Kitabı oku: «Trauer und Licht», sayfa 4

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»Meine Großmutter war eigentlich nicht der Typ, der sich einmischte, vermutlich tat sie es nur, weil sie sich Sorgen um ihre Tochter machte«, erinnert sich Biancheri. »Sie fürchtete um Licys Gesundheit und ihre psychische Stabilität.« Alice Barbi Torretta kam eben aus Modena und war als junge Sängerin durch ganz Europa getourt, ihre Vorstellungen von einer Ehe lagen jenseits dessen, was Beatrice Tomasi di Lampedusa für verkraftbar hielt. »Meine Erinnerung setzt etwa 1939 ein, als ich knapp zehn war«, erzählt Boris Biancheri. »Ich weiß genau, wie mein Onkel damals aussah: nicht sonderlich groß und eher korpulent mit breiten Schultern. Damals war die Ehe wieder in ruhigeren Fahrwassern, sie hatten sich irgendwie arrangiert. Außerdem brach dann der Krieg aus, der äußere Druck wurde so groß, auf einmal rauften sie sich alle zusammen, sogar mit Beatrice. Giuseppe und Tante Licy kamen im Sommer in unser Haus am Meer in Ligurien. Besonders gesprächig war er damals nicht. Außer den beiden reiste übrigens auch immer Licys erster Mann André Pilar an, ich war es also gewohnt, zwei Onkel zu haben, Onkel Giuseppe und Onkel André. Die beiden waren gute Freunde geworden. Als ich klein war und noch wenig Gespür für die Eigenarten eines Menschen besaß, war mir Onkel André lieber. Er arbeitete in der Schweiz und brachte immer Pralinen mit. Onkel Giuseppe hatte nur irgendwelches sizilianisches Gebäck dabei, das ich nicht sonderlich mochte. Als ich älter wurde, entdeckte ich, dass Giuseppe ein außergewöhnlicher Mensch war, klug, humorvoll und sehr selbstironisch. Ein Kind kann das noch nicht wertschätzen.« Gemeinsam mit seinem Bruder begann Boris Biancheri, das Ehepaar in Palermo zu besuchen. Die Ferienaufenthalte haben sich ihm tief eingeprägt. »Meine Tante war ungescheut exzentrisch und gab gar nichts auf das, was die Leute sagten. Sie legte merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag. Sie war immer ganz in Schwarz gewandet, so als trüge sie Trauer, nach meinem Empfinden trug sie Trauer für ein ganzes Jahrhundert. Denn obwohl Tante Licy so frei und emanzipiert war, war ihre große Liebe das 19. Jahrhundert. Sie sah aus wie eine Fledermaus. Sobald sie das Haus verließ, setzte sie einen Hut mit Schleier auf. Wenn sie mit Onkel Giuseppe zu uns nach Rom kam, warf sie ihre Kopfbedeckung immer auf irgendeine kleine Stehlampe. Allerdings brannten diese Lampen Löcher in ihre Hüte, mein Bruder sagte zu ihr ›Auntie‹ – wir benutzten immer die englische Anrede –, ›siehst du nicht, dass deine Hüte voller Löcher sind?‹ Es störte sie nicht weiter. Außerdem rauchte sie dauernd, immerzu. Sie steckte sich eine Zigarette an, zog eine Schublade auf, legte die Zigarette hinein und schloss die Schublade. Nach einer Weile rauchte es dann aus der Kommode. In vielem war sie vollkommen unkonventionell. Eines Tages wollte sie allen Ernstes ein Go-Kart erwerben. Auf dem Land gab es einen Weg den Berg hoch, den sie nicht mehr zu Fuß bewältigen wollte, sie konnte nicht Auto fahren, andere Verkehrsmittel gab es nicht. Also ging sie zu einem Laden, der Go-Karts vertrieb, und wollte eins kaufen. Der Händler starrte diese alte Dame an und hielt sie für verrückt. Und ein anderes Mal verkündete sie uns, dass sie sich die Haare zukünftig mit der Tinte von Tintenfischen färben würde. Sie war vollkommen frei – ein freier Mensch.«

Als in Europa der Zweite Weltkrieg ausbrach, waren Giuseppes Sympathien für den Duce seit langem abgeklungen und sein Pessimismus kaum zu überbieten: Die sizilianische Aristokratie hielt er für dumm, das Bürgertum für geldgierig, die Bauern für gewalttätig. Hitler war ihm ein Grauen. Dass Italien ausgerechnet seinem geliebten England den Krieg erklärte, fand er absurd. 1939 wurde er für drei Monate zu einem Offizierslehrgang einberufen, dann aber wieder beurlaubt. Er saß in der Bibliothek herum und langweilte sich. In den Briefen, die das Ehepaar wechselte, ging es ausführlich um den Cockerspaniel Crab und dessen Speiseplan, aber auch um die Erbstreitigkeiten: »Des entrevues et des réunions parteilles et générales avec tous les héritiers which are a smart remarkable assembly of people, one-third fools, one-third lunatics, anche the rest of them rascals«, schrieb er in dem typischen mehrsprachigen Duktus, den die beiden pflegten. Unterdessen änderten sich die politischen Verhältnisse: Der Hitler-Stalin-Pakt erlaubte der Sowjetunion den Zugriff auf Lettland. Nach dem Überfall der Deutschen auf Polen kam es zu einem Aussiedlungsvertrag – die Deutsch-Balten mussten Lettland verlassen. Gegen Ende des Jahres 1939 verbarg Licy ihre Chippendale-Möbel und den Sekretär beim Gärtner unter Lumpen und versteckte ihre Gemälde beim Kutscher. Spiegel und Konsolen wurden im Heuschober verstaut, das Silber verschifft. Sie wollte nach Riga: »Alle fliehen ohne Ausnahme, mit zwei Handkoffern. In zehn Tagen wird es hier keinen Arzt mehr geben, keinen Rechtsanwalt. Die Pastoren gehen fort und verlassen unsere alten lettischen Kirchen.« Bei ihrem Abschied tröstete sie ihre weinenden Dienstboten und versicherte, wiederzukommen, was ihr nur noch einmal gelingen sollte: 1942 biwakierte sie für einen Besuch in einem Zelt vor dem geplünderten Schloss, Lettland war mittlerweile von den Deutschen besetzt. Licy mochte die Nazis nicht, aber die Bolschewisten, die ihr Stomersee nahmen, fand sie noch schlimmer. Giuseppe sah Mussolinis außenpolitische Gebaren mit Abscheu: »Man möchte auf seinen Pass spucken, der einen als Mensch ausweist«, schrieb er 1943 seiner Frau.

Schon 1940 hatten die alliierten Bombenangriffe auf Palermo begonnen. Man wollte die Materiallieferungen für die italienischen und deutschen Truppen nach Afrika unterbinden. 1942 spitzte sich die Lage zu, denn Sizilien bot den englischen und amerikanischen Truppen die Möglichkeit, die Wehrmacht an einer Seitenflanke anzugreifen. Es wurde gefährlich, und Giuseppe reiste mit seiner Mutter nach Capo d’Orlando zu seinen Cousins. In der Familie Piccolo herrschte keine finanzielle Not, im Unterschied zu seinen Eltern verstand sich seine Tante, von Giuseppes Mutter verächtlich »die Bäuerin« genannt, auf die Bewirtschaftung ihrer Besitztümer und verdiente viel Geld mit dem Anbau von Zitronen. In ihrem Haushalt lebte man mitten im Krieg, als in vielen Teilen der Insel Hunger herrschte und es häufig nur Orangen gab, auf großem Fuß. Die Tante legte Wert auf gutes Essen und beschäftigte eine hervorragende Köchin. Ostern 1942 schilderte Giuseppe seiner Frau das Festmahl, das aus Lasagne, vol-au-vent mit Languste, panierten Koteletts mit Kartoffeln, Erbsen und Schinken bestand, und zum Nachtisch gab es eine köstliche Torte nach einem Rezept von Escoffier aus Blätterteig, Sahne und kandierten Kirschen. Weil die Lage in Palermo immer unsicherer wurde, mietete er für seine Bücher und Möbel ein Haus in der Nähe von Capo d’Orlando.

Als Giuseppe am 7. April 1943 dann wieder mit dem Zug in Palermo eintraf und zur Via Lampedusa ging, traute er seinen Augen nicht. Das Dach, die Treppen, große Teile des ersten Stockwerks, die Außenmauer: von einer Bombe zertrümmert. Den Palazzo Lampedusa gab es nicht mehr. Er war fassungslos, schaffte es gerade noch auf eine Polizeistation und bat um Bewachung, dann packte er ein Paar Pantoffeln und Licys Fischotternpelz in eine Tasche und machte sich zu Fuß zu einem Verwandten nach Bagheria auf, wo er drei Tage vollkommen verwirrt neben der Feuerstelle hockte, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Es hatte dem Fürsten die Sprache verschlagen. Ein dramatischerer Angriff auf seine Identität war nicht vorstellbar, denn der Palazzo barg alles, was ihn ausmachte: nicht nur die Gegenwart, auch die Vergangenheit und die Geschichte seiner Familie. Die Bibliothek, sämtliche Bilder, die Möbel und das Porzellan waren mit Bedeutung aufgeladen. Es war, als hätte man ihm beide Beine abgehackt. Am 9. April schreibt er an Licy: »Muri, ma très chère Muri, ich schreibe Dir in großer Eile und im Zustand äußerster Trauer. Unser armes altes, liebes Haus hat am vergangenen Montag, dem 5. April, sehr schwere Verwundungen davongetragen. Die Treppe gibt es nicht mehr; der Trocchetto, der grüne und der gelbe Salon wurden ebenfalls sehr schwer getroffen. Du kannst Dir vorstellen, wie mir zumute war, als ich mich vergangenen Mittwoch nichtsahnend dorthin begab, und dann dieser fürchterliche Anblick. Ich kam nicht mehr hinein, da die Treppe nicht mehr vorhanden war und die Trümmer (ungefähr zwei Stockwerke hoch) den Übergang zur Dienstbotentreppe versperrten.« Ohne diesen Verlust wäre sein Roman Der Leopard vermutlich nie entstanden. Die Zerstörung des Palazzo, den Giuseppe Tomasi als Speicher seines Gedächtnisses empfand, war die Voraussetzung für seine schriftstellerische Arbeit. Nur durch den Akt der Erinnerung ließ sich der Verlust ausgleichen.

Licy begriff, wie verunsichernd dieses Ereignis auf ihren Mann gewirkt haben musste, und nachdem auch noch das angemietete Haus zerstört worden war, reiste sie unter großen Widrigkeiten an. Am 10. Juli landeten die Alliierten in Sizilien, die Befreiung der Insel ging schnell vonstatten. Weil Capo d’Orlando umkämpft war, setzte sich die kleine Familie etwas weiter südlich in einen Ort namens Ficarra ab. Unter dem Druck der Verhältnisse klappte es jetzt sogar zu dritt, zumindest eine Zeitlang. Nach dem Waffenstillstand im September 1943, der de facto eine Kapitulation Italiens war, kehrte das Ehepaar nach Palermo zurück und mietete sich einige Zimmer an der Piazza Castelnuovo. Als die Amerikaner nach unbescholtenen Persönlichkeiten suchten, empfahl sein Schwiegervater, der Botschafter a. D. Pietro Torretta, Giuseppe Tomasi di Lampedusa für die Leitung des Roten Kreuzes, die er dann eine Zeitlang übernahm. Zum ersten Mal in seinem Leben eine geregelte Beschäftigung! Aber die Aufgabe war kompliziert, auch weil die Amerikaner zahlreiche Mafiosi als Bürgermeister eingesetzt hatten. Schon nach anderthalb Jahren gab Giuseppe auf. Er war immer noch mit dem Elternhaus befasst, am Ende ließ sich doch einiges retten aus dem Palazzo, und seine Mutter bestand 1946 darauf, in den letzten beiden unzerstörten Zimmern zu wohnen. Als nach dem Referendum im Juni über die zukünftige italienische Regierungsform, bei dem erstmals auch Frauen Wahlrecht hatten, die Monarchie zugunsten der Republik mit 54,3 Prozent der Stimmen abgeschafft wurde, verstand Beatrice die Welt endgültig nicht mehr: Jetzt sei sie eine nullità, ein Nichts, irgendeine beliebige Signora, beschwerte sie sich bei der Portiersfrau. 1946 starb sie. Giuseppe verkaufte die Ruine, und wie durch ein Wunder lösten sich auf einmal die Erbstreitigkeiten, er konnte den Palazzo Benso in der Via Butera erwerben, den heutigen Palazzo Lanza Tomasi, in dem jetzt sein Erbe verwaltet wird. Auf der Meeresseite lagen damals meterhoch die Trümmer, in denen Prostituierte ihre Kundschaft empfingen.

JUNGE DICHTER IM THERMALBAD

»Natürlich reist man mit einem Diener! Wer tut das nicht? Ein Diener in Livree ist doch das mindeste!«, ruft Boris Biancheri aus, mit dem wir uns in Erzählungen über die Gepflogenheiten der sizilianischen Aristokratie verloren haben. Tatsächlich kam es im Juli 1954 zu einer folgenschweren Reise seines Onkels. Mit Diener. Das Ziel war ein Ort, der vor allem für sein Mineralwasser bekannt ist, San Pellegrino Terme, in der Nähe von Bergamo gelegen – von Sizilien aus betrachtet wie auf einem anderen Stern. »Sein Cousin Lucio Piccolo musste zu diesem Symposium fahren, bei dem es um seine Gedichte gehen sollte, und er hatte Sizilien selten verlassen. Also bat er meinen Onkel, der ein Weltbürger war und Frankreich, Deutschland und England kannte, ihn zu begleiten. Die Ankunft dieser drei sizilianischen Herren auf einem Literaturkongress, ein Lyriker, der sich von seinem Cousin begleiten ließ und noch einen Diener im Gefolge hatte, muss etwas Außergewöhnliches gewesen sein. Giuseppe hat diese Erfahrung sicherlich angeregt, kurz darauf begann er nämlich mit der Niederschrift des Leoparden. Er wird sich gesagt haben, wenn Lucio Piccolo so viel Aufmerksamkeit für seine Gedichte bekommt, kann ich es auch versuchen.«


»Too proud to compete«, unterzeichnete Giuseppe Tomasi (li.) in einem Gästebuch. Er misst sich nur mit seinesgleichen, hier mit Gioacchino Lanza und seinem Cousin Lucio Piccolo im Winter 1956.

Die Veranstaltung in San Pellegrino ging zurück auf einen umtriebigen Bürgermeister, der den Literaturkritiker Giuseppe Ravegnani, ebenfalls ortsansässig, für die Idee gewonnen hatte. Dieser kannte seinerseits unzählige einflussreiche Kollegen und konnte außerdem auf die Presseabteilung des großen Mailänder Verlages Mondadori zurückgreifen. Ravegnani schrieb am 1. Mai an Emilio Cecchi, Kritiker beim Corriere della Sera, Verfasser zahlreicher Bücher und zu jener Zeit einer der einflussreichsten Intellektuellen Italiens, und lud ihn ein. Er machte es so, wie man es in solchen Fällen macht: Dieser und jener habe bereits zugesagt, dieser und jener sei angefragt. »Wertester Cecchi, in San Pellegrino werden wir zwischen dem 16. und 19. Juli eine, nun, wie soll man es nennen, Tagung, eine Zusammenkunft, ein Fest begehen, das der Gegenwartsliteratur gewidmet sein soll. Diese Tagung soll das Gespräch zwischen den Generationen in Gang bringen, zwischen Schriftstellern von gestern (dem Alter nach) und jungen Schriftstellern von heute. Das Prinzip ist einfach: Nachdem ich eine kurze kritisch-informierende-orientierende Einführung gehalten habe, werden neun berühmte Schriftsteller neun junge Schriftsteller präsentieren. Dies soll in den ersten drei Tagen passieren. Am vierten und letzten Tag wollen wir dann ein Fazit ziehen mit Stellungnahmen der Nachwuchsautoren, des Publikums und all jener, die sich mit qualifizierten Fragen zu Wort melden wollen.« Dann ging Ravegnani dem Empfänger um den Bart: »Ich würde mir wünschen, lieber Cecchi, dass Sie unter den neun illustren Namen sind und zum Beispiel Mario Tobino vorstellen, für den Sie Sympathien hegen.« Der Schriftsteller Alberto Moravia und der Lyriker Giuseppe Ungaretti seien auch dabei. Emilio Cecchi sagte sofort zu, und zwar mit einem Telegramm. Aber könne man Mario Tobino, Jahrgang 1910, wirklich als »jung« bezeichnen? Die Zeit drängte, schließlich wurde ihm der achtunddreißigjährige Giorgio Bassani zugeteilt, später durch Die Gärten der Finzi Contini berühmt geworden.

San Pellegrino pulsierte. Junge Schriftsteller – mehr oder weniger –, ältere und ganz alte, Mitglieder des Ehrenkomitees, der halbe Mondadori-Verlag, der sehr erfolgreiche Nachwuchsverleger Livio Garzanti und neugierige Journalisten tummelten sich im Kursaal, dem weitläufigen Grandhotel, im Kasino und auf den Plätzen zwischen den Jugendstilvillen. Zum allerersten Mal wurde Literatur dem Publikum als öffentliches Ereignis dargeboten. Romane und Lyrik von gestern und heute. Treffen zweier Generationen lautete der Titel, und es war ein Zusammenspiel von Politik, Tourismusbüro und örtlichen Kulturfunktionären – damals noch etwas ganz Neues. Besucher waren allerdings rar, außer einigen klapprigen Kurgästen, die sich eher aus Versehen in den Saal verirrten, kam kaum jemand. Untergründig muss es viele Spannungen gegeben haben. Bassani zum Beispiel, so berichtete die Tageszeitung L’Eco di Bergamo, stellte sich als Ferrareser, Jude und Italiener vor, »ich bin mehr als ein Italiener, denn die Juden sind das Aroma des italienischen Bürgertums«, und er werde sich in seinen Büchern noch mit den Verwerfungen beschäftigen. Was nicht in der Zeitung stand: Ausgerechnet Ravegnani, der ebenfalls aus Ferrara stammte und dort Bibliotheksleiter gewesen war, hatte 1938, als die Rassengesetze in Kraft traten, Bassani den Zutritt zur Biblioteca Ariostea verwehrt. Die Mitläufer des faschistischen Regimes saßen längst wieder fest im Sattel und hatten die Diskurshoheit.

Das größte Aufsehen erregten aber tatsächlich die beiden sizilianischen Cousins, die sich auf den »Kontinent«, wie der Rest von Italien in Sizilien immer noch bezeichnet wird, gewagt hatten, im Grandhotel Continental in Mailand Quartier nahmen und morgens nach San Pellegrino fuhren. Ein Zeitzeuge, der Nachwuchsschriftsteller Guido Lopez, Pressesprecher bei Mondadori, schilderte die Ankunft von Lucio Piccolo, Baron von Calanovella, und dessen Vetter folgendermaßen: »Wir sahen, wie er am ersten Tag eintraf, ganz in Schwarz gekleidet, in einem imposanten Automobil aus Vorkriegstagen, das hier gemietet worden war, begleitet von einer weiteren, korpulenten Person, auch er ganz in Schwarz und – wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt – mit einer schwarzen Melone auf dem Kopf und einem Spazierstock in der Hand. Der Baron von Calanovella, mit einem bemerkenswerten zweigeteilten Schnurrbart, abstehenden Ohren, beweglichen und struppigen Augenbrauen über stechenden, leicht hervorstehenden Augen, trat zögernd auf die Gruppe illustrer Schriftsteller zu und deutete eine Verbeugung an. […] Dieses merkwürdige Paar sizilianischer Adliger, etwas linkisch und unbeholfen, hat sofort bei jedem Neugierde geweckt: eine beinahe karnevaleske Erscheinung mitten im Sommer, ein Intermezzo im Kostüm zweier Personen der Jahrhundertwende, die einen Autor suchen.« Auch Giorgio Bassani beobachtete die beiden. »Piccolo war die wahre Offenbarung der Tagung. Über fünfzig Jahre alt, zerstreut und schüchtern wie ein kleiner Junge, überraschte und verzauberte er alle, ob alt oder jung, mit seiner Freundlichkeit, seinen Manieren eines Edelmannes, der vollkommenen Absenz von etwas Komödiantischem, sogar mit der in die Jahre gekommenen Eleganz seiner schwarzen sizilianischen Kleidung. Aus Sizilien war er mit dem Zug angereist, in Begleitung seines älteren Cousins und eines Dieners. Es gab also genug, was eine Truppe von Literaten, die mehr oder weniger in den Ferien waren, in Aufregung versetzen konnte! Tatsächlich erweckten Piccolo, der Cousin und der Diener (ein bizarres Trio, das sich niemals trennte: der Diener, braun gebrannt und robust wie ein Bauer, ließ die beiden anderen nicht einen Augenblick aus den Augen …) […] die größte Neugierde, Bewunderung und Sympathie. Es war Piccolo, der den Namen und den Titel des Cousins preisgab. Der Cousin beließ es dabei, neben ihm auf den Straßen rund um den Kursaal herzugehen und während der Tagungsvorträge neben ihm zu sitzen, immer schweigend, mit immer demselben bitteren Zug um den Mund. Als ich ihm vorgestellt wurde, beschränkte er sich auf eine Verbeugung, ohne ein Wort zu sagen.«

Die Umstände, denen der Baron von Calanovella Lucio Piccolo seine Einladung zu verdanken hatte, waren kurios und gingen auf Eugenio Montale zurück. Montale, Redakteur beim Corriere della Sera, war damals neben Ungaretti der berühmteste Lyriker Italiens und einer der neun Illustren der Tagung. Ihm hatte Piccolo einen schmalen Lyrikband geschickt, fast mehr ein Heft: der Einband braun, der Umschlag marmoriert, das Papier dick und schwer. Neun Gedichte lautete der Titel. Sein Debüt. »Piccolo hatte zu wenig Porto auf den Umschlag geklebt, nur 35 Lire«, erzählt Boris Biancheri. »Montale musste extra auf die Post gehen, um die Sendung abzuholen, und außerdem 180 Lire Strafporto bezahlen. Er las die Gedichte nur, um herauszufinden, ob sie das Geld wert waren. Sie gefielen ihm. Gefragt nach einem Teilnehmer für San Pellegrino, schlug er den sizilianischen Debütanten vor, in der Annahme, es handle sich um einen jungen Mann. Als Piccolo und mein Onkel eintrafen, musste er allerdings feststellen, dass sein Gast nur fünf Jahre jünger war als er selbst, nämlich dreiundfünfzig.« Piccolos Gedichte seien dunkel und strahlend zugleich, lautete Montales eher unspezifisches Urteil, was der späte Debütant schulterzuckend zur Kenntnis nahm. Er fand die ganze Veranstaltung eher befremdlich. Als jemand das Wort an Giuseppe Tomasi di Lampedusa richtete und ihn fragte, ob auch er ein Dichter sei, gab dieser zurück: »Nein«. Was er denn dann von Beruf sei? »Fürst.« Und was er zum Broterwerb treibe? »Ich bin Fürst«, replizierte Giuseppe ein letztes Mal. Montale und Cecchi gerierten sich wie »die Marschälle von Frankreich«, befand er später.

Aber, so stellte sich dann heraus, für Giuseppe war der Besuch in San Pellegrino enorm wichtig. Schon zuvor hatte er auf Anregung seiner Frau begonnen, einige junge Leute bei sich zu Hause zu empfangen und mit ihnen systematisch über Literatur zu sprechen. Sein späterer Adoptivsohn Gioacchino Lanza gehörte dazu, außerdem dessen Freund Francesco Orlando, ein lustloser Student der Jurisprudenz, der nichts von Rechtswissenschaften, aber alles von Literatur wissen wollte, und noch ein, zwei andere. Diese Treffen wurden für den Fürsten zum Lebenselixier, sie waren eine ganz neue Energiezufuhr. »Mein Onkel kultivierte diese distanzierte Haltung, von oben herab, eine Spur verächtlich und immer ironisch«, erinnert sich Boris Biancheri. »Das spürt man dann später ja auch in seinem Roman. Aber er war ein Mann, und das war etwas Außergewöhnliches, mit einer sehr tiefen Liebe zur Literatur und zur Kultur. Dass er zum Beispiel für seine jungen Freunde diesen Unterricht abgehalten und allein dafür tausend Seiten Notizen angefertigt hat, hängt damit zusammen. Wenn man so will, ist es natürlich auch ein enormer Snobismus, einfach mal auf tausend Seiten drei jungen Männern die englische Literatur zu erklären. Nur so, ohne jedes Ziel. In diesen Lektionen gibt es sicher jede Menge Fehler und Ungenauigkeiten, aber er hatte einen unkonventionellen Ansatz. Welche Schriftsteller er mochte, welche nicht, entsprach gar nicht dem Kanon, er war da vollkommen frei. Er suchte nach Querverbindungen, nach Motiven, die variiert wurden, und ging zum Beispiel dem underdog nach. Unter seinen Schriften, die nun wirklich nicht zur Veröffentlichung gedacht waren, gibt es einige schöne Passagen, auch über die französische Literatur. Ich erinnere mich an kluge Bemerkungen zu Stendhal.« Giuseppe war also vom Fach und konnte die Diskussionen beurteilen, die die gestandenen Literaturkritiker in San Pellegrino mit den jungen Autoren führten, zu denen auch Italo Calvino, Goffredo Parise, Andrea Zanzotto und besagter Bassani gehörten. »Italien hat kein großes 19. Jahrhundert gehabt, abgesehen von Alessandro Manzoni«, meint Biancheri. »Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen die bedeutenden Schriftsteller alle aus Sizilien: Verga, De Roberto, Pirandello, dann Lampedusa, später Sciascia. Sizilien ist für die italienische Literatur enorm wichtig, so ähnlich wie Irland für England. Dennoch, das 19. Jahrhundert war literarisch wirklich nicht vergleichbar mit Frankreich, England, Russland. Giuseppe meinte, es läge an der Oper. Die Oper hätte das gesamte imaginäre Potenzial Italiens ein Jahrhundert lang okkupiert und beherrscht, alles andere wurde nicht gepflegt. Die Leute haben sich immer viel mehr für die Oper begeistert als für die Literatur. Da ist etwas dran. Er selbst hatte nicht viel übrig für Opern, er ging zwar hin, weil es einfach dazugehörte, aber er fand, dass die Oper Italien um den Roman des 19. Jahrhunderts gebracht hatte.«

Thesen dieser Art standen in San Pellegrino nicht zur Debatte. Giuseppe wurde in dem norditalienischen Kurort aber bewusst, dass die von ihm bewunderte literarische Welt nichts Besonderes war. Im Grunde alles normale Leute, teils über Gebühr eingebildet und gravitätisch. Auf der Rückreise amüsierten sich die beiden Sizilianer über die Tagung. 1962 schilderte Piccolo der Journalistin Camilla Cederna, immer wieder von »metallischem Gelächter« unterbrochen, die Gespräche: »Sie wissen ja, wie wir damals wahrgenommen wurden, wie zwei halbe Bauern, die von wer weiß woher kamen, zwei unbeholfene Provinzler. Uns hat das köstlich amüsiert. Ich erinnere mich gut, wie wir mit dem Zug durch das Brembo-Tal fuhren […]. Wir fassten noch einmal alles zusammen, die Schwülstigkeiten und die konventionellen Reden, die wir gehört hatten. Lampedusa glänzte darin, das Marionettenhafte auch der ernstzunehmenden Leute nachzumachen, wir haben dann sogar Pseudo-Artikel verfasst, die verschiedene Kritiker und Journalisten über uns schreiben würden, und wir lagen fast immer richtig.«

Kaum in Palermo zurück, nahm Tomasi den gemächlichen Rhythmus auf, den er sich in der Via Butera angewöhnt hatte: Er stand früh auf, durchquerte zu Fuß die Stadt bis zur Via Ruggiero Settimo, wo er sich in der Pasticceria del Massimo niederließ, den einen oder anderen Cannolo aß, vier Stunden blieb und manchmal einen halben Roman von Balzac las. Seitdem die Erbstreitigkeiten gelöst waren, kamen er und Licy einigermaßen über die Runden. Immerhin hatte sie einige Patienten, außerdem war sie mittlerweile Vizepräsidentin der Gesellschaft für Psychoanalyse und in Rom sehr geschätzt. »Die Ruine des alten Palazzo Lampedusa brachte einen Teil der Kaufsumme für das Haus in der Via Butera ein. Außerdem verscherbelten sie nach und nach Land, das Giuseppe noch geblieben war«, erzählt Boris Biancheri. »Mit diesen Erträgen kamen sie zurecht, allerdings musste mein Onkel den neuen Besitz mit einer hohen Hypothek belasten und dauernd Zinsen abstottern. Die Ratenzahlungen waren eine ewige Qual, was er aber meiner Tante nicht sagte. Übrigens hatten sie natürlich trotzdem Personal, das war ganz selbstverständlich. Mein Onkel mochte den Palazzo in der Via Butera nicht, er sagte, er habe ihn für Licy gekauft, aber es war ein vollkommen respektables Haus. Meiner Tante war es gelungen, einiges aus den Trümmern des Palazzo Lampedusa zu retten und in die Via Butera zu bringen. Die Bank auf der Terrasse haben Sie bestimmt gesehen? Auch einige der Kacheln und etliche Möbel, die Bibliothek natürlich, die Gioacchino und mein Bruder und ich uns geteilt haben. Gioacchino hat den Teil mit den historischen Büchern übernommen, wir den literarischen. Giuseppe hat unfassbar viel Geld für Bücher ausgegeben. Nach den Vormittagen im Café, wo er Kuchen und Eis aß, las und sich Notizen machte, ging er in die Buchhandlung Flaccovio. Schaute, was es gab, blätterte etliches durch und erwarb regelmäßig etwas. Er ließ sich seine neuen Bücher häufig binden, das war eine der wenigen Extravaganzen, die er sich erlaubte.« Wenn seine Neffen zu Besuch kamen, durften sie die kostbaren Bände durchblättern. Nur dass es in der Via Butera kein Mittagessen gab, war ein Ärgernis. Giuseppe brachte stattdessen große Kuchenpakete mit nach Hause oder er ging in ein Selbstbedienungsrestaurant beim Teatro Massimo. Den Nachmittag verbrachte er dann im Café Caflisch, wo er sich an einen Tisch mit Bekannten setzte, darunter der Historiker Virgilio Titone und der Musikkritiker Bebuzzo. 1954 begann Giuseppe, das Café Mazzara zu besuchen. Auch seine jungen Freunde kamen hierher. Dort, an einem kleinen Tisch in der Ecke, das Kuchenbüfett in Sichtweite, schrieb er 1955 innerhalb weniger Monate die erste Fassung seines Romans.

»Ich glaube, einige der sizilianischen Freunde meines Onkels hatten Schwierigkeiten mit seiner Haltung Sizilien gegenüber«, meint Boris Biancheri. »Man spürt zwar die Liebe zu seinem Land, aber Giuseppe sieht Sizilien dem Untergang geweiht. Vor allem seine Gesellschaftsklasse. Den Sizilianern wird das nicht gefallen haben. Es gibt diesen Dialog zwischen Chevalley und Don Fabrizio, bei dem klar wird, dass er zu einer Spezies gehört, die nicht etwas Neues hervorbringen wird, sondern kurz vor dem Aussterben steht. Einige Sätze des Romans sind in Italien zu geflügelten Worten geworden, wie ›Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern.‹ Das ist nicht nur sizilianisch, es trifft auf Italien als Ganzes zu. Man tut so, als ändere man die Dinge, und in Wirklichkeit bleibt alles beim Alten – ein typisches Verfahren der italienischen Politik. Giuseppes Freunde fanden daran wenig Gefallen. Und vielleicht waren sie auch skeptisch einer Person gegenüber, die in ihrem Leben eigentlich nichts zustande gebracht hatte. Giuseppe war ein wunderbarer Mensch, aber sicherlich kein Aktivist. Er hat nur eine einzige Sache gemacht, nämlich dieses Buch geschrieben, sonst hat er nie irgendetwas getan.«

Rücksichtnahme, taktisches Lavieren bei bestimmten Themen, die Zugehörigkeit zu einer literarischen Strömung – all das spielte für Tomasi di Lampedusa keine Rolle. Er war frei, sowohl von gesellschaftlichen als auch von ästhetischen Zwängen. Vielleicht gelang ihm deshalb auf einen Schlag Weltliteratur. Licy glaubte sowieso an ihn. »Meine Tante hat ihn sehr ermutigt. Sie hat ihn immer verteidigt, ihn sehr bewundert und hielt ihn für ein Genie. Das größte Genie war natürlich sie selbst, aber gleich danach kam Giuseppe. So war ihre Weltsicht.« Es sei eine Ehe zwischen zwei ebenbürtigen Intellektuellen gewesen, meint Boris Biancheri nachdenklich. »Vielleicht wäre Giuseppe mit einer sizilianischen Ehefrau glücklicher geworden. Ich weiß es nicht. Aber dass er so spät noch zum Schriftsteller wurde, lag sicherlich an ihr.« Inzwischen ist es draußen stockfinster geworden, der römische Nachmittag neigt sich dem Ende zu. Wir unterhalten uns noch eine Weile über Palermo und Giuseppes Bibliothek. Als wir uns voneinander verabschieden, erzählt Boris Biancheri an der Tür eine letzte Geschichte. »Wir brachten vor ein paar Jahren Giuseppes Bücher in unser Haus auf dem Land. Hier in Rom haben weder mein Bruder noch ich ausreichend Platz. Als wir die Kisten auspackten, fand ich eine alte Ausgabe der Reisebeschreibungen von James Cook von 1800, sehr schön gestaltet, mit Lithographien. Ich schlug sie auf, und ein Brief fiel heraus. Ich erkannte sofort die Handschrift meines Onkels. Es war ein Schreiben an einen Freund, Baron Merlo, wer weiß, ob der noch lebt, ich glaube eher nicht. Er gibt einige Hinweise, was das Personal des Leoparden angeht. Pater Pirrone sei nach dem Vorbild von jenem Priester gestaltet, heißt es zum Beispiel. Seinem Freund sei ja sicher aufgefallen, dass Tancredi viele Züge von Gioacchino trage, aber mehr äußerlich als in moralischer Hinsicht. Aber nachdem er den Brief zugeklebt hatte, muss ihm noch etwas eingefallen sein. Denn auf dem Umschlag steht ein Postskriptum: ›Achte darauf, der wahre Held dieses Romans ist der Hund Bendicò.‹ Das ist eine schöne Bemerkung.«

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