Kitabı oku: «Cantata Bolivia», sayfa 3

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Am Ende des Prados fuhren wir noch etwa 800 Meter weiter geradeaus, dann kamen wir an der mächtigen Barockkirche San Francisco an und bogen nach links ab in die steil ansteigende Calle Sagárnaga, die inmitten eines Viertels liegt, das fast ausschließlich von Indios bewohnt wird. Josef musste im Schritttempo fahren, weil die große Zahl Fußgänger nicht nur auf den Gehwegen, sondern vorwiegend mitten auf der Fahrbahn lief, offensichtlich total unbekümmert – der Autoverkehr habe gefälligst zu warten!

Herr Dziubeck empfing uns sehr freundlich am Eingang seines Geschäftes, ein unendlich langer Gang, an dessen beiden Seiten Unmengen von Anzügen und anderen Kleidungstücken an Garderobenhaken und Bügeln hingen. Josef und der Ladeninhaber unterhielten sich angeregt auf Polnisch, was den Kindern sonderbar vorkam. Ich musste ihnen den Grund erklären. Dann wandte sich der nette Herr Dziubeck Oliver und Lissy zu und meinte: „Dann woll’n wir mal seihen, ob wir ebbes für die siessen Kinderlach finden.“ Wir folgten ihm bis ans Ende seines Gewölbes, wo er einem Regal einen Stapel weißer Schulkittel entnahm. Die Kinder probierten herum, bis beide je zwei passende Stücke gefunden hatten. Als ich diese bezahlen wollte – Heiko hatte mir Geld mitgegeben –, sagte Herr Dziubeck: „Nein, nein, behalten Sie nur Ihr Geld. Is far mir a Mitzwe. Es soll sein mit Masel, damit die siessen Kinderlach a gite Shul’ haben werden.“

Ich dankte ihm sehr gerührt. Auch die Kinder bedankten sich, Lissy drückte ihm sogar einen Kuss auf die Wange. Ich habe mich auch redlich bemüht, hier die halb deutsch, halb jiddische Ausdrucksweise des Herrn Dziubeck wiederzugeben.

* * *

Als sie sich im Auto auf dem Nachhauseweg befinden, fragt Clarissa Josef, ob er wüsste, was Herr Dziubeck mit dem ihr unbekannten Wort „Mitzwe“ gemeint habe. „Ich bin mir ja auch nicht so sicher, aber sinngemäß, muss es eine religiöse Vorschrift der Juden sein, etwas Gutes zu tun – oder so ähnlich. Simon ist ein sehr religiöser Mensch, und er ist stark in der jüdischen Gemeinde engagiert. Ach ja, ich muss noch mit Heiko sprechen. Dziubeck hat mich nämlich heute gefragt, ob die Bäckerei Espinoza nicht vielleicht die La Pazer Juden an jedem Freitagnachmittag mit Schabbesberches, den rituellen, mit Mohnsamen bestreuten Sabbat-Brotzöpfen, beliefern kann. Er würde ihm hierfür das entsprechende Backrezept beschaffen. Ich denke, daraus könnte ein erträgliches Zusatzgeschäft für die Bäckerei werden. Wenn Heiko es richtig anstellt, müsste er an diesem neuen Umsatz finanziell beteiligt werden.“

Am nächsten Montag begleitet Heiko seinen Sohn auf dessen ersten Schulweg. Sein „Onkel“ Josef hat Oliver zur Einschulung einen schönen Lederranzen geschenkt, den er stolz auf dem Rücken trägt. Die in Deutschland zu dieser Gelegenheit üblichen großen, bunten Schultüten sind in Bolivien leider unbekannt. Von da an gehen Oliver und Mitbewohner Alfred Kahn gemeinsam zwei Mal täglich zu Fuß zur Schule und wieder nach Hause. Die kleine Lissy hat es da besser, sie darf mit der Straßenbahn zum Kindergarten und von dort wieder nach Hause fahren.

3. Geschichtliches

Allabendlich, nachdem sie ihr bescheidenes Abendbrot verzehrt haben, sitzen die älteren Bewohner der Casa Azul beisammen und unterhalten sich über die Themen des Tages. Vor allem natürlich über den schlimmen Kriegsalltag in Europa und Afrika. Mit tiefem Erschrecken hören sie die Berichte über die furchtbare Lage der verfolgten Juden, nunmehr auch in den besetzten Gebieten, sowie die unendlich scheinende Siegeskette Nazi-Deutschlands gegen den gesamten Rest der zivilisierten Welt. Dabei ist es meistens Heiko, der, wenn die Kinder im Bett sind, dem Rest der Anwesenden die tristen Neuheiten aus den Zeitungen „La Razón“ und „El Diario“ in Übersetzung vorträgt. Um Heiko ein wenig mehr Licht für das Zeitunglesen zu schaffen, wurde anstelle der 25-Watt-Funzel über seinem Platz am Esstisch eine 40-Watt-Leuchte in die Fassung eingeschraubt.

Im Laufe einer der auf Heikos Nachrichtenvortrag folgenden angeregten und oft heiß ausgetragenen Diskussionen, die sich nicht zuletzt mit den tagtäglichen Unannehmlichkeiten und den unerklärlichen Zuständen befassen, die man hierzulande zu erleiden glaubt, stellt plötzlich Herr Ullmann, dem die Hausgenossen hinter dem Rücken wegen seiner unbeirrbaren Suche nach einer Lösung für eine Berechnung der Kreis-Quadratur insgeheim den Beinamen „el Judío matemático“ (der mathematische Jude) verliehen haben, die folgende Frage: „Was wissen wir überhaupt über Bolivien, dieses Land, in dem wir in der größten Not Aufnahme fanden und an dem die meisten von euch so viel auszusetzen haben und sich beklagen? Warum ist hier so vieles anders, so ungewohnt für uns Mitteleuropäer?“

Darauf folgt langes Schweigen.

Schließlich bemerkt Max Sturm: „Sie haben recht, Herr Ullmann, Sie haben ja so recht. Überhaupt nichts habe ich von diesem Land gewusst, bevor wir hier ankamen, und viel mehr habe ich seitdem auch nicht erfahren. Uns ist doch vieles, über das wir uns jeden Tag wundern, unbekannt und unverständlich, von der uns bisher fremden Sprache dieser stets Coca kauenden Indios ganz abzusehen. Viele sprechen ja nicht einmal Spanisch, sondern ihre Aymara-Ursprache. Wieso eigentlich?“

„Nun ja, vieles wäre uns sicher etwas verständlicher, gingen wir den Ursachen ein wenig auf den Grund“, meint darauf Heiko.

„Herr Keller, Sie sind doch von uns allen der am meisten belesene Bewohner“, stellt Herr Kahn kurz darauf fest. „Könnten Sie uns vielleicht in einigen Vorträgen die Geschichte des Landes etwas näherbringen?“

„Oh, ja, Heiko, tue das bitte!“, fällt Clarissa mit Begeisterung ein. „Dafür bist du wie geschaffen, mein Lieber!“ Heiko überlegt ein wenig, dann stimmt er zu: „Also gut, ich bin einverstanden. Wenn Sie alle dies möchten, bin ich gern dazu bereit. Aber geben Sie mir ein wenig Zeit, um mich darauf vorzubereiten, in Ordnung?“

Wenig später sitzt Heiko, nachdem er seine Arbeit in der Bäckerei vollendet hat, einige Nachmittage in der Biblioteca Municipal und schreibt eifrig Wissenswertes aus diversen Geschichtsbüchern ab, die er entliehen hat. Besonders beeindrucken ihn die hanebüchenen Berichte des Dominikanermönchs Bartolomeo de las Casas über das Massaker, das die spanischen Conquistadores unter der Inka-Urbevölkerung bei und nach der Eroberung ihres Reiches verübten, dem Territorium, auf dem die heutigen Länder Kolumbien, Ecuador, Perú und Bolivien liegen.

Ein paar Wochen später ist Heiko dann bereit, mit seiner Vortragsreihe zu beginnen. Aufmerksam verfolgen seine Zuhörer, zu denen sich auch Frauke und gelegentlich Josef gesellen, sofern dieser gerade in La Paz und nicht auf der Hacienda weilt, seine Ausführungen. Um seine Zuhörer nicht mit zu vielen Details zu überfordern, beschränkt er sich auf das Wesentliche.

„Nun, für unser Verständnis fing hier wohl alles im Jahre 1492 mit der zufälligen Entdeckung Amerikas durch Cristóbal Colón an. Ich nenne ihn bewusst bei seinem spanischen Namen, damit euch die hiesigen Ausdrücke geläufiger werden. Übrigens, ihr habt vermutlich bereits seine beeindruckende Statue aus weißem Marmor am Prado bewundern können. Es war eine Spende der hiesigen italienischen Kolonie.“

Erwartungsvoll blickt Heiko in die Runde seiner Zuhörer und erntet Zustimmung durch allgemeines Kopfnicken.

„Es ist bekannt, dass Colón im Auftrag der spanischen Krone mit seinen drei kleinen Karavellen – Santa Maria, Pinta und Niña – eigentlich auf der Suche nach einem direkten und kürzeren Seeweg nach Indien war. Da kam ihm doch unerwartet der amerikanische Kontinent sozusagen in die Quere. Weil er anfänglich dachte, er sei tatsächlich in Indien angelandet, nannte Colón die Eingeborenen Indios, und seine damalige Fehleinschätzung hat bis heute Bestand. Jedenfalls kniete er auf jener Insel, die er ‚La Española‘ taufte (und die sich heute die Dominikanische Republik und Haiti teilen), nieder und nahm damit ebenfalls den riesigen Kontinent im Namen seiner katholischen Majestäten von Castilla, Isabel und Fernando II, in Besitz.

Aber es ist nicht so, dass hier, auf diesem Erdteil, alles mit dem Eintreffen der Spanier begann, nein, durchaus nicht. Es existierte auf dem amerikanischen Kontinent schon seit vielen Jahrhunderten die sogenannte Präkolumbianische Ära. Während die Europäer sich noch im dunkelsten Mittelalter befanden, waren es die Inkas, unter deren Herrschaft bereits die umfangreiche Zivilisation Südamerikas in den für uns bedeutsamen, hiesigen Gebieten der Anden entstand. Deren gesamtes Reichs-Territorium, das sogenannte Tahuantinsuyo, umfasste vier Suyos oder Teilgebiete im Norden, Osten, Süden und Westen. Die unsere, die südliche Region, nannte sich Collasuyo.

Der bedeutendste Gebieter oder Inka war nicht unbedingt ein erstgeborener Nachkomme des vorherigen Herrschers, sondern wurde wegen seiner besonderen Eigenschaften als Regent gewählt. Nach seiner Wahl hielt er sich stets fernab von seinen Untertanen. Alles, was mit ihm in Berührung kam, betrachtete man als heilig. Getragen wurde er in einer Sänfte, denn eine Bodenberührung hätte, bedingt durch seine Heiligkeit, unweigerliche Katastrophen auf der Erde verursacht. Neben dem Inka gab es noch einen ihm beigeordneten Landesverweser, der sich um die üblichen Regierungsgeschäfte zu kümmern hatte.

Gemäß der Legende wurde das Imperium durch den ersten Inka, Manco Cápac, ein vom Sonnengott Inti Entsandter, begründet. Er entstieg dem Lago Titicaca in Begleitung seiner Ehefrau, Mama Ocllo, und gründete die Reichshauptstadt Cuzco, heute in Perú. Ungefähr ein Dutzend Inkas regierten schließlich nacheinander das Imperium bis zur Ankunft der spanischen Conquistadores Francisco Pizarro und Diego de Almagro im Jahre 1532. Der Krieger Atahualpa hatte seinen Bruder Huascar durch einen militärischen Coup aus dem Amt verdrängt und sich selbst als Inka inthronisiert. Später ließ er den Bruder sogar ermorden.

Die von Atahualpa ausgesandten Späher überwachten die 168 mit Pizarro in Tumbes angelandeten Soldaten, von denen 37 beritten waren, bei ihrem Vormarsch. Sie berichteten ihrem Herrscher, dass es sich wohl um weiße Götter handelte, die in Eisen gekleidet seien, auf wilden Monstern ritten und sehr laute, feuerspuckende Stäbe mit sich führten. Der Inka hielt dies für ein gutes Omen und sandte ihnen Emissäre entgegen, um die Götter zu sich einzuladen. Diese falschen Götter waren aber zunächst von Reichtum und Kultur der Ureinwohner stark beeindruckt, ebenso wie von deren offensichtlich zahlreichen Streitkräften, über die ihr Herrscher verfügte. Allerdings war die primitive Bewaffnung der Inka-Armee mit Schleudern, Speeren und Piken derer der Spanier stark unterlegen. Diese zählten zudem auf die psychologische Wirkung, die ihre wild wiehernden und sich aufbäumenden Pferde sowie das ohrenbetäubende Krachen der Musketen unter den verschüchterten Indios verursachen würde.

Nach einer ersten Begegnung der Emissäre, bei der beiderseitig Geschenke ausgetauscht wurden, luden die Spanier den arglosen Inka Atahualpa zu einer Feier ein. Seine Präsente, darunter zwei wertvolle, große und massive Goldbecher, hatten die Gier der Eroberer nach noch mehr Reichtum geweckt. Man nahm den Inka gefangen und sperrte ihn kurzerhand in einem großen, dunklen Raum ein. Als ein Pfarrer ihm Bibel und Kruzifix hinhielt, nahm Atahualpa wortlos zunächst das eine, dann das andere in die Hand, schüttelte beides, hielt die Gegenstände an sein Ohr, und als er nichts wahrnahm, warf er sie despektierlich zu Boden. Seine ahnungslosen Gesten – in den Augen der Conquistadores ein unverzeihlicher Frevel – brachten ihre Wut zum Lodern und man wollte ihn auf der Stelle töten. Aber Pizarro gebot seinen Leuten Einhalt. Ein eilig einberufenes Inquisitionsgericht verurteilte den Monarchen wegen Brudermordes, Häresie, Beleidigung und Schändung von Heiligtümern der katholischen Kirche, wegen Irrglaubens und noch weiterer abstruser Beschuldigungen zum Tode auf dem Scheiterhaufen.

Über einen Dolmetscher, der sowohl etwas von der geläufigen Inka-Sprache – bis heute sind sich die Gelehrten nicht einig geworden, ob diese nun Aymara oder aber Quechua war – verstand als auch schlechtes Castilianisch sprach, bot Atahualpa den Eroberern als Lösegaben für sein Leben, seinen Gefängnisraum mit Gold bis zu jener Höhe zu füllen, die er auf Zehenspitzen erreichen konnte. Man schätzt den heutigen Gegenwert des angebotenen Lösegeldes auf etwa 600 Millionen US-Dollar.

Die Spanier gingen zunächst zum Schein auf das Angebot ein. Aus dem ganzen Tahuantinsuyo machten sich Abertausende von Trägern auf den Weg, die alle zusammengetragenen Goldgegenstände nach Cajamarca, dem Ort, an dem der Inka gefangen gehalten wurde, bringen sollten. Ein Feind Atahualpas verbreitete die Lüge, dass der Inka die ihm gewährte Frist für eine Rebellion gegen die Spanier nutzen wolle. Als ihm dies zu Ohren kam, ordnete Pizarro an, die Todesstrafe sofort zu vollstrecken. Da der Inka wegen der körperlichen Unversehrtheit seines Leichnams – gemäß seines Glaubens, die Bedingung für sein auf dem Tode folgendes, ewiges Leben – schließlich einwilligte, sich taufen zu lassen, wurde am 26. Juli 1533 die Todesstrafe anstatt auf dem Scheiterhaufen durch Strangulation mittels Knebel vollstreckt. Als den Trägern des Goldschatzes die Nachricht vom Tod ihres Inkas überbracht wurde, änderten sie schlagartig ihre Route. Wohin sie den sagenhaften Goldschatz verbrachten und wie und wo sie ihn versteckten, ist bis heute ein großes Geheimnis.

Unzählige Expeditionen aus allen Ländern der Erde suchen noch heute diesen immensen Goldschatz, der den geheimnisträchtigen Namen ‚El Dorado‘ trägt.

Ich glaube, fürs Erste dürften die geschilderten Grausamkeiten genügen, nicht wahr?“, versucht Heiko seine Zuhörerschaft aufzumuntern. „Hoffentlich könnt ihr dennoch in der heutigen Nacht ohne schlimme Träume gut schlafen. Das nächste Mal mehr von der Eroberung des Landes und der Plünderung der Indios durch die spanischen Conquistadores. Ich wünsche euch allen eine gute Nacht!“

Für seinen ersten Teil des geschichtlichen Vortrages erntet Heiko einen wohlverdienten Applaus.

* * *

Während die Familie Keller sowie die übrigen Immigranten mehr schlecht als recht versuchen, sich mit ihrer neuen Heimat allmählich vertrauter zu machen, wohnen in ihnen allen die stete Unruhe und das Entsetzen über das Kriegsgeschehen in ihren ehemaligen Ursprungsländern. Mangels eigener Radioempfänger versammeln sich die Menschen täglich kurz vor zwölf Uhr mittags an der Pracht-Avenida 16. de Julio, allgemein als Prado bekannt, um den über Lautsprecher verbreiteten Weltnachrichten des Staatssenders Radio Illimani zu lauschen.

So erfahren sie nach und nach von den letzten furchtbaren Geschehnissen: die Teilung Frankreichs, Hitlers Befehl zum verstärkten Angriff auf Großbritannien durch Marine und Luftwaffe, der darauf folgende mörderische Luftkrieg über England, die Battle of Britain, die in dem Abschuss von achtundfünfzig Luftwaffen-Bombern gipfelt, die gezielte Zerstörung der deutschen See-Transportflotte durch die RAF-Flieger, die dadurch Hitlers geplante „Operation Seelöwe“ zum Landangriff auf England erfolgreich zunichtemachen, der Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und dem kaiserlichen Japan, die barbarische Auslöschung der Stadt Coventry durch die Bomben der Nazi-Luftwaffe und nicht zuletzt die bestialischen Massendeportationen der inzwischen völlig entrechteten jüdischen Bevölkerung aus allen von Deutschland besetzten Gebieten und deren systematische Ermordung in den dafür besonders eingerichteten „Endlösungs“-Konzentrationslagern.

Gelegentlich kommt es anlässlich der Nachrichten zu unangenehmen Begleitszenen. Offensichtlich haben es einige nazistisch eingestellte Deutsche darauf angelegt, die meist jüdischen Zuhörer zu provozieren und zu verhöhnen. Bei der Verkündigung deutscher Siege brechen sie in Jubelgeschrei aus und brüllen: „Sieg Heil, Sieg Heil! Juda, verrecke! Fuera con los Judíos (Raus mit den Juden)!“ Als sich dieses einige Male wiederholt und die so verunglimpften Juden, mit Schlagstöcken bewaffnet, die Provokateure schlagartig in die Flucht treiben, enden diese Szenen so rasch, wie sie begonnen haben.

Viele Deutsche sind bereits nach dem Ersten Weltkrieg in Bolivien eingewandert und haben sich hier eingerichtet. Einige von ihnen konnten rasch Fuß fassen und etablierten sich als erfolgreiche Importeure oder Geschäftsinhaber, vorwiegend in La Paz, aber auch in Cochabamba und Oruro sowie im Osten der Republik in der an Argentinien angrenzenden Provinz Santa Cruz, wo große Landwirtschaftsgüter mit vorwiegend Viehwirtschaft entstanden.

Ebenso wie zahlreiche, aus dem Libanon eingereiste arabische Geschäftsleute integrieren sich diese ausländischen Personenkreise meist durch Heirat mit kreolischen Nachkommen aus den hiesigen Oberschichten rasch in die bolivianische „alta sociedad“, allein maßgeblich für Politik und Wirtschaft des Landes. Für die Indio- oder Mestizen-(Cholo-)Schichten, die ja eigentlich die Bevölkerungsmehrheit darstellen, ist darin kein Platz vorgesehen. Gemessen an der Einwohnerzahl von 3,5 Millionen Bolivianern zählt diese Oberschicht gerade mal 200.000 Menschen, sogenannte „blancos“ (Weiße). Die 2,5 Millionen Indios vegetieren am Rande und leben zumeist auf dem Lande in ihren armseligen, mit Stroh gedeckten einfachen Adobehäusern fast ausschließlich von ihrer Eigenversorgung, sofern sie nicht durch Fronarbeit in den Zinnminen oder Großlatifundien erbarmungslos von ihren Patrones ausgebeutet werden. Gemäß den amtlichen Verlautbarungen nehmen sie keinen Anteil an der Gesellschaft, sie tragen ja nicht einmal zum Bruttosozialprodukt des Landes bei – weder produzieren noch konsumieren sie. Und das war’s.

Aber zurück zu den Deutschen und deutschstämmigen Bolivianern. Naturgemäß sind die meisten von ihnen, schon durch die Verbundenheit mit der Heimat, besonders deutschnational eingestellt. Frenetisch bejubeln sie jeden militärischen Erfolg Nazi-Deutschlands, ihren Antisemitismus haben viele von ihnen bereits über die Meere mit hergebracht. Auch sind sie sehr aktiv für den Proselitismus des neuen nationalsozialistischen Gedankengutes, gründeten sogar schon 1934 eine bolivianische NSDAP und missbrauchten die von ihnen mit deutschen Lehrkräften betriebenen Schulen, wie das Colegio Alemán in La Paz und Cochabamba, zur Indoktrinierung der dort lernenden deutschen wie auch der bolivianischen Kinder und Jugendlichen mit ihrer betont nazistischen und antisemitischen Propaganda.

Der Wahrheit zuliebe muss erwähnt werden, dass dankenswerterweise nicht alle Deutschen im Lande diese menschenverachtende Einstellung haben. Zahlreiche ehrbare deutsche Demokraten, die ebenfalls vor der Naziverfolgung geflüchtet sind, naturgemäß vorwiegend links oder liberal eingestellte Personen, sind nicht gewillt, dieser unsäglichen Einstellung der Nazianhänger Folge zu leisten. Als Gegengewicht gründen sie, analog zum österreichischen D.A.Ö., den D.A.D.-Verein – „Das Andere Deutschland“ – in Anlehnung an eine ähnliche Bewegung und Wochenzeitung, die für „entschieden republikanische Politik“ eintrat, 1925 in Berlin gegründet, aber bereits nach der Machtergreifung von den Nazis verboten und damit im Deutschen Reich mundtot gemacht.

* * *

„Nach der Eroberung Mittel- und Südamerikas erließ der spanische König Carlos V um das Jahr 1540 die Gesetze ‚Leyes de Indias‘ und gründete in dieser Region sein Vizekönigreich Perú.“ Mit diesen Worten setzt Heiko eine Woche später seine Vortragsreihe für die Bewohner der Casa Azul fort.

„Jahre später errichtete König Felipe II als Berufungsgerichtsbarkeit die Real Audiencia de Charcas mit Sitz in La Plata, dem heutigen Sucre, ein riesiges Gebiet von ‚500 leguas a la redonda‘, ein Umfang, der heute etwa 5,8 Millionen Quadratkilometern entspricht und ursprünglich auch jenes Gebiet war, das Bolivien bei der Republikgründung für sich beanspruchte. Es erstreckte sich vom peruanischen Cuzco im Norden über das argentinische Tucumán und das heutige Paraguay bis nach Buenos Aires im Süden. Im Westen wurde es auf Höhe der Atacamawüste in Chile – die einige von Ihnen bei Ihrer Herreise wohl oder übel erleben durften – durch den Pazifischen Ozean begrenzt, während es im Osten bis an die Grenze zu Brasilien reichte. Später wurden die Regionen von Tucumán und Paraguay durch Gründung der Königlichen Audienz von Buenos Aires wieder davon abgetrennt.

Nach und nach erforschten zahlreiche spanische Expeditionen das Territorium, hier und dort wurden Siedlungen errichtet und Städte wie Oruro und Santa Cruz gegründet. Vor allem waren es aber die riesigen, 1545 entdeckten Silbervorkommen im Cerro Rico, dem reichen Berg von Potosí, die die größte Bedeutung in der lateinamerikanischen Ökonomie spielten und zur Gründung der gleichnamigen Stadt führten. Sie zählte bereits 1611 ca. 160.000 Einwohner und war damit die fünftgrößte Großstadt der damaligen Welt. Die benachbarte kleinere politische Hauptstadt Charcas, klimatisch weit günstiger, weil fast 1.800 Meter tiefer gelegen, beherbergte zu jener Zeit vorzugsweise die reichen Silberbarone und firmierte deshalb sinngemäß bald in ‚La Plata‘ (‚Das Silber‘) um.

Die spanische Krone verdankte im 16. und 17. Jahrhundert dieser skrupellosen Ausplünderung Potosís den größten Teil ihres jährlichen Staatseinkommens. Das Silber, das die versklavten Indios mühevoll und mit blutigen Händen aus den Bergwänden kratzten, nährte Europas Geldwirtschaft. Hunderttausende Indios kamen wegen der ihnen aufgezwungenen inhumanen Fronarbeit in dem fast 5.000 Meter hoch gelegenen Bergwerk ums Leben, während die Kolonialelite in La Plata in Saus und Braus lebte. Auf den Rücken von Mulas, den Mauleseln, beförderte man Abertausende von ein Kilogramm schweren, grob gegossenen Silberbarren bis zum Hafen von Callao. Die vollgeladenen Schiffe transportieren diese entlang der pazifischen Küste bis nach Panamá. Muli- und Eselkaravanen durchquerten dann mit der kostbaren Ladung den Isthmus – hinüber bis zu den Häfen von Portobello oder Nombre de Diós, von denen aus dann die Seereise der Beute nach Spanien folgte. Hiermit konnten Felipe II und alle seine Nachfolger ihre europäischen Kriegskampagnen finanzieren.

Als der Conquistador und bis dahin amtierende Gouverneur des Vizekönigreiches, Franciso Pizarro, in Lima verstarb, entfachte zwischen dessen nächsten Verwandten und der konkurrierenden Familie Almagros eine blutige Nachfolgefehde. Pizarro hatte einige Jahre vorher seinen ehemaligen Mitstreiter, Diego de Almagro, wegen Ungehorsams und Befehlsverweigerung köpfen lassen. Um dem langen, sinnlosen Bandenkrieg ein Ende zu setzen, wurde der Hauptmann Alonso de Mendoza beauftragt, einen neuen Ort der Versöhnung als Verbindung zwischen den sich bekriegenden Städten Oruro und Lima zu schaffen. So gründete der Hauptmann am 20. Oktober 1548 Nuestra Señora de La Paz – Unsere Liebe Frau des Friedens – als Symbol der Befriedung zwischen Pizarristen und Almagristen. Da aber der ursprüngliche Gründungsort in Laja wegen der dort ständig wehenden, kalten Andenwinde zu ungemütlich war, verlagerte Alonso de Mendoza wenig später die neue Stadt in eine mildere, windgeschützte und zudem fruchtbare Talsenke am Ufer des – damals noch sauberen – Flusses Choqueyapu.

Das Wappen dieser Stadt trägt eine Sentenz in Versform, die sinngemäß lautet: ‚Die Zwieträchtigen vereinten sich in Eintracht und gründeten ein Dorf des Friedens (Paz) als ewige Erinnerung.‘ Während der Kolonialzeit wuchs die Stadt und entwickelte sich nach und nach zum größten und wichtigsten Handelszentrum der südlichen Region des ‚Alto-Perú‘, wie die ursprüngliche Audienz Charcas und etwa das heutige Bolivien im letzten Jahrhundert der spanischen Herrschaft genannt wurden, während sie sich auch von Lima politisch und wirtschaftlich immer mehr entfernte.

Seit den Anfängen des 17. Jahrhunderts begannen jedoch die unter dem gnadenlosen spanischen Kolonialjoch leidenden Indios und Cholos hier und dort zu rebellieren und sich gegen die unmenschliche Behandlung sowie die saftigen Steuern und Tribute, die ihnen auferlegt worden waren, aufzulehnen. Die Aufstände waren zunächst überwiegend örtlich begrenzt und konnten deshalb auch mühelos von den herrschenden Militärkräften brachial niedergeschlagen und geahndet werden. Meist wurden die Anstifter gefangen genommen und kurzerhand geköpft oder gehängt. Lediglich größere Rebellionen, wie die des Mestizen Juan Santos Atahualpa von 1742 bis 1756 sowie jene des Indios Condorcanqui, der sich Tupac Amaru II nannte (1780–1782), hielten die Spanier während ihrer Dauer in Atem. Aber es waren regional und auch zeitlich begrenzte Scharmützel, welche die Spanier meist schadlos überstanden.

Es ist verbrieft, dass der erste Ausruf zur Unabhängigkeit von Spanien am 25. Mai 1809 in La Plata, dem heutigen Sucre, erfolgte. Man hatte zwar geglaubt, dass dies wegen der damaligen Invasion Spaniens durch die napoleonischen Kräfte und die Absetzung des verhassten Königs Fernando VII gelingen könnte, aber dies erwies sich als naiv, denn die spanischen Kräfte im Lande reagierten sofort, erstickten diese Revolte im Keim und setzten das von den Aufständischen ernannte Regierungstriumvirat fest. Am 16. Juli 1810 wurde Pedro Domingo Murillo samt weiteren seiner Kameraden am Hauptplatz dieser Stadt, die heute seinen Namen trägt, am Galgen hingerichtet. Seine letzten Worte erwiesen sich als Prophezeiung: ‚Die Fackel, die ich entzündet hinterlasse, kann niemand erlöschen.‘

In der Tat, angeregt durch diese Beispiele, folgten ähnliche Manifestationen überall in Lateinamerika: am 10. August 1809 in Quito, Ecuador; am 25. Mai 1810 in Buenos Aires, gefolgt von Kolumbien, Mexico und Chile. Im Jahr 1811 in Uruguay sowie in El Salvador in Mittelamerika. Aber es sollten noch viele Jahre vergehen, ungezählte Schlachten geschlagen werden mit Tausenden von Opfern, bis die Spanier endlich ihren wertvollsten Schatz aufgaben.

Die eigentliche Befreiung Lateinamerikas von der spanischen Gewaltherrschaft konnte aber erst mit der Geburt des Sohnes eines wohlhabenden spanischen Obersts in Caracas, Venezuela, am 24. Juli 1783 seinen Lauf nehmen. Der jugendliche Simón Bolivar genoss eine außerordentlich gute Erziehung und beendete seinen Militärdienst mit dem Rang eines Fähnrichs. Während seiner ersten Spanienreise begegnete er in Madrid seiner zukünftigen Ehefrau María Teresa, mit der er nach Caracas zurückkehrte, wo sie aber bereits nach achtmonatiger Ehe verstarb. Wiederum reiste er nach Europa, erst Spanien, dann Paris, wo er durch einen seiner früheren Lehrer, Simón Rodriguez, auf die Losungsworte der Französischen Revolution – ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ – aufmerksam und zugleich Zeuge der Krönung Napoleons zum Kaiser der Franzosen wurde. Dort, auf dem Sacre-Coeur, leistete er seinen Schwur, sich und sein ganzes Leben für die Befreiung des Kontinents vom spanischen Joch zu widmen und nicht zu ruhen, bis dieses Ziel erfüllt sei.

So, das war’s dann für heute. Das nächste Mal erzähle ich mehr über den Verlauf der Freiheitsbestrebungen und des Unabhängigkeitskrieges.“

* * *

Clarissa empfängt den strahlenden Oliver mit einem Kuss und er überreicht ihr stolz sein erstes Monatszeugnis, das ihm in der Schule ausgehändigt wurde. Schon seit zwei Monaten geht er eifrig zum Unterricht und arbeitet auch fleißig mit seinen Eltern zu Hause, um das fehlende Pensum nachzuholen. Gut, dass Mitschüler Alfred Kahn auch in der Casa Azul wohnt. Von ihm kann sich Oliver die Hefte ausleihen. Betroffen schaut die ehemalige Grundschullehrerin aus Oldenmoor auf das Zeugnis des Sohnes: lauter Dreier, Vierer und sogar Fünfer! Wie kann das angehen? Zu Hause ist sie doch mit seinen Leistungen durchaus zufrieden. Heiko, der heute ausnahmsweise zum Mittagessen in der Casa Azul erscheint, umarmt seinen Jungen begeistert und belächelt die Enttäuschung seiner Frau.

„Wie kannst du dich nur über dieses Zeugnis freuen? Ich hatte doch wirklich ein besseres Ergebnis erwartet!“, sagt sie entrüstet.

„Liebe Prinzessin“, kontert Heiko belustigt, „du weißt doch längst, dass hier die Uhren anders herum ticken, nicht wahr? Dies trifft ebenfalls auf die Schulnoten zu. Im Gegensatz zu unserem Benotungssystem geht es hier von 1 – das ist die schlechteste Note – bis 5 – sehr gut – und du kannst deshalb unserem wackeren Oliver zu seinem ersten Durchschnitt von 3,6 – also tendenziell eher gut als befriedigend – durchaus gratulieren, oder?“ Eine erleichterte Clarissa schließt nun den Jungen in die Arme. Um ihre Verwirrung zu vertuschen, versteckt sie ihr Gesicht an seiner Schulter.

Oliver scherzt vergnügt: „Aber Mami, wie konntest du nur glauben, dass ich in der Schule so schlecht bin?“

Oliver hat sich sehr rasch im Schulunterricht eingefügt. Mit seinen Klassenkameraden hat er bald Freundschaften geschlossen, so auch mit Mitbewohner Alfred, aber vor allem mit Werner Weinheber. Bei Rektor Bamberger erhalten sie spanischen Unterricht: In Rechtschreibung, beim Lesen, in Grammatik und beim Diktatschreiben hat Oliver durchweg eine 4; ebenso gut benotet ihn Kantor Bremer in Musik und Chorsingen. Beim Rechnen gibt ihm Dr. Ascher eine sehr gute 4,5. Religion und Sport dagegen interessieren den Jungen nicht so sehr, deshalb hat er jeweils eine 3 bekommen. Die jeweilige 5 in Zeichnen, Basteln und Betragen haben wohl seinen Durchschnitt angehoben. Klassenlehrer Bremer hat am Zeugnisrand bemerkt: „Der Schüler ist etwas verspielt und lässt sich gelegentlich vom Unterricht ablenken.“

Auch die kleine Lissy geht gern in den Kindergarten, dort hat sie bereits mit der gleichaltrigen Marion Freundschaft geschlossen – zufälligerweise Werner Weinhebers Schwester. Rasch vergehen die restlichen Monate des Schuljahres 1940: Am 25. Oktober bringt ein strahlender Oliver sein Versetzungszeugnis mit einer glatten 4 als Durchschnittsnote nach Hause. In der Casa Azul gibt es zu diesem Anlass eine kleine Kakao- und Kuchenfeier. Auch Alfred ist mit einem guten Ergebnis versetzt worden. „Onkel“ Josef und „Tante“ Frauke sind ebenfalls zugegen und es herrscht große Begeisterung, als Josef den beiden Buben verkündet, dass sie als Prämie für ihre guten Leistungen die Sommerferien auf der Hacienda Guayrapata verbringen dürfen. Auch Thea Kahn und Moses Kovacs dürfen sich freuen, denn sie sind ebenfalls eingeladen, ihre Ferien auf der Hacienda zu verbringen.

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