Generation, dann die, die ihr folgen, dann die, die dieser folgen“ (Khoury 2008, 4: 37). Die „beste Generation“ spielt natürlich auf die Prophetengefährten an, welche alle sunnitischen Muslime als Vorbilder sehen. Diese werden als ṣaḥāba oder aṣḥāb bezeichnet, die ihr folgende Generation als die Generation der tābiʿūn (‚die Nachfolgenden‘) und die daran anschließende Generation folgerichtig als die tābiʿū at-tābiʿīn (‚die den Nachfolgenden Nachfolgenden‘). Diese drei Generationen verkörpern nach der allgemeinen sunnitischen Lehre das nachahmenswerte Muster eines unkomplizierten und aufrichtig gelebten Islam.

Trotz der einhelligen Auffassung der Salafisten, dass die salaf – und nicht die Rechtsgelehrten und Theologen der scholastischen Tradition – den Denk- und Handlungsrahmen des wahren Islam vorgeben, verwahren sich die meisten Salafisten gegen die Eigenbezeichnung salafī, denn der Begriff sei durch die Medien und die Politik kontaminiert worden, „um Unruhe in die Reihen der Muslime zu bringen (iḥdāṯ al-fitna), [was dazu führt], dass sich selbst die Muslime [aufgrund dieses Begriffs] untereinander bekämpfen“, wie Raschid, ein salafistisch orientierter Konvertit in Nürnberg, in einem Interview im Winter 2016 bedauerte. Amjad, der in einer salafistischen Moschee predigt und bei der Koranverteilungsaktion Lies mitwirkte, antwortete auf meine Frage, ob er sich selbst als Salafist bzw. salafī sehe, in folgender Weise:

Wir bezeichnen uns ausschließlich als Muslime. Ich bin ein Muslim [sonst nichts], [denn] ich glaube an den Koran, den Gesandten Muhammad und dass er Gottes Gesandter ist, und dass die besten Leitfiguren (aʾimma) die Gefährten des Propheten Abu Bakr, Omar, Ali, Uthman und Abu Hurairah14 sind. Ich glaube [45][fest daran], dass diese Menschen die besten Leitfiguren waren. Das ist meine Definition von Muslim. Ich bin der Überzeugung, dass sich die Religion nicht verändert. Das heißt, der Gesandte brachte die Religion, also möchte ich die Religion vom Gesandten nehmen und keine Veränderung einbringen […]. Im Koran (Sure 5, Vers 3) heißt es: „Heute habe ich euch eure Religion vollständig gemacht und meine Gnade an euch vollendet und habe daran Gefallen, dass der Islam eure Religion ist“. Das heißt [doch], dass die Religion wunderbar ist und nicht die geringste Veränderung braucht, denn die Religion kam vollkommen [d. h. als abgeschlossene Lehre] [...]. Was die Presse und die Leute sagen, ist nicht von Belang.

Die Bezeichnung ‚Salafist‘ leidet in der deutschen Gesellschaft zweifellos unter einem miserablen Ruf, allerdings glaube ich nicht, dass dies der Hauptgrund für die Opposition vieler Salafisten gegen die Eigenbezeichnung als solche ist. Ich sehe drei andere Aspekte als die wesentlichen Ursachen für die Vorsicht im Umgang mit diesem Begriff: Erstens gibt es in Bayern keine einheitliche und organisierte salafistische Vereinigung, was wir im Abschnitt 3.5.2 ausführlich diskutieren werden. Zweitens ist diese Eigenbezeichnung angesichts der recht rigiden Null-Toleranz-Politik der bayerischen Sicherheitsbehörden, insbesondere des Verfassungsschutzes, nicht gerade opportun. Nicht wenige der aktiven Anhänger der Bewegung wurden bereits von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen und mussten Ermittlungen über sich ergehen lassen. Zahlreiche Salafisten, ob in München, Nürnberg, Regensburg oder Bayreuth, klagen über ihre äußerst negativen Erfahrungen mit den Sicherheitsbehörden und insbesondere mit dem Verfassungsschutz. Drittens hat sich der Begriff selbst unter den Muslimen – zumal durch die Gewaltherrschaft des selbst ernannten Islamischen Staates – zu einem Synonym für Extremismus und Terrorismus entwickelt und ist in den meisten Medien weltweit negativ konnotiert. Das Vermeiden der Selbstzuschreibung salafī ist also in erster Linie als taktisches Manöver für die muslimische Diaspora-Gemeinschaft, die Hauptzielgruppe der salafistischen Agenda, zu sehen und soll die Botschaft vermitteln: Wir sind Muslime wie ihr, weder sind wir anders als ihr noch sind wir eine Gefahr, von der man sich fernhalten müsste, ganz im Gegenteil, wir sind [46]ein elementarer Bestandteil des Islam oder besser gesagt die aufrichtigsten Repräsentanten eurer Religion.

Daher neigen die Anhänger des Salafismus zu anderen Selbstbezeichnungen und Beschreibungen wie ‚die [von Gott] unterstützte Gruppe‘ (aṭ-ṭāʾifa al-manṣūra), ‚der Leute der Sunna und der Gemeinschaft‘ (ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa), ‚die Anhänger des Hadith‘ (ahl-al-ḥadīṯ), die ‚errettete Gruppe‘ (al-firqa an-nāǧiya) oder schlicht ‚die Gemeinschaft‘ (al-ǧamāʿa), die mir während meiner Feldforschung sowohl in den Interviews als auch in den Freitagspredigten immer wieder begegneten. Auf Grundlage dieser Beobachtung lässt sich sagen, dass diese Termini, welche zum einen die treue Gefolgschaft gegenüber dem Propheten in Tun und Handeln und zum anderen die scharfe Abgrenzung von allen anderen Muslimen zum Ausdruck bringen – geschweige denn Andersgläubigen –, als Synonyme für salafī stehen.

In diesem Sinne beantwortete Bader, ein umtriebiger Aktivist, der in den 90er Jahren nach Deutschland einwanderte und mit einer deutschen Islam-Konvertitin verheiratet ist, auf meine Frage, ob er sich selbst als Salafist definiere, diplomatisch: „Ich bin kein Salafist, aber wer möchte nicht unbedingt dem Gesandten und seinen Gefährten folgen und mit ihnen [am Jüngsten Tag] versammelt werden?“ Dabei bediente er sich einem in salafistischen Kreisen zentralen Hadith, „[das besagt], dass der Prophet uns mitgeteilt hat, dass sich diese Umma (Gemeinschaft) in über 70 Gruppierungen aufspalten wird, die alle im Feuer sind, außer eine einzige, und das ist die errettete Gruppe, welche sich nach den Hadithen des Propheten ausrichtet. Es ist meine Pflicht, zu dieser Gruppe gehören.“ Abd al-Rahman, ein Muslim der zweiten Generation mit tunesischem Vater und deutscher Mutter, den ich im April 2016 in München befragt habe, stimmt in der Sache mit Bilals Meinung überein, er definiert die ‚errettete Gruppe‘ (al-firqa an-nāǧiya) jedoch doktrinär zutreffender als das ‚Konzept (manhaǧ) der ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa.‘ Das impliziert, dass jeder, der diesem ‚Konzept‘ zuwiderhandelt und sich ‚der Gemeinschaft‘ (al-ǧamāʿa) widersetzt, vom Weg der Sunna, der als einziger zum (vollen) Seelenheil führt, abgewichen ist und sich in den Irrungen abweichender Lehren verfangen hat.

Die Frage, wer am Jüngsten Tag zur ‚erretteten Gruppe‘ gehören wird, wurde in den sunnitischen Häresiologien ausführlich behandelt und wird auch von den Salafisten selbst kontrovers beantwortet. Die Benutzung des Idioms ‚errettete Gruppe‘ erfüllt selbst in den internen Diskursen der Salafisten die Funktion, den ideologischen Rivalen zu delegitimieren. Die missionarisch orientierte Salafismus schließt auf der Basis dieses Hadiths neben Andersgläubigen ‚nur‘ nichtsunnitische [47]Muslime wie die Schiiten oder die Anhänger der Muʿtazilā vom Heil aus. Nach schärferen Auslegungen gehören selbst die bis heute in der islamischen Welt dominierenden sunnitischen Mainstream-Theologiesysteme der Ašʿarīya und Māturīdīya und ihre Anhänger nicht zum erlesenen Kreis der ‚erretteten Gruppe‘.

Noch einen Schritt weiter geht die dschihadistische Salafismus, der ‚militaristische Flügel‘, welcher den Dschihad als Selbstzweck und höchstes religiöses Gut betrachtet. Die Dschihadisten knüpfen die ‚Errettung‘ nicht nur an die Verinnerlichung des ‚richtigen‘ Verständnisses des Monotheismus, sondern auch an dessen praktische Umsetzung einschließlich der Etablierung des islamischen Gesetzes auf Erden, der Bereitschaft zur Beteiligung am Dschihad und der bewaffneten Verteidigung der Muslime in der Konfrontation mit einer Fremdherrschaft (Abu Rumman 2014: 53f.). Für die Dschihadisten ist also die Kombination aus Ideologie und ihrer aktiven Umsetzung im realen Leben, notfalls auch mit Gewalt, eine Glaubensvoraussetzung.

Eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Sektenhadith würde das Ziel dieser Arbeit verfehlen. Es erscheint mir jedoch lohnenswert, einige Aspekte dieses Hadiths zu beleuchten. Der Sektenhadith existiert in zahlreichen verschiedenen Versionen. Eine bekannte Form des Hadiths lautet: „ Die Juden haben sich in zweiundsiebzig Gruppen geteilt. Die Christen haben sich in zweiundsiebzig Gruppen gespalten. Und meine Gemeinschaft spaltet sich in dreiundsiebzig Gruppen“. In einer wird hinzugefügt: „Zweiundsiebzig davon befinden sich im Feuer, und eine im Paradies. Diese ist die (in der Lehre) übereinstimmende Gemeinde“ (Khoury 2008, 1: 58). Nach einer weiteren Variante wollen die Anwesenden daraufhin genauer wissen, wer die „eine Gruppe“ sein wird, woraufhin der Prophet ergänzt: „Es ist die Gemeinschaft (al-ǧamāʿa), die Hand Gottes ist über der Gemeinschaft!“ Laut einer anderen Version wird der Prophet gefragt: „Oh Gesandter Gottes, wer sind die [Angehörigen der] erretteten Gruppe?“ Er antwortete: „Wer auf einem ähnlichen [Weg] wie ich und meine Gefährten sein wird“ (Abu Rumman 2014: 52).

Die Authentizität des Sektenhadiths ist gemäß der Kriterien der traditionellen ahl-al-ḥadīṯ nicht unumstritten.15 Dies ist insofern bemer-[48]kenswert, weil der Neo-Salafismus hier einen Hadith als zentrales Narrativ seiner Glaubenslehre etabliert hat, der selbst in der ahl al-ḥadīṯ-Tradition mit einer gewissen Skepsis gesehen wurde. Diese frappierende Inkonsequenz scheint auf die Motivation zurückzugehen, mittels dieses Hadithkomplexes andere islamische Gruppen aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausschließen zu können.

Wenig überraschend zweifeln muslimische Intellektuelle wie Muhammad Imara oder Hasan Hanafi an der Authentizität des Hadiths. Letzterer hebt hervor, dass der häufig von Salafisten geäußerte takfīr, d. h. die Aberkennung des Glaubens anderer muslimischer Gruppen, auf besagtem Hadith als wesentlichem Textbeweis gründet. Dabei handle es sich um einen Hadith, dessen Authentizität zweifelhaft sei und der darüber hinaus nicht in ausreichendem Umfang (mutawātir) tradiert wurde. Den innerislamischen Diskurs aufgreifend, fragt er: „Wie kann es sein, dass die iǧtihādāt (d. h. die durch rationale Erwägungen von Gelehrten gewonnenen Auslegungen) der Gemeinschaft der Muslime alle dem Irrtum obliegen?“ Und Hasan Hanafi (2007) fährt mit folgenden Worten fort:

Die unterschiedlichen Textvarianten weisen auf eine geringe Authentizität hin. Sie schwanken zwischen [den Gegensatzpaaren der Bedeutungsebenen] allgemein (ʿām) bzw. spezifisch (ḫāṣṣ) sowie locker/ungebunden (muṭlaq) bzw. eingegrenzt (muqayyad). Der Hadith mag in seiner groben Bedeutung zunächst authentisch sein, die Angabe einer spezifischen und eingrenzenden Zahl der dem Untergang geweihten Gruppierungen bzw. die explizite Bestimmung der „erretteten Gruppe“ ruft [49]jedoch Zweifel hervor. [Der Kern des Hadith] besagt [nur], dass sich die Juden in 71, die Christen in 72 und die Muslime in 73 Gruppen spalten. Hier scheint es sich um eine Konstante des [menschlichen] Seins (sunan al-kaun) zu handeln bzw. um die Evolution und den Fortlauf der Geschichte.16

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