Kitabı oku: «Salzburgsünde», sayfa 4
Maresa Stirner. Die Mutter von …
»Emilia Stirner«, flüsterte er. Er ließ das Blatt sinken, starrte ungläubig zu seinem Kollegen.
»Maresa Stirner? Kann das sein?«
»Ja.« Immer noch wirkte der Abteilungsinspektor sehr ernst. Sogar besorgt. »Ich wollte es dir persönlich zeigen, Martin, und nicht als Mailnachricht schicken. Wann hattest du zuletzt Kontakt zu Frau Professor Stirner?«
Merana schüttelte langsam den Kopf.
»Ich weiß nicht. Das ist sicher sehr lange her. Zehn Jahre mindestens. Vielleicht länger. Ich weiß gar nicht, ob sie überhaupt noch lebt.«
»Sie lebt noch.« Braunberger langte in die Mappe. »Und sie wohnt immer noch in Salzburg. Sogar an derselben Adresse. Was neu ist, ist ihre Telefonnummer.«
Er holte einen Zettel hervor, legte ihn vor Merana.
Emilia Stirner, las der Kommissar auf dem Blatt, geboren am 24.09.1945 in Salzburg. Darunter standen Anschrift und Handynummer. Ja, die Adresse war ihm vertraut.
Hold me close, hold me tight
Noch ein Schlag. Noch einer. Und noch einer. Dann bricht der Prügel. Er hat gar nicht vorgehabt, auf den Baum einzudreschen. Aber es tut ihm gut. Das spürt er. Einfach ein Knüller. He, du Mistbock, jetzt habe ich dir die Rinde aufgerissen. Aber du wirst es schon aushalten. Das musst du einfach! Ja!!! Er stockt. Hat er eben gebrüllt? Mit dem Baum? Ja, hat er. Schnell blickt er sich um. Keiner in der Nähe. Keiner, der ihn auslachen könnte. Dem würde das auch nicht gut bekommen. Es gab hier genug Prügel. Noch härtere als der, dessen Ende er in der Hand hält. Keiner da! Es ist ihm auch vorher niemand begegnet, als er den Berg herauflief. Total maximal. Da kann er getrost weiterbrüllen. Aber er will nicht mehr. Er wirft den abgebrochenen Ast zurück auf den Stoß, von dem er ihn genommen hat.
Make me thrill with delight
Let me know where I stand from the start
Jetzt hat er doch wieder zu schreien begonnen. Aber dem zerschundenen Baum vor ihm ist es wohl egal. Totaler Saftheini. Und sonst ist ja niemand unterwegs. Ja, brüllen! Das tut ihm auch gut. Erste Marke! Alles hyper. Nicht nur Äste gegen Baumstämme dreschen. Er hat wenig Erfreuliches erlebt in letzter Zeit. Gut, vor zwei Wochen hat er endlich einen E-Bass bekommen, samt Verstärker. Second hand. Aber low-priced. Jetzt braucht er nur mehr einen Platz, an dem er spielen kann. Er blickt sich um. Vielleicht hier heroben? Da ist eh keiner. Idiot!, schilt er sich, drischt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Sei kein Hirnheini! Plätze wie diese gibt es sicher einige. Aber siehst du hier irgendwo eine Steckdose? Unter freiem Himmel? Und ohne Strom geht gar nichts. Nochmals klatscht er sich gegen die Birne. Zu Hause hätte er Strom. Und auch genügend Platz. Er hat es ja versucht. Hat den Verstärker eingeschaltet, den Bass damit verkuppelt. Eingeschaltet und dann …
Well, it’s one for the money …
Er spürt, wie ihm die Finger feucht werden, wenn er daran denkt. Er steckt schnell die Hand in die Hose, tastet nach seinem steifen Glied.
But uh-uh honey …
Und dann hat er zum ersten Mal in die Saiten gegriffen, mit dem Zeigefinger die dicke Basssaite schnalzen lassen. Immer und immer wieder. Schnell. So wie er jetzt die Finger über sein Glied schnalzen lässt. Dann flog die Tür auf. Und der Alte raste in sein Zimmer. Mit hochrotem Kopf. Brüllend. Er sah gar nicht, wie der Alte mit der Hand ausholte. Aber der Schlag holte ihn von den Füßen. Mit dem Kopf krachte er gegen seinen Schreibtisch. Noch im Hochkrabbeln pfefferte ihm der Alte erneut seine flache Hand ins Gesicht. Dann riss er das Stromkabel aus der Wand und trat wuchtig gegen den Verstärker. »Schaff das sofort aus dem Haus! Das will ich nie mehr sehen!«, tobte er. Totaler Ballerkop! Dann rauschte sein Erzeuger wieder raus. Er zieht die feuchte Hand aus der Hose, wischt sich den Schleim mit einem Taschentuch ab. Seine Mutter konnte ihm auch nicht helfen. Denn die liegt seit zehn Tagen im Krankenhaus. Nein, er hat wirklich wenig Erfreuliches erlebt in letzter Zeit. Und auch sie ist offenbar krank. Auch sie hat er seit einer Woche nicht mehr gesehen. Weder vor ihrem Haus noch in der Schule. Vorher ist sie ihm nie so richtig aufgefallen. Wozu auch? Sie unterrichtet nicht im Knabenzweig, nur bei den Mädchen. Und das seit dem Herbst. Aber die Schmeiße in der Schule war offenbar ihre Idee gewesen. Wegen Mozartjahr. Mordsschaffe. Besondere Veranstaltung. Ja, sie war es! So hat es zumindest der Direktor in seiner Rede angemerkt. Da ist sie ihm erstmals aufgefallen. Gut, gesehen hat er sie schon vorher. Der Knaben- und der Mädchenzweig seines Gymnasiums sind ja im selben Gebäude untergebracht. Strammer Käfer, schaues Laufwerk2. Das schon. Aber so richtig aufgefallen ist sie ihm erst bei der Feier. Es hat ihm imponiert, was sie über Mozart sagte. Der war gar nicht so ein lackierter Schmusekomponist samt Perücke, wie er oft hingestellt wird. Der für seine zuckersüßen Melodien vergöttert wird wie bei dieser stinkfaden Kleinen Nachtmusik. Nein, der hatte durchaus Ecken und Kanten, konnte sogar wütend werden. Er war nicht nur lustig, er hatte auch viel zu erdulden, zu erleiden. Und das alles kann man auch in seiner Musik hören. So hat sie gesagt. Das klang gut. Und dann hat er sich hingestellt, um seine Show abzuliefern. Seinen Auftritt als Elvis.
Well, since my baby left me …
Aber die anderen kapierten gar nichts. Sie haben nur gelacht. Aber sie hat es verstanden. Sie allein. Sie ist ihm nachgelaufen. Und jetzt hat er sie schon eine ganze Woche nicht zu Gesicht bekommen. Soll er einfach bei ihr anläuten, in der Wohnung? Soll er einmal in der Schule nachfragen? Im Konferenzzimmer, beim Direktor? Ihm schaudert bei dem Gedanken. Der Direktor erinnert ihn oft an seinen Vater. Wieder steigt ihm das Bild hoch, als der Alte in sein Zimmer stürmte. Er hätte sich wehren sollen. Aber er war viel zu überrascht. Sein Vater hat ihn schon oft geschlagen, manchmal auch regelrecht verprügelt. Er hat sich noch nie gewehrt. Das macht man nicht! Die Erwachsenen sind die Erwachsenen. Und die Kinder haben zu gehorchen.
So war es schon immer. So bleibt es! Idiotenheini! Aus seinem Inneren kriecht es hoch. Abscheu. Ekel. Zorn. Das nächste Mal wird er zurückschlagen. Aber sein Alter ist stark. Kein Ameisengorilla. Ein Polzbrocken. Um einen ganzen Kopf größer. Vielleicht sollte er ihm einmal auflauern. Nachts. Irgendwo. Mit einem Prügel wie diesem. Er stößt die Hand in den Stapel, reißt einen der dicksten Äste heraus und beginnt wieder, auf den Baum einzudreschen.
Never leave me alone, ’cause I die every time we’re apart
I want you, I need you, I love you
With all my heart
2 wohlgeformte Frauenbeine
6
Wind frischte auf. Schon in der Früh bei seiner Joggingrunde hatte Merana eine kräftige Brise gespürt. Am Vormittag war sie abgeschwächt, aber jetzt wurde der Wind wieder stärker. Er schritt den Frohnburgweg entlang. Er machte so etwas öfter. Wenn ihm die Umgebung seines Arbeitsplatzes zu eng wurde, zu bedrückend, zog er es vor, sich im Freien zu bewegen. Manchmal griff er auch nach den Sportschuhen und joggte durch die Umgebung, bevorzugt durch die Hellbrunner Allee. Dieses Mal hatte er sich für einen schnellen Fußmarsch entschieden. Rasche Bewegung in jedem Fall. Denn er musste raus.
Emilia Stirner. Frau Professor Emilia Stirner. Sie hatte gar nicht zum Lehrkörper der Rechtswissenschaftlichen Fakultät gehört. Merana war mit 19 von seinem Zuhause bei der Großmutter im Pinzgau ausgezogen. Er wollte studieren. Jus. Vielleicht werde ich Rechtsanwalt oder Richter, hatte er damals gedacht. Er inskribierte an der Uni Salzburg. Schon ab dem zweiten Semester begann er, sich für das Angebot anderer Fakultäten zu interessieren. Er absolvierte ein Proseminar in Politologie und besuchte Vorlesungen am Institut für Geschichte. Dabei lernte er Emilia Stirner kennen. Sie war ihm vom Anfang an sympathisch gewesen. Bei einer ihrer Vorlesungen behandelte sie ausgewählte Persönlichkeiten der deutschen Revolution 1848/1849. Meranas Studienzeit lag wahrlich lange zurück. Er verfügte auch über keine nennenswerten Erwähnungen zu seinem Jusstudium. Doch an die Vorlesungen von Emilia Stirner konnte er sich bestens erinnern. Fast an jedes Detail.
Zwei junge Frauen auf Citybikes überholten ihn, als er am Ende der Straße in die Hellbrunner Allee einbog. Seine Füße fanden von alleine den Weg. Dieses Mal nicht Richtung Schloss Hellbrunn wie meistens. Die Füße bogen nach rechts, führten ihn auf die Stadt zu. Meist blieb er bei seinen Ausläufen zwischen den Alleebäumen stehen, ließ sich von der Schönheit der Umgebung begeistern.
Doch dieses Mal hingen seine Gedanken fest. Sie waren bei seinem Zusammentreffen mit Emilia Stirner. Das erste hatte stattgefunden im Rahmen der Vorlesung zur Revolution. Dabei ging es um eine Persönlichkeit aus Nordrhein-Westfalen, Robert Blum. Der gebürtige Kölner war nicht nur Revolutionär, sondern auch Politiker, Publizist, Schriftsteller. In einer der Vorlesungen sprach Professor Stirner ausführlich über Blums Herkunft, über seine Kindheit. Und genau nach dieser Vorlesung hatte Merana Emilia Stirner im Kaffeehaus angetroffen. Das Lokal lag in der Nähe des Instituts, wurde von Studenten wie Professoren gleichermaßen frequentiert. Er sah die Szene genau vor sich, während er durch die Allee stapfte, das Gebäude des ehemaligen Schlosses Lasserhof links vor sich. In dem befand sich heute eine Firma für Trachtenmoden. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, hatte er damals gefragt. Einfach so. Ganz spontan. Und er wusste noch heute, wie einladend freundlich ihre Handbewegung war, mit der sie ihm Platz anbot.
Es war im Grund genommen sie, die das Gespräch führte. Zumindest anfangs.
»Ich habe Sie heute bei der Vorlesung immer wieder sehr ernst erlebt, Herr Merana«, hatte sie begonnen. Er wusste es, als wäre es erst gestern gewesen. Er hatte noch den Klang ihrer Stimme im Ohr. »Sie schienen mir einerseits voll konzentriert beim Zuhören. Aber zugleich konnte ich mich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, Sie seien zugleich weit entfernt. Und Sie wirkten sehr bedrückt.«
Er hatte ein paar Mal tief geschluckt. Das wusste er heute noch. Wie lange er mit seiner Antwort genau gewartet hatte, konnte er nicht mehr sagen. Er hatte jedenfalls lange nach den richtigen Worten gesucht, das wusste er noch. »Ich war sehr ergriffen, Frau Professor.« Ja, »ergriffen« hatte er gesagt. Das wusste er noch. Und »beeindruckt«.
»Es hat mich tief beeindruckt, was Sie über die Kindheit von Robert Blum sagten.
Was er alles erlitt. Eine schwere Masernerkrankung mit drei Jahren, monatelange Blindheit. Den Verlust des geliebten Vaters, als er kaum acht war. Er verlor den Bruder, der an Schwindsucht starb. Alles in allem eine Kindheit mit unsagbar viel Leid. Und dennoch, das führten Sie aus, schaffte Robert Blum später einen beachtenswerten Weg zu einer angesehenen Persönlichkeit des öffentlichen Lebens.« Auch den Blick, mit dem sie ihn anschaute, fühlte er noch auf sich.
»Das hat Sie berührt?«
»Ja. Vor allem die Art und Weise, wie Sie es weitergaben, Frau Professor. Als wüssten Sie genau, wovon Sie sprechen. Ich glaube, es hat etwas mit persönlicher Erfahrung zu tun.«
Und auch den milden Blick, mit dem sie ihn gewiss mehr als eine Minute gemustert hatte, trug er in sich gespeichert.
»Sie sind ein sehr guter Beobachter, Herr Merana. Woran haben Sie dabei gedacht?«
Dieses Mal war seine Antwort schnell gekommen. Das wusste er genau.
»An meine Kindheit. Ich war neun Jahre alt, als ich meine Mutter verlor.«
Und dann hatte sie sich über den Tisch gebeugt. Und sie hatte ihre Hand auf seine gelegt.
»Dann waren Sie nur ein wenig jünger als ich. Ich war elf, als meine Mutter starb.«
Seine Füße stoppten. Er machte einen Schritt zur Seite, lehnte sich gegen einen der Bäume. Es hatte einfach gutgetan. Damals. Schon bei der ersten Begegnung.
Er lehnte den Kopf zurück, spürte die raue Borke der alten Winterlinde an seinen Haaren, auf seinem Rücken. Und bei allen weiteren Gesprächen, die darauf folgten, war es genau so. Da begegneten einander zwei Menschen. Eine Hochschulprofessorin und ein Student. Und beide hatten Ähnliches erlebt. Da musste man nichts lange erklären. Anderen gegenüber war das meist sehr umständlich und mühsam. Aber hier nicht. Wenn man über die Bedrücktheit sprach, über den tiefen Schmerz, über die Ängste, über die kindliche Verzweiflung, dann verstand das Gegenüber sofort, was gemeint war.
Merana war neun Jahre alt gewesen, als er seine Mutter verloren hatte. Sie war abgestürzt, tödlicher Unfall auf dem Berg. Am Abend davor hatte er mit ihr gestritten. Sie hatte ihn zu Unrecht eines Vergehens beschuldigt, das er nicht begangen hatte. Viele Jahre später hatte er mehr über die Umstände erfahren, die zu diesem Unglück geführt hatten.3 Dennoch nagte an ihm heute noch ein latentes Schuldgefühl, wenn er daran dachte.
»Ja, so ein schlechtes Gewissen nagt in mir auch«, hatte Emilia Stirner ihm einmal in einem der Gespräche bestätigt. »Man kann das anderen gegenüber nur ganz schwer erklären. In Wahrheit versteht das nur, wer Ähnliches erlebt hat.«
Eines Tages war Emilia Stirners Mutter verschwunden. Ganz plötzlich. Einfach nicht mehr heimgekommen. Und die elfjährige Emilia musste von da an mit ihrem tiefen Schmerz zurechtkommen, mit dem unsagbaren Leiden wegen des Fehlens eines zutiefst geliebten Menschen. Was Emilia blieb, war einzig und allein ihre Oma. So wie bei Merana. Das war gut. Und gleichzeitig war der Verlust riesig. Und jetzt waren auf dem Kapuzinerberg Knochen aufgetaucht.
Er löste sich vom Stamm der Winterlinde. Dann machte er kehrt.
»Magst du einen Kaffee, Martin?«
»Ja, gerne.«
Der Abteilungsinspektor hantierte an der Espressomaschine. Auch wenn er hauptsächlich Teetrinker war, hatte er ein kleines Gerät auf der Fensterbank stehen. Manchmal brauchte man das. Immerhin kamen andere Kollegen zu ihm ins Büro so wie jetzt.
Der Kommissar hatte Platz genommen. Espresso konnte er immer trinken. Der Kaffee war gut. Schließlich hatte er selbst großzügig dafür gesorgt, dass sein Abteilungsinspektor die richtige Kaffeequalität für den Espresso bekam.
Es hatte ihn zwar erstaunt, aber im Grunde brauchte es ihn gar nicht zu verwundern. Otmar Braunberger hatte offenbar den Namen Stirner über so lange Zeit in Erinnerung behalten. Kaum einer seiner Mitarbeiter verfügte über ein so brillantes Gedächtnis wie der Abteilungsinspektor. Nein, es brauchte Merana nicht zu wundern. Er sprach ihn trotzdem darauf an.
»Wir haben nicht oft darüber geredet, Otmar, und es liegt etliche Jahre zurück. Und dennoch hast du nicht nur den Namen behalten. Du hast sofort die richtigen Schlüsse gezogen. Ich bin beeindruckt.«
Der Kollege lächelte.
»Wir haben genau zweimal darüber geredet, Martin. Einmal hast du dich dabei auch Carola anvertraut. Und sowohl ihr als auch mir war von der ersten Sekunde an klar, welche Bedeutung diese Begegnung für dich hatte. Und gewiss noch hat. Und wohl auch für deine Professorin.« Braunberger nippte an seiner Teetasse.
»Es gibt keinen Grund, beeindruckt zu sein, Martin. Als ich in der Heiratsurkunde auf den Namen Stirner stieß, galt es, sofort etwas zu unternehmen.«
»Ich danke dir dennoch, Otmar.« Er stellte die leere Espressotasse ab.
»Ich fasse zusammen. Wir haben das Jahr 1956. Die kleine Emilia Stirner lebt zusammen mit Mutter und Großmutter in Salzburg. Wenn ich mich recht erinnere, gab es keinen Vater mehr.«
»Du erinnerst dich richtig. Niklas Stirner, Obergefreiter, gefallen am 18. Februar 1945.
Das war knapp drei Monate vor der Geburt der Tochter.«
Otmar Braunberger hatte inzwischen weitere Recherchen unternommen, während er bestrebt war, seine Gedanken auf dem Fußmarsch durch die Hellbrunner Allee zu ordnen. Aber davon war Merana ohnehin ausgegangen.
»Es ist der 22. Oktober 1956.« Dieses Datum war bei seinen Gesprächen mit Frau Professor Stirner oft gefallen.
»Ein Montag«, setzte er fort. »Maresa Stirner, Gymnasiallehrerin, kommt nach der Schule heim. Am frühen Abend macht sie einen Spaziergang. Von dem kehrt sie nicht zurück. Weder am selben Abend noch am nächsten Tag. Auch nicht in der Zeit danach. Ich nehme an, Otmar, du hast die Polizeiakten von damals angefordert.«
Der Abteilungsinspektor nickte.
»Ja, die müssten bald hier sein.«
»Viel wird wohl nicht zu erwarten sein.«
»Das fürchte ich auch. Der Vorfall liegt weit zurück. Mitte der 50er Jahre, gerade einmal ein knappes Jahr nach der amerikanischen Besatzungszeit. Da waren weder die Ermittlungsarbeit der Polizei noch die Dokumentationen dazu auf sehr hohem Niveau.«
»Das ist zwar gut nachvollziehbar, aber leider nicht hilfreich. Jedenfalls blieb Maresa Stirner damals unauffindbar. Emilia wuchs bei ihrer Großmutter auf. Keine Spur von der verschwundenen Mutter, all die Jahre hindurch. Bis am Freitag der Vorwoche unter dem Kadaver einer Gamsgeiß Teile eines menschlichen Skeletts auftauchen. 65 Jahre nach dem Verschwinden von Maresa Stirner.«
Merana lehnte sich zurück, faltete die Hände. Auch der Abteilungsinspektor blieb still auf seinem Bürostuhl. Beide sagten kein Wort. Schweigen herrschte im Raum. Mehrere Minuten lang. Dann sprach Merana aus, was wohl auch sein Gegenüber dachte.
»Uns liegt der Ring vor mit dem eingravierten Hochzeitsdatum. Gefunden in derselben Mulde wie die Knochen. Natürlich fehlt uns die Bestätigung, dass es sich tatsächlich um Maresa Stirner handelt. Absolute Gewissheit werden wir erst nach der DNA-Analyse haben.«
An der würden sie nicht herumkommen. Das war klar. Aber am Ergebnis hatte Merana keinen Zweifel.
Ja, er würde Frau Professor Emilia Stirner aufsuchen. Und das sehr bald. Nicht so sehr wegen der DNA, das war nicht das Wichtigste. Wichtig war etwas anderes. Er musste mit ihr ein schmerzhaftes Stück Vergangenheit heraufholen. Emilia Stirner, die als kleines Mädchen einen schrecklichen Verlust erlitten hatte. Ohne jemals wieder einen Hinweis zum Verschwinden ihrer Mutter zu bekommen. Den konnte er ihr jetzt geben. Die Begegnung würde schwer werden. Ganz schwer. Das spürte Merana jetzt schon. Es lastete auf seinen Schultern. In seinem Herzen. Denn da gab es diese Spuren an den Knochen, am Schädel. Unzweifelhaft Anzeichen von Gewalt. Die geliebte Mutter der damals elfjährigen Emilia war offenbar Opfer eines Verbrechens geworden. Das zu verkraften, würde für die Tochter schmerzhaft sein. Auch heute noch. Qualvoll. Das wusste Merana aus eigener Erfahrung.
3 s. Todesfontäne
7
Am nächsten Tag war er kurz nach 11 Uhr in der Stadt, steuerte den Festspielbezirk an. Das Treffen mit der Präsidentin gestaltete sich erfreulich. So wie immer.
Zuerst tauschten sie sich ein wenig über die Parsifal-Aufführung aus. Dann lenkte Merana das Gespräch auf die bevorstehenden Pfingstfestspiele. Er brachte sein Anliegen vor, berichtete vom Meeting der Führungskräfte von Polizei und Innenministerium. Die Präsidentin kam ihm sehr entgegen. Die Festspielleitung habe ein gewisses Kontingent an Karten in Reserve. Zumindest für eines der geistlichen Konzerte könnte sich das eventuell ausgehen. Sie würde Frau Hertel beauftragen, das nachzuprüfen. Versprechen könne sie nichts, aber sie sei zuversichtlich, ihm weiterhelfen zu können. »In jedem Fall kann ich Ihnen ein Angebot machen, Herr Merana.« Wenn es sich mit ihrem Terminplan vereinbaren ließe, wäre sie bereit für ein kurzes persönliches Treffen mit den Konferenzteilnehmern. »Das klären Sie am besten eine Woche vorher direkt mit unserer Frau Hertel. Allerdings stelle ich eine Bedingung.« In ihren Augen flackerte kurz das schelmische Leuchten auf, das er an ihr schon öfter wahrgenommen hatte. »So sehr ich Ihren Herrn Hofrat Kerner schätze, bin ich nur bereit für ein persönliches Treffen mit den Herrschaften, wenn Sie mit dabei sind, Herr Merana.« Anstatt einer Antwort machte er eine Verbeugung. Damit war er entlassen. Er betrat den Gebäudekomplex gegenüber den Festspielhäusern und setzte sich ins Café UNI:VERSUM. Er schaltete sein Smartphone ein. Heute Früh hatte er die Nummer von Emilia Stirner angerufen, sie aber nicht erreicht. Er hatte ihr eine Nachricht auf der Mobilbox hinterlassen. Schnell überflog er die Displayanzeigen am Handy. Sie hatte nicht zurückgerufen. Er fand auch keine Nachricht von Otmar, dass Frau Stirner sich direkt ans Büro gewandt hätte. Er überlegte, nippte am Kaffee. Er könnte von einer Streife überprüfen lassen, ob Emilia Stirner zu Hause wäre und nur ihr Telefon nicht hörte. Doch das erschien ihm nicht förderlich. Er wollte nicht, dass Frau Professor Stirner ihre Wohnungstür öffnete und sich uniformierten Polizisten gegenübersah. Der Kontakt hatte anders zu erfolgen. Er rief kurz den Abteilungsinspektor an, informierte ihn, was er zu tun gedachte. Dann zahlte er und ging zu seinem Dienstwagen. An der Staatsbrücke überquerte er die Salzach. Im Stadtteil Parsch steuerte er die Clemens-Krauss-Straße an. Die Wohnung von Emilia Stirner lag in einer der Nebenstraßen. Er parkte das Auto in der Nähe des vierstöckigen Wohnblocks. Es handelte sich um Eigentumswohnungen, vier große Appartements pro Stockwerk. Professor Stirners Wohnung befand sich in der obersten Etage. Er läutete. Keine Reaktion. Er lauschte an der Tür, läutete nochmals. Sie war offenbar nicht zu Hause. Sollte er bei den Nachbarn nachfragen? Direkte Verwandte, bei denen man nachforschen könnte, gab es keine. Das hatte Otmar Braunberger überprüft. Er läutete an der Nachbartür. Mehrmals. Auch da war niemand daheim. Er könnte an allen Wohnungen in allen Stockwerken klingeln. Doch wozu drängen? Seit mehr als 60 Jahren hatte Frau Professor Stirner nichts zum Verschwinden ihrer Mutter erfahren. Da kam es auf ein paar Tage nicht an. Er verließ das Haus und stieg in den Wagen. Doch er fuhr nicht gleich los. Er legte die Hände aufs Lenkrad, dachte nach. Dann fasste er einen Entschluss. Er wollte auf den Kapuzinerberg. Er wollte dorthin, wo nach über 60 Jahren plötzlich die rätselhaften Skelettreste aufgetaucht waren.
Es sind gleich zwei Berge, die das Stadtbild von Salzburg prägen. Auf der linken Salzachseite erstreckt sich der Mönchsberg. Merana erschien der Plateauberg manchmal wie ein friedlich hingestreckter Drache. Die Schwanzspitze reichte bis Mülln samt Kloster, Bräustüberl und der alten Pfarrkirche. Am anderen Ende ging das Drachenhaupt über in den Festungsberg mit der Festung Hohensalzburg und dem Frauenkloster Nonnberg an dessen Flanke. Ganz anders bot sich auf der gegenüberliegenden Seite der zweite Stadtberg dar. Der Kapuzinerberg wirkte gedrungener. Auch höher. Kein lang gestreckter Drache. Eher ein friedlich gestrandeter Wal mit mächtigem Haupt und stattlichem Körper. Prägten die Erscheinung des lang gezogenen Mönchsberg gleich mehrere Bauwerke, so fiel einem beim Anblick des Kapuzinerberges vor allem eine Baulichkeit sofort ins Auge: das imposante Gemäuer des Kapuzinerklosters. Während seines Studiums hatte Merana viel Zeit auf dem Kapuzinerberg verbracht. Jetzt kam er wenig dazu. Aber er schätzte ihn sehr, diesen Hausberg am östlichen Salzachufer. Da erging es ihm wohl wie den meisten Bewohnern der Stadt.
Er parkte das Auto etwas außerhalb und machte sich zu Fuß auf in die Linzergasse. Nach wenigen Minuten hatte er die Hausnummer 14 erreicht, hier begann die steinerne Kapuzinerstiege. Der rundbogenmächtige Eingang wirkte stattlich, geformt aus beeindruckenden Steinquadern. Wenn Merana es richtig im Kopf hatte, lag der Ursprung dieser Steine sogar in eiszeitlichen Konglomeraten. Es gab mehrere Aufgänge aus der Stadt zum Kapuzinerberg. Aber am liebsten stieg Merana in der Linzergasse durch die Franziskuspforte nach oben. Das gewölbte große Schild am oberen Teil des Bogens hatte gewiss glänzendere Zeiten erlebt. Doch die dicken Lettern waren einigermaßen lesbar. »Zum Kapuzinerberg. Zu den Stadtaussichten u. Franziskischlössl«, stand darauf. Der Schriftzug verströmt einen Hauch von Geschichte, dachte Merana. Da nahm man gerne in Kauf, dass im historischen Ensemble gleich dahinter sich der eine oder andere unpassende Fleck hinzugesellte. Verkehrstafeln zum Beispiel. Auch nicht mehr ganz modern in ihrem Erscheinungsbild, aber halt doch mit wenig historischem Flair. »Fahrverbot für alle Kraftfahrzeuge«. Er hielt auf die Steintreppe zu, nahm die ersten Stufen. Hier begann der Stefan-Zweig-Weg. Der österreichische Dichter hatte etwa 15 Jahre auf dem Kapuzinerberg gewohnt, im sogenannten Paschinger Schlössl. Plötzlich musste er an Parsifal denken, an die vor zwei Tagen erlebte Wagner-Oper. Da war es um viel Leid gegangen, um die Frage von Schuld und Sühne. Unwillkürlich blieb er stehen, blickte sich um. Das war ihm gar nicht mehr bewusst gewesen. Auch bei diesem Aufstieg stieß man auf Bilder des Leids. Der Weg war gesäumt von Kapellen und Mauernischen. Darin befanden sich Statuen. Diese Figuren stellten bestimmte Szenen dar, Stationen des Leidensweges von Jesus Christus. Geißelung, Christus im Gefängnis. Kreuzschleppen. Leid.
Fröhliches Gejohle drang an sein Ohr. Er blickte nach vorne. Eine Gruppe von Jugendlichen kam ihm entgegen. Die jungen Leute stürmten durch den Rundbogen der Felixpforte, liefen an ihm vorbei. Nach unten. Sie würden gleich die belebte Linzergasse erreichen. Er schaute ihnen nach. Die unbeschwerte Fröhlichkeit wirkte ansteckend. Auch sein Mund formte sich zu einem Lächeln. Im Leben lag oft alles sehr nahe beisammen: Szenen von Leid, Erkenntnis von Schmerz und zugleich Freude und Ausgelassenheit, eingebettet in die Schönheit einer außergewöhnlichen Umgebung. Die jungen Leute verschwanden aus seinem Blickfeld. Er setzte seinen Weg fort. Sein Aufstieg endete an der Skulpturengruppe der Kreuzigungsszene gegenüber der kleinen Kirche, die zum Kloster gehörte. Er hielt sich nach rechts. Wie immer, wenn er heraufkam, wollte er den verschwenderisch pompösen Ausblick genießen. Er trat an die Mauer, atmete tief durch. Der Anblick war schier unbeschreiblich. Er schaute hinüber zum Mönchsberg. Dort dominierte das Prunkstück der gesamten Szenerie: die Festung. Ihr zu Füßen ruhte die Stadt mit Häusern, Kirchen, spektakulären Dachlandschaften.
Dazwischen wand sich der Fluss, das Silberband der Salzach. Ein wahres Schmuckstück bot sich seinen Augen, ein Juwel zwischen Stadtbergen. Zwischen dem Mönchsberg mit Festung und Museum der Moderne und dem Kapuzinerberg, dem Platz, auf dem er stand. Wie pflegte der österreichische Schriftsteller Wolf Haas das in einem seiner Bücher in origineller Manier auszudrücken? … das musst du dir vorstellen wie ein funkelndes Edelsteincollier zwischen den prächtigen Brüsten einer Oktoberfest-Kellnerin, praktisch Vollendung der Natur. Ein helles Lachen entfuhr Merana, als ihm diese Passage in den Sinn kam. Er gönnte sich ein paar Minuten des Edelsteincolliers, ließ sich von der Majestät des Anblicks betören. Dann erhob er sich und ging weiter. Kurz hob er die Hand, als grüße er einen alten Bekannten, als er am Mozartdenkmal vorbeikam. Das hatte er schon früher gemacht, wie er sich erinnerte. Rechts vorne, etwas unterhalb des Weges direkt im Wald, musste der Platz liegen, den er suchte. Er öffnete am Handy die Fotodatei, studierte die Bilder. Er konnte sich gut an den umgestürzten Baumriesen orientieren. Gleich darauf war er überzeugt, die Stelle erreicht zu haben. Hier war keine offizielle Markierung platziert. Weder der Stadtförster noch die Kollegen aus der Inspektion hatten eine hinterlassen. Das war auch nicht nötig. Wenn sie im Verlauf der Erhebung zu der Ansicht kämen, es gäbe spurentechnisch etwas festzustellen, würde er die Tatortgruppe herbeordern. Zunächst wollte er sich alleine umsehen. Sich einen Eindruck verschaffen. Er ging in die Hocke, berührte den Boden. Was war passiert vor mehr als sechs Jahrzehnten? Er schloss die Augen und versuchte zu spüren. Nichts anderes zu tun, als zu spüren.
Am Abend gegen 21 Uhr erreichte ihn der Anruf. Ihre Stimme war kraftvoll, als hätte sie eben eine Vorlesung mit Bravour abgeschlossen. Aber sie klang zugleich aufgeregt.
»Ja, ist das denn möglich? Martin Merana! Nach so langer Zeit finde ich einen Anruf von Ihnen auf meinem Telefon. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mich das freut.« Sie verabredeten sich für den morgigen Tag, nachdem sie ihm erklärt hatte, noch in Oberösterreich zu sein. Für 16 Uhr lud sie ihn ein. Er war zufrieden.
Er war lange auf dem Kapuzinerberg geblieben. Fast bis zum Einbruch der Dunkelheit. Er war herumgestreift. Er hatte versucht, möglichst viel von der Atmosphäre des Berges auf sich wirken zu lassen. Die Wehrmauern erinnerten an die Zeit des 30-jährigen Krieges. Damals hatte Fürsterzbischof Paris Graf Lodron die Stadt befestigen lassen. Auch auf dem Kapuzinerberg. Eine Vorsichtsmaßnahme. Zum Glück war Salzburg vor fremden Heereseinfällen verschont geblieben. Zumindest damals hatte sich bei aller Bedrohung ein erfreulicher Ausweg gezeigt. Bei dem, was vor 65 Jahren passiert war, gab es keinen guten Ausgang.
Das bewies der Zustand der Knochen, die man gefunden hatte.
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