Kitabı oku: «Trauer und Licht», sayfa 3

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Giuseppe gab sich gern gehässig und ein bisschen zynisch. Obwohl eigentlich ganz unpolitisch, las er rechte Scharfmacher wie Papini und saß antisemitischen Klischees auf, dabei pflegte er später in Palermo eine enge Freundschaft mit einem jüdischen Ehepaar. In einem Brief an seine Cousins vom 13. August 1930 über einen Aufenthalt in Litauen findet sich folgende Beschreibung: »Anderntags, als ich über Kaunas reiste, fand ich den Bahnhof überfüllt von einem jüdischen Völkchen, das die Abreise eines Landsmannes nach Amerika feierlich beging … Diese unwahrscheinlichen langen grünen Mäntel, der Schweiß, der ihnen unter den langen pomadisierten Schläfenlocken hinunter rann, der Ziegengestank, die lauten orientalischen Rufe, als sich der Zug in Bewegung setzte, die Frauen, die auf die Erde fielen und ihre Beine in die Luft warfen, die außergewöhnliche Lebendigkeit, die aus diesen glänzenden Augen sprach, erklärten dem Monster einiges, auch die dann und wann verübten Massaker, tatsächlich in Kaunas, von den sehr weisen Russen.« Die systematische Verfolgung und Ermordung der Juden durch die Deutschen hatte noch nicht begonnen, aber hier zeigt sich, dass Giuseppes aristokratische Arroganz ihn für gesellschaftspolitische Brüche blind machte.

Ansonsten reiste er nach London, quartierte sich in der Residenz seines Onkels Pietro della Torretta am Grosvenor Square ein, ging tagsüber seinen Interessen nach, begleitete den Botschafter-Onkel abends zu Geselligkeiten, bereiste die Insel, fuhr bis nach Schottland und begeisterte sich für alles Angelsächsische: Humor, Ironie, understatement, fairplay, Mannschaftssport. Sogar für die Puritaner hegte er eine »lebhafte Sympathie« und sah in ihnen ein »unverzichtbares Desinfektionsmittel der Gesellschaft« mit einem gesunden Einfluss auf die englische Geschichte, denn »ohne sie würde die Verderbtheit die Welt beherrschen und die raffinierten Skeptiker und toleranten Aufklärer müssten sich zum Teufel scheren«. Verzicht, Strenge und Sinnenfeindlichkeit als Putzmaschine: Ausgerechnet ein Sizilianer, der am liebsten Torten und Kuchen aß und nie einer geregelten Beschäftigung nachging, ließ sich zu derartigen Äußerungen hinreißen. Vielleicht schwingt hier eine Spur Verachtung für die eigene Disziplinlosigkeit mit. Und dann die public schools – die frühe Trennung von den Familien sei viel gesünder als das italienische Modell! Giuseppe, der mit Ende zwanzig im Sommer regelmäßig mit seiner Mutter in den italienischen Bädern kurte, lobte die englischen Internate. Kann sein, dass er zweitausend Kilometer von Palermo entfernt die quälende Abhängigkeit von Beatrice deutlicher wahrnahm. In London jedenfalls fühlte er sich freier und lebendiger. Auch seine Verwandten bemerkten verwundert, wie leichtfüßig der Cousin in den Bus sprang. Er schwärmte von den Bibliotheken mit ihren dicken Teppichen und ledergebundenen Klassikern, nahm in einem Sessel am Kamin Platz und versenkte sich in Lektüren, ging Empfehlungen nach. Giuseppe schrieb zwei, drei Aufsätze in einem ornamentalen Stil, aber mit originellen Gedanken, einen über Yeats, einen über den schriftstellernden Antisemiten Paul Morand und einen über den Historiker und George-Geliebten Friedrich Gundolf. Die Essays erschienen in einer Zeitschrift, und einige Zeitlang konnte er sich in der Illusion wiegen, jetzt Publizist zu sein. Es kam sogar zu Verlobungen, eine mit einer weißarmigen Engländerin, auch von einer Schottin ist die Rede, aber beide Verbindungen wurden stillschweigend wieder gelöst.

Sein Onkel Pietro Tomasi della Torretta, bei dem Giuseppe in London wohnte, ein glänzender Diplomat, überzeugter Liberaler und offener Gegner Mussolinis, war mit Alice Barbi verheiratet, einer ehemals gefeierten Sängerin. Die Mezzosopranistin aus Modena mit dem großen Gesicht und der breiten Wangenpartie hatte zwischen 1882 und 1893 in Russland, Deutschland, England und Österreich mit ungewöhnlichen Konzertprogrammen auf sich aufmerksam gemacht. Sie war auf Lieder spezialisiert; Brahms war hingerissen von der dunklen Klangfarbe ihrer Stimme. Alice Barbi war die Witwe von Baron Boris Wolff von Stomersee, Beamter am Hof des Zaren, der bei der Oktoberrevolution ums Leben gekommen war. Aus dieser Verbindung besaß sie zwei erwachsene Töchter. Die eine hieß Olga, genannt Lolette, die andere Alessandra, genannt Licy. Giuseppe begegnete ihr 1925 in der Residenz seines Onkels, als noch eine der anderen Verlobten im Spiel war. Licy war zwei Jahre älter als Giuseppe, in Nizza geboren, in Sankt Petersburg aufgewachsen und ihrerseits mit einem groß gewachsenen, hellhäutigen, hochgebildeten estnischen Baron verheiratet, André Pilar Pilchau, der sich zu Licys Verblüffung als homosexuell entpuppte. Aus ihrer Ehe war nach und nach eine herzliche Freundschaft geworden. Also kein Hindernis für eine neue Bekanntschaft. Giuseppe kam gerade recht. Als Stieftochter seines Onkels Pietro war Licy streng genommen seine Cousine, auch wenn es keine Blutsverwandtschaft gab. Der Sizilianer konnte unbefangen mit ihr umgehen, viel unbefangener als mit den Töchtern der alteingesessenen palermitanischen Familien. Außerdem war sie eine Schlossherrin und besaß ein eindrucksvolles Anwesen. Innere Spannungen und Abgründe konnten sie nicht schrecken, denn sie praktizierte als Psychoanalytikerin. Den Eltern verschwieg er die neue Bekanntschaft zunächst.

»Aus Licys Briefen kann man deutlich ersehen, wie die Verhältnisse lagen. Sie verstünde sich großartig mit ihrer Schwiegermutter, schreibt sie dort, denn unter Frauen wisse man sofort, woran man sei. Aber sie wolle ein unabhängiges Leben«, erzählt Gioacchino, während wir immer noch in der Bibliothek an den Bücherregalen entlangstreifen. Er lernte Tomasi erst kennen, als dieser längst verheiratet war. »Giuseppe sagte einmal etwas eigentlich Schlimmes über seine Ehefrau, aber es war etwas dran: Um Licy zu begreifen, müsse man Ignatius von Loyola und Lenin gelesen haben, die ja ohnehin fast dasselbe seien. Ob mit calvinistischer oder mit kommunistischer Rigorosität, für beide gilt: Das, was gelehrt wird, ist die Wahrheit und nicht verhandelbar. Das traf auch auf Licy zu. Hier in Palermo steckt man seine Nase nicht in die Angelegenheiten der anderen, aber sie gab jedem, den sie kennenlernte, nach zehn Minuten Ratschläge: Du musst dies tun und das ändern und es so machen. Die Leute verzogen keine Miene, luden sie aber nicht mehr ein. Sie war einzigartig.«

FAMILIENROMAN
Der Neffe der Fürstin

Wie spricht man einen lang gedienten Botschafter an, der Italien in Japan, England und Washington vertreten hat, Generalsekretär beim Außenministerium und Unterhändler bei den Vorbereitungen für die Maastricht-Verträge war? Eccellenza kann nicht falsch sein. Boris Biancheri ist ein Diplomat alter Schule und zerstreut meine Bedenken schon, als er den Salon in der Via Sicilia in Rom betritt, wo wir in der Niederlassung des Verlegerverbandes verabredet sind. Nadelstreifen und formvollendete Manieren, aber ohne jede Steifheit, sondern sprezzatura, so wie es Baldassare Castiglione vom Hofmann forderte. Er ist ein großer Leser, schreibt selbst Bücher. Es ist ein dunkler Novembernachmittag im Jahr 2010, schon damals suche ich nach den Spuren Tomasi di Lampedusas. Der weißhaarige Botschafter a. D., 1930 in Rom geboren, gehört zur angeheirateten Familie und ist Licys Neffe, der Sohn ihrer Schwester Lolette. »Onkel Giuseppe war für damalige Verhältnisse ein weit gereister Mann. Ich bin übrigens doppelt mit ihm verwandt, denn meine Großmutter Alice hatte ja seinen Onkel Pietro, den Bruder seines Vaters Giulio, geheiratet, und meine Tante Licy heiratete ihn, also den Neffen ihres Stiefvaters. Großvater Pietro hatte eine brillante Karriere gemacht, er war italienischer Außenminister gewesen, später dann Senator und Gesandter in London. 1927 reichte es ihm mit Mussolini, er trat von seinem Amt zurück. Meine Großmutter brachte ihre Töchter mit in die Ehe. Meine Mutter und meine Tante waren eng miteinander verbunden und liebten sich sehr. Tante Licy war ziemlich bemerkenswert, überspannt, aber intellektuell absolut verblüffend. Sie und Giuseppe sind sich in London begegnet.«


»Licy ist schön, ein Engel an Sanftheit und Güte«, sagte Giuseppe Tomasi 1932. Cockerspaniel Crab war Teil des Beziehungsnetzes.

In diesen Familien überkreuzen und vermischen sich die Stränge mehrfach. Während Lolette, Licys Schwester, 1920 mit ihrer Mutter Alice zum Stiefvater übergesiedelt war und kurze Zeit später den italienischen Diplomaten Augusto Biancheri heiratete, Boris Biancheris Vater, kehrte Licy mit ihrem Mann André Pilar bald darauf nach Stomersee in Lettland zurück. Die kleine, zarte, sanfte Lolette ähnelte ihrer italienischen Mutter, aber Licy kam nach dem deutsch-baltischen Vater: groß, laut, entschieden. Sie hing an dem verstorbenen Baron Wolff, fühlte sich ihm in Stomersee näher, außerdem wollte sie die Besitzansprüche der Familie unterstreichen. Und sie mochte den riesigen alten Kasten, der nach einem Brand 1905 in neogotischer Manier wiederaufgebaut worden war. Im Winter waren allerdings nur wenige Räume bewohnbar, weshalb sie sich zum Teil auch in Riga aufhielt. Biancheri erläutert die historischen Zusammenhänge »Nach 1918 gehörte Lettland zeitweilig zum Deutschen Reich, die politischen Verhältnisse waren kompliziert, die Machtverhältnisse unübersichtlich. Die Baltendeutschen kämpften gegen das kommunistische Regime, sie waren später dann aber an einem Staatsstreich beteiligt, bei dem sie alles Vertrauen verspielten, schließlich erhielten sie im selbständigen Lettland einen Minderheitenstatus. Lettland war mehr oder weniger sozialistisch.« Seine Schlösser durfte der deutsch-baltische Adel behalten, der Grundbesitz wurde bis auf einige Hektar eingezogen.

Durch Felix Böhm, dessen Bruder Max Licy von der bahnbrechenden Methode der Psychoanalyse berichtet hatte, kam die lettische Baronesse zum Berliner Psychoanalytischen Institut. Böhm stammte ebenfalls aus Riga, außerdem hatte er sich mit einem Thema befasst, das Licy gerade sehr umtrieb: Homosexualität. »Meine Tante hat Anfang der zwanziger Jahre am Berliner Institut Seminare besucht und eine Lehranalyse bei Max Eitingon gemacht, Freud traf sie nur einmal kurz in Wien. Sie begann schon damals, als Psychoanalytikerin zu arbeiten. Nach dem Krieg war sie Mitbegründerin der italienischen Psychoanalytischen Gesellschaft, der SPI, und sogar deren Vizepräsidentin. In Palermo war sie die erste Psychoanalytikerin überhaupt! Zwischen den beiden Weltkriegen lebte Licy in Stomersee, auch nachdem sie Giuseppe geheiratet hatte. Sie liebte Stomersee, es war der Ort, der ihr am meisten bedeutete. Mein Onkel Giuseppe war gutmütig und willfährig und besuchte sie dort, es gibt Fotos von diesen Aufenthalten. Ob er dieses kalte Schloss zwischen zwei Seen inmitten von Wäldern wirklich mochte, vermag ich nicht zu sagen. Einen größeren Kontrast zu Sizilien mit seiner Sonne und dem Meer kann man sich nicht vorstellen. Aber er tat auf jeden Fall so, als gefiele es ihm dort.« Bevor die beiden 1932 heiraten konnten, hatte allerdings erst einmal Licys erste Ehe annulliert werden müssen. Obwohl André Pilar mehr als einverstanden war und seine Neigungen offenkundig, war das keine einfache Angelegenheit. Im Unterschied zu ihrem sizilianischen Verehrer, dessen Leben unter den Augen seiner Mutter in ruhigen Bahnen verlaufen war, hatte Licy schon mit Mitte zwanzig mehrere Brüche verkraften müssen: die Russische Revolution und die Flucht aus Stomersee, den Wechsel der Nationalität, den Verlust von großen Teilen ihrer Besitztümer, den Tod ihres Vaters und die Entdeckung, dass André Pilar keineswegs ein gewöhnlicher Ehemann sein würde. Als ihr das Ausmaß ihrer Verstrickungen bewusst wurde, erlitt sie mit Mitte zwanzig in Berlin einen Nervenzusammenbruch und bekam starke Medikamente. Das Resultat war eine enorme Gewichtszunahme: Licy wandelte sich zur Matrone. Ausladende Hüte und wallende Gewänder unterstrichen ihre imposante Erscheinung. »Un donnone«, lautet die italienische Bezeichnung für Frauen dieser Art, was aber durchaus auch respektvoll gemeint ist. Hinzu kam ihr dominanter Charakter.

Die Beziehung zwischen Giuseppe und Licy war ungewöhnlich, überraschend und zugleich symptomatisch. Vielleicht brauchte er ein nordisch-adliges Geschöpf dieser Art, um sich gegen seine Mutter zu behaupten. Was aber nicht hieß, dass Beatrice klein beigegeben hätte, im Gegenteil. Immerhin besaß Licy die Instrumente, um das Beziehungsknäuel zu durchschauen. Ihre Hinwendung zur Psychoanalyse ging sicher auf die Krise zurück, die sie als junge Frau erlitten hatte. Die Ausbildung war, wie es damals häufiger vorkam, unkonventionell verlaufen: eine vierjährige Lehranalyse mit Unterbrechungen, keine systematischen Seminare, eher punktuelle Interventionen, ein paar Stunden auf der Couch, ab und zu eine Supervision. In Stomersee und Riga führte Licy erste Behandlungen durch, allerdings häufig mit Bekannten, zu denen zum Beispiel das Hausmädchen der Familie und der Verwalter von Stomersee zählten, was eigentlich gegen das Berufsethos verstieß. Licys Eltern lebten mittlerweile in Rom an der Piazza dell’Indipendenza, und ihre Verbindung zu Italien wurde enger. 1929 wandte sie sich an den Triestiner Edoardo Weiss, den großen Pionier der neuartigen Behandlungsmethode in Italien, und bekundete ihr Interesse an der italienischen Gesellschaft für Psychoanalyse. Weiss war Mediziner, hatte in Wien studiert und bei Freud auf der Couch gelegen. Er sollte später zum Förderer und Unterstützer Licys werden. Es muss in derselben Zeit gewesen sein, als die Freundschaft zu Giuseppe einen anderen Charakter gewann und sich in eine Liebesbeziehung wandelte, was die beiden aber sorgfältig verbargen. Sie trafen sich in Rom, 1931 hielt sich Giuseppe erneut für mehrere Wochen in Riga und Stomersee auf. Briefe wurden postlagernd geschickt, weitere Reisen Giuseppes nach Rom mit getürkten Einladungen eines eingeweihten Freundes generalstabsmäßig vorbereitet. Tête-à-tête im Kino, am Cafétisch, im Park.

Beinahe täglich schrieb Giuseppe nun stürmische Liebesbriefe auf Französisch, zärtlich, überschwänglich, kopflos, in dem stillen Sizilianer loderten also noch ganz andere Kräfte. Am 17. Februar 1932 hieß es: »Liebe Goodi, mein Leben, mein Leben, meine Schöne, mein Engel, my sweet beloved, meine Freundin: ich denke an Dich mit einer so großen Liebe und so großen Freundschaft, mit tiefem Respekt und einer furiosen Sehnsucht! Ich liebe Deine Seele, meine Liebe, ich liebe Deine Augen, ich liebe Deinen Mund, ich liebe es, wenn Du Deine Spielchen mit mir treibst, ich liebe es, wenn Du mich von ganz Nahem mit Deinen ernsten Augen anschaust, ich liebe es, wenn Du lachst, ich liebe es, wenn Du süß seufzt. Ich liebe jede Facette Deines Gefühls und jede Falte Deines Körpers; ich bin verrückt nach Dir und zugleich bist Du meine gesamte Weisheit. Ich liebe Dich, Licy, ich möchte, dass Du mich für immer liebst, ich bete Dich an, ich will, dass Du mir gehörst. Jetzt gehe ich in mein Zimmer hinauf und werde versuchen, mit dem Gedanken an Dich und dem Begehren nach Dir in jeder Vene einzuschlafen.« Das Paar hatte sich offenkundig verlobt, teilte den Entschluss aber niemandem mit, sondern wartete auf den richtigen Moment: »Dass das endlich der Augenblick sein wird, in dem ich meinen nun zwei Jahre andauernden Durst nach Dir befriedigen kann, den ich bisher nur in kleinen Zügen zu stillen vermochte.« 1932 reiste die baltische Baronesse nach Palermo, trat aber als Freundin und immerhin ja auch angeheiratete Verwandte auf. Giuseppes Eltern wäre die 37-jährige Psychoanalytikerin nicht im Traum als Ehekandidatin in den Sinn gekommen. Viel zu alt – und auf befremdliche Weise unabhängig. Keine Frau für ihren einzigen Sohn, auch aus dynastischen Gründen nicht, denn schließlich hatte er einen Titel zu vererben und für den Fortbestand der Tomasis zu sorgen. So ließ Giuseppe nichts mehr von seinen Plänen verlauten. Das Paar wechselte weiter romantische Briefe, in denen viel von Proust die Rede war, den sie beide verehrten. »Meine Schönheit«, »Mein Engel«, »Meine Angebetete«, adressierte Giuseppe seine zukünftige Frau, oder auch »Muri«, »Murili«, »My sweet beloved«. Später sollten sich die Kosenamen wandeln, mit einem markanten Geschlechterwechsel – als »mein Kleiner« wird Licy dann tituliert. Es ging hoch her in diesen Briefen, schließlich musste hier alles formuliert werden, was in der Wirklichkeit noch nicht gelebt werden konnte, oder zumindest nicht richtig.

»Sie waren beide glänzende Briefeschreiber«, meint Boris Biancheri. »Man hatte damals aber auch viel Zeit für solche Dinge. Mit welcher Umständlichkeit mein Onkel seinen Müßiggang zelebrierte und darüber auch noch Buch führte, ist schon beeindruckend.« Am 8. Mai 1932 schrieb er aus Palermo: »Um zehn nach neun stehe ich auf, wie immer (die Uhrzeit, um die ich in Stomersee die Glocken läuten ließ). Pietro bringt mir mein Frühstück: Milchkaffee, Brot, Butter, dann verlässt er das Zimmer, um meine Garderobe und meine Schuhe vorzubereiten. Während ich esse, lese ich Zeitung. Toilette. Um halb elf gehe ich in die Buchhaltung, es handelt sich um eine Reihe von Zimmern, die Du nie gesehen hast am anderen Ende des Hofes. Dort hält sich mein Vater auf und tätigt Zahlungen oder lässt sich bezahlen, und dort erreichen mich die Neuigkeiten des Tages. Gegen Mittag verlasse ich das Hause und gehe zur Post, um Nachrichten von Muri zu erhalten oder auch, um keine zu erhalten, dann gehe ich in den Club, wo ich Briefe an ›Murili-Darling‹ schreibe, so wie in diesem Augenblick. Um eins trifft mein Vater ein und berichtet mir, was alles passiert ist. Um zwanzig nach eins machen wir uns auf den Weg. Unterwegs kaufen wir ein bisschen Obst ein, um diese Jahreszeit Kirschen und Aprikosen. Dann Mittagessen in der Art, wie Du es erlebt hast. Anschließend nehmen wir in der Bibliothek Platz und unterhalten uns: Meine Mutter beklagt sich über die Hausangestellten und Handwerker. Um drei kehre ich in meine Räume zurück, um zu lesen und Notizen zu machen bis gegen sechs. Um sechs verlasse ich mit meiner Mutter zu Fuß das Haus. Wir gehen die Via Ingham entlang, am Teatro Politeama vorbei bis zur Via Libertà, wo wir ein Erdbeereis mit Sahne zu uns nehmen (sehr lecker). Anschließend deponiere ich meine Mutter um Viertel nach sieben bei ihrer Schwester, also direkt gegenüber von der Eisdiele, und gehe wieder in den Club, wo ich mich dazu hergebe, die schüchternen Seelen mit meinen kühnen Meinungen zu traktieren. Ein junger Mann, der es schlecht getroffen hatte, gestand mir gestern, dass er die Nacht zuvor gar nicht habe schlafen können wegen meiner abwegigen Prophezeiungen (sehr phantasievoll und detailliert), die ich vor ihm ausgebreitet hatte. Um halb zehn (unglaublich!) Abendessen. Bibliothek bis um halb elf, dann gehe ich wieder aus, um Sciarra zu treffen, den Philosophen, oder meine Cousins im Club oder in einem Café.«

Licy wusste also bestens Bescheid über die Gepflogenheiten ihres zukünftigen Gatten, auch die enge Bindung an die Mutter – täglich ein gemeinsamer Spaziergang, auf dem er sich von ihr mit Eis füttern ließ – kann ihr nicht entgangen sein. Im August verließ Giuseppe Palermo Richtung Norden. Am 17. schickte er seiner Mutter einen Brief, in dem er ausführlich von den schönen Landschaften bei Kufstein berichtet und im Detail Mittagsmahlzeiten und Kuchensorten beschreibt. Drei Tage später traf er in Riga ein. Am 20. August 1932 gaben sich Giuseppe und Licy in der russisch-orthodoxen Kirche der Stadt das Ja-Wort. Jetzt musste er auch zuhause die Karten auf den Tisch legen! Am Tag seiner Hochzeit schrieb der verlorene sizilianische Sohn weitschweifige Briefe nach Hause, sowohl an seinen Vater als auch an seine Mutter, und tat so, als habe er sich just zur Eheschließung entschieden. Wortreich ließ er sich über die tiefe Zuneigung aus, die Licy seinen Eltern gegenüber hege. Nun sollten doch auch sie ihren Segen geben: »Euerm Giuseppe, der Euch verehrt, schreibt doch gleich, wie Euch zumute ist und vervollständigt unser Glück.« Es war offenkundig, dass er voller Schuldgefühle steckte, und weil er neun Tage lang nichts hörte, schickte er noch einen weiteren fünfseitigen Brief, in dem er ausführlich die Komplikationen der Scheidung Licys schilderte, ihren guten Charakter wortreich darlegte, die Mutter drei Mal beschwor, ihn zu entschuldigen, falls er sie traurig gemacht haben sollte. Ein fünfunddreißigjähriger Mann! »Ich bitte Euch: Ich weiß, wie sehr Ihr mich liebt und wie sehr alle Eure Gedanken um mich kreisen, aber ich bitte Euch, lasst Euch nicht von einem unvernünftigen Anflug von Zorn mitreißen, was nicht nur mein derzeitiges Glück trüben würde, das riesig ist (und das Euch rühren würde, könntet Ihr mich sehen), sondern auch mein zukünftiges.« Und schließlich ging es ans Eingemachte: »Licy ist schön, ein Engel an Sanftheit und Güte, sie hat ein auf merkwürdige Weise kompliziertes Leben mit großer Würde und unvergleichlicher Reinheit ertragen, und sie ist reich: Sie erhält 60.000 Lire im Jahr nur für sich, ohne Abzüge, netto, außerdem Stomersee und das, was das Land ringsum bringt, und wegen ihrer gesellschaftlichen Position und ihrer Persönlichkeit ist sie hier eine Art Königin; sie will in Italien leben außer im Hochsommer. Darauf, dass niemand mich je so verstanden hat und verstehen wird, will ich gar nicht erst bestehen, denn das wisst Ihr. Ich bitte Euch, denkt darüber nach, bevor Ihr ein so vielversprechendes Vorhaben (nichts kann es verhindern) mit einer Geste von Ungeduld zerstört.«

Zu verhindern war ohnehin nicht mehr viel, denn es war ja längst geschehen. Es trafen einigermaßen beschwichtigende Briefe ein, aber Giuseppe schien spätere Verwerfungen schon geahnt zu haben. Der anfängliche Enthusiasmus seiner neuen Schwiegermutter – eine Hochzeit für die arme Licy, endlich, nach all dem Kummer! – wich großer Irritation, als sich herausstellte, dass es nichts mehr zu feiern gab. Eine Hochzeit ohne Fest, wie sollte man das der weitläufigen Verwandtschaft, den Großtanten, Großonkeln, Cousinen, Cousins, Nichten und Neffen erklären? Wie sich, um Himmels willen, rechtfertigen? Ende September kam es zu einem Treffen in Bozen, zu dem die verschwägerten Eltern und die Brautleute anreisten und bei dem viel diplomatisches Fingerspitzengefühl notwendig war. Immerhin, Pietro Torretta, schließlich auch der Bruder der Bräutigammutter, war ja Botschafter gewesen. Boris Biancheri hat unterdessen Fotos seiner Großmutter Alice auf dem Tisch ausgebreitet und schildert die komplizierte Familiendiplomatie. Vielleicht ist es kein Zufall, dass auch er selbst den Beruf seines Stiefgroßvaters ergriff? Seine Großmutter wusste jedenfalls, wie es um ihre Tochter Licy stand, und hatte eine ganz andere Sicht auf die Dinge. In ihr Tagebuch schrieb sie: »Licy trauert ihrer verlorenen Position in Lettland nach, wo ihre Familie, ihr Name und auch sie selbst so ein großes Prestige besitzen, während sie in Palermo niemand ist und in zwei Zimmerchen wird wohnen müssen, in denen sie nicht einmal Besucher wird empfangen können, die sie sehen möchten. Weder versteht sie die Würde der Familie und den Titel, den sie jetzt trägt, noch kann sie dies überhaupt anerkennen.« Dass den Eheleuten keine eigene Wohnung im Palazzo Lampedusa zustand, sondern sie sich Wand an Wand mit Beatrice und Giulio Tomasi arrangieren sollten, fand Alice höchst befremdlich. Beatrice würde es nie zulassen, dass man ihr den Sohn wegnähme, bemerkte Don Giulio trocken. Für ihn selbst schien die enge Bindung zwischen Mutter und Sohn entlastend gewesen zu sein, zumindest war er so aus der Schusslinie. Als er dann 1934 auch noch starb, erbte Giuseppe den Titel und war nun der »principe di Lampedusa« – und endgültig an Palermo gefesselt: Ein sizilianischer Sohn kann eine verwitwete Mutter unmöglich allein lassen. Er hat für sie da zu sein. Immer. Die Ehe mit Licy geriet erst viel später in ruhigere Fahrwasser.

Boris Biancheri fängt an zu lachen, als ich Näheres über die Verbindung von Giuseppe und Licy wissen will. »Die Beziehung zu seiner Frau war sehr intensiv, stark vergeistigt und hochliterarisch. Meine Tante war von einer beeindruckenden Intellektualität, beide waren unglaublich gebildet. Sie unterhielten sich in einem fort über Bücher, zitierten auswendig Balzac, Thackeray oder Trollope, es war ein Feuerwerk. Und sie führten ihre Gespräche in mehreren Sprachen. Giuseppe hatte einen fürchterlichen Akzent, aber er konnte hervorragend Englisch und Französisch, und meine Tante war sowieso in allen Weltsprachen zuhause, es handelte sich also um eine extrem kosmopolitische Konversation. Giuseppes Mutter hat meine Tante Licy eher abgelehnt. Sie war ihr vielleicht zu gelehrsam, zu russisch, zu viele Reisen, zu viele Sprachen, zu viele Bücher. Eben überhaupt nicht das, was Beatrice Tomasi di Lampedusa für die ideale Frau eines sizilianischen Fürsten hielt.« Nicht einmal kochen konnte sie – aber ob Fürstin Beatrice jemals am Herd gestanden hatte? »Licy war einfach sehr eigensinnig, aber auch komisch. Sie bereitete Giuseppe solche schrecklichen Dinge zu wie eingelegte Heringe, und er war so gutmütig, sie auch zu essen. Sie mochte diese osteuropäische Küche, Zwiebeln, Fische, all dieses Zeug«, bemerkt Boris Biancheri leicht angeekelt, der bei Besuchen zu seinem Entsetzen feststellten musste, dass es in der Via Butera kein Mittagessen gab. Kein pranzo, keine seconda colazione in einem italienischen Haushalt – unvorstellbar. Anfang der dreißiger Jahre hatte das Ehepaar nur in Stomersee seine Ruhe. Während sich in Deutschland die politischen Verhältnisse zuspitzten und Hitler an die Macht kam, führten sie dort ein unbehelligtes Leben als Schlossherren. Es gibt Fotos aus der Zeit, Schnappschüsse: Giuseppe eine Spur tapsig, aber tadellos gekleidet mit Krawatte, Weste und Einstecktuch, Licy voluminös, doch elegant mit ausladendem Strohhut, beide lächelnd am Kaffeetisch im Park von Stomersee. Auf einem anderen Bild kurz nach ihrer Hochzeit stehen sie am offenen Fenster des Schlosses, Giuseppe schaut verschmitzt, Licy stolz, sie strahlen ein tiefes Einverständnis aus.

Licys naheliegender Anspruch, mit ihrem Ehemann eigene Räume zu bewohnen, am besten in einem anderen Stockwerk als die Schwiegereltern, war für sizilianische Verhältnisse überzogen. Die wenigen Monate mit ihrer Schwiegermutter unter einem Dach in den Jahren nach der Hochzeit müssen die Hölle gewesen sein, denn in den Briefen kommen die beiden immer wieder darauf zurück. Bis 1939 lebten sie de facto getrennt: Giuseppe am Rockzipfel der autoritären Mutter, Licy allein in Stomersee, wo sie zumindest ihre Patienten hatte. Ab und zu kam ihr erster Ehemann vorbei, ab und zu ihre Freundin Lila Ilašenko. Dass ihre Ehe diese Entwicklung nahm, machte ihr sehr zu schaffen. Eine Zeitlang war das Unglück groß. Sie schickte abwechselnd wütende, sehnsüchtige, verzweifelte und resignierte Briefe nach Palermo. Hinzu kamen diverse Krankheiten, vor allem eine verschleppte Gonorrhö, mit der sich Licy bei Giuseppe angesteckt hatte. Hier staunt man über ihre Großmut, denn in diesem Zusammenhang ist nie ein Vorwurf zu hören. Den Ärzten schenkte man damals aus Scham – vermutlich hatte sich Giuseppe die Infektion im Bordell geholt – keinen reinen Wein ein, darüber hinaus ließ sich Licy ohnehin nichts sagen und griff häufig zur Selbstmedikation. Zwischendurch mobilisierte sie dann wieder erstaunliche Energien, vor allem wenn es um ihren Beruf ging. Als sich die Gelegenheit bot, von der italienischen Gesellschaft für Psychoanalyse SPI aufgenommen zu werden, schuftete sie wie ein Pferd: »Du kannst Dir vorstellen, dass Dein Kleiner an allen Gliedern vor Ehrgeiz zitterte, mit seinen Bemühungen endlich an ein Ziel gekommen zu sein«, berichtete sie ihrem Mann 1936. »Jetzt also lässt sich Dein Kleiner um sieben Uhr morgens wecken, trinkt schwarzen Kaffee und arbeitet bis mittags, dann von neuem von drei bis sechs.« 1937 bekam sie sogar eine neue Patientin, eine Frau Sommer mit suizidalen Absichten, ein interessanter Fall, über den sie sich mit ihrem Mann schriftlich ausführlich austauschte. Licys Sitzungen dauerten oft drei bis vier Stunden, und sie ließ Frau Sommer samt Kind gleich auf Stomersee einziehen, nicht gerade im Sinne des freudschen Gebots von Abstinenz. Licy selbst schien also durchaus etwas Vereinnahmendes zu haben. Aber Palermo, Tür an Tür mit Fürstin Beatrice? Nie wieder. Es braucht nicht viel Phantasie, sich den Psychoterror vorzustellen, dem sie dort vom Frühstück bis in die Nacht ausgesetzt gewesen sein muss. Die Waffen einer sizilianischen Schwiegermutter sind scharf. Im Klartext: »Ich habe weder die physische noch die moralische Kraft, mich einer Situation auszusetzen, die meinem ganzen Wesen zutiefst widerspricht, und dann ohne Unterstützung von Deiner Seite, denn Du hast die Feindseligkeit, die mich umgab, ausdrücklich geleugnet«, so ein Brief vom 20. März 1936. Der Gedanke an all die Erniedrigungen und Lügen ließ sie nachts wachliegen. Giuseppe wirkte wie ein geschlagener Hund, aber jetzt müsste er sich doch entscheiden! »Und glaubst Du, mein Freund, dass wir noch so viel Zeit vor uns haben?«, fragte sie verzweifelt. Man könne nicht immer den Weg des geringsten Widerstandes gehen. Nein. Dann wurde auch noch das Geld knapp, im Palazzo Lampedusa begann man zu sparen und Licy indirekt vorzuwerfen, dass sie zu viel koste. Die Inflation hatte ihr Einkommen vernichtet, die Tomasis lebten ohnehin in prekären Verhältnissen, mit Personal, versteht sich. Außerdem hatte Giuseppe die Vermögensverhältnisse seiner Frau nie durchschaut: Stomersee war nämlich ihrem ersten Ehemann André überschrieben worden, weil er Lette war und Licy meinte, auf diese Weise den Besitz schützen zu können. Am 17. April 1936 ließ die verbannte Ehefrau Giuseppe wissen: »Wenn wir das gemeinsame Leben wiederaufnehmen wollen, müssen alle Ursachen des Unglücks und des häuslichen Kummers an der Wurzel gepackt werden: keine dritte Person zwischen uns. Es hängt von Dir ab. Glaub’ nicht, dass ich mir etwa nicht klarmache, dass das für Dich ziemlich unangenehm sein muss.« Im Palazzo Lampedusa trafen stapelweise Briefe ein, André Pilar, Licys Freundin Lila Iljaschenko, alle versuchten, die Wogen zu glätten und für Licy Partei zu nehmen. Am Ende meldete sich sogar Licys Mutter Alice zu Wort. Sie ließ ihren Schwiegersohn Giuseppe am 17. Juni 1936 wissen: »Licys Ideal wäre es, mit Dir zusammen in wenigen Zimmern allein zu leben, die ihr oder dir gehören, als absolute Herrin. So oft hat sie, ohne jemals zu klagen oder auf Einzelheiten einzugehen, davon gesprochen, wie froh sie wäre, in Torretta oder auch auf dem Occhio oder in einer kleinen Wohnung im Haus neben der Trinacaria zu leben, sie nach ihrem Geschmack einzurichten und die Freiheit mit Dir zu genießen.«

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9783946334552
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