Kitabı oku: «POLARLICHTER», sayfa 3
K A P I T E L 7
Die erhöhte Frequenz des Sonargeräuschs zeigte Kapitän Mika Hämäläinen an, dass sie sich ihrem Ziel näherten. Er war ein erfahrener U-Boot-Führer und dennoch ergriff ihn immer wieder ein Gefühl von Abenteuer, wenn die passgenaue Einfahrt in das enge Hafenbecken bevorstand.
Und mit diesem zusammengeflickten Weltkriegsveteran von U-Boot war es auch ein Abenteuer. Vor mehr als vier Jahren war er wegen Erreichens der Altersgrenze aus dem Marinedienst ausgeschieden. Ein paar Monate später war man seitens einer norwegischen Umweltorganisation an ihn mit der Frage herangetreten, ob er sich vorstellen könne, für ein Forschungsprojekt ein U-Boot zu befehligen. Das Projekt hatte ihm zugesagt, auch wenn um seine Einzelheiten ein großes Geheimnis gemacht wurde: Zu gerne wurde er Teil der Klimaforschung.
Als er jedoch erfuhr, welches Boot er befehligen sollte, zweifelte er sofort an dem Verstand der maßgeblichen Leute. Denn die Saukko (finnisch für Otter) war in den 1950er Jahren außer Dienst genommen und verschrottet worden.
Nach dem Ende des 2. Weltkriegs hatte die finnische Marine keine Verwendung mehr für ihre fünf U-Boote gehabt. Die Vesikko war schon 1944 stillgelegt worden und dient seit 1973 als Museum. Die drei größeren Boote Vetehinen, Vesihiitsi und Iku-Turso wurden nach ihrer Stilllegung in den 50er Jahren verschrottet. Nur die kleinere Saukko war noch bis 1952 in Dienst und soll anschließend ebenfalls verschrottet worden sein. Hinsichtlich der Iku-Turso hielt sich jedoch in Seefahrerkreisen hartnäckig das Gerücht, sie sei gar nicht verschrottet worden, sondern befahre, nachdem sie zunächst an einen unbekannten Ort verbracht wurde, weiter die Weltmeere.
Das passte natürlich zu diesem Boot. Denn Iku-Turso war das Meeresungeheuer aus der Kalevala, der im 19. Jahrhundert von Elias Lönnrot aus mündlichen Überlieferungen schriftlich zusammengestellten finnischen Mythologie. Und genauso sagenhaft waren die Geschichten über dieses geheimnisvoll auftauchende und wieder verschwindende U-Boot.
Nun sollte es aber die Saukko auch noch geben?
„Zeigt sie mir“, hatte er gefordert. Über abenteuerliche Straßen und Wege, immer entlang der finnisch-russischen Grenze, hatte man ihn in einem Tross von vier uralten Geländewagen zu einem lagunenartigen Einschnitt im Arktischen Ozean transportiert. Und dort lag sie auf Trockendock: Die Saukko. Sie war äußerlich in einem miserablen, im Inneren in einem schrottreifen Zustand gewesen. Er hatte nur den Kopf geschüttelt und den Leuten klar gemacht, dass dieses Ding niemals mehr schwimmen würde, sondern nur noch – aber für immer – tauchen könne.
Daraufhin hatte man ihn in ein unterirdisches Gängewirrwarr geführt, an dessen Ende sich eine riesige Höhle aufgetan hatte. Und hier fand er sich plötzlich in der Kalevala wieder. Da lag sie: die Iku-Turso.
Und sie schwamm!
Seine Inspektion des Bootes ergab, dass es nach einigen notwendigen Instandsetzungsarbeiten nicht nur schwimm- sondern auch tauchtauglich sein würde.
Doch die Iku-Turso war dem geheimnisvollen Konsortium mit ihren 63,5 Metern zu lang. Sie brauchte ein Boot, das die Länge von 35 Metern nicht überschreiten durfte, weil es sonst eine bestimmte Hafenanlage nicht würde anfahren können. So sollte unter Verwendung von Teilen der Iku-Turso die Saukko, die eine Länge von 32,4 Metern hatte, wieder seetüchtig gemacht werden.
Es hatte ihm zutiefst widerstrebt, ein fast seetüchtiges Boot auszuschlachten, um ein Wrack wiederherzustellen. Das Angebot, ihm dafür eine Million und fünfhunderttausend schwedische Kronen sowie für die Führung des Bootes jährlich eine Million zu zahlen, hatte seine Bedenken zerstreut. Endlich würde er für seine Frau und sich ein Sommerhaus auf einer der Stockholm vorgelagerten Schäreninseln finanzieren können.
Mehr als zwei Jahre dauerten die Umbau- und Reparaturarbeiten, bis die Saukko (die er insgeheim Iku-Saukko nannte) zu ihrer „Jungfernfahrt“ aufbrechen konnte.
Bereits auf dieser Fahrt lernte er die Hafenanlage auf Spitzbergen kennen. Sie hatte früher als Umschlagplatz der alten Kohlegrube gedient und war – von wem auch immer finanziert – zu einer U-Boot-Reede umgebaut worden. Die Einfahrt lag am Isfjorden und erforderte extrem nautisches Geschick. Denn das Boot musste in der engen Fjordpassage fast in einen rechten Winkel zum Hafen gedreht und dann mit halber Kraft unter Vermeidung der von der Strömung verursachten seitlichen Drift viel zu schnell ins Dock gefahren werden. Nahm man zu früh die Fahrt raus, verwinkelte sich das Boot in der engen Reede und musste komplett neu heraus navigiert werden. Bei zu später Reduktion der Geschwindigkeit wäre eine Kollision mit der Bugmauer unvermeidlich.
Tatsächlich hatte er beim ersten Mal drei Anläufe gebraucht, bis die Saukko festgemacht werden konnte. Seither war alles glatt gegangen.
Heute war die Einfahrt in das backbordseitige Becken angeordnet worden. Hämäläinen ließ das Boot rechtzeitig auftauchen, es in einen Winkel von 85 Grad stellen und mit halber Fahrt auf die sich öffnende Toreinfahrt zugleiten. Seine jahrzehntelange Erfahrung ließ ihn, noch bevor der Steuermann den Ruf absetzte, spüren, dass die aktuelle Strömung anders als sonst war. Sie drückte das Heck zu sehr nach Steuerbord. Würde er dem jetzt Gegendruck geben, wäre das Boot in seiner Gänze bereits zu weit nach Steuerbord gedriftet, um das Backbordbecken zu nehmen.
Doch er entschied sich nicht zum Abbruch. Er gab Befehl, das Boot wieder auf 85 Grad zu stellen und funkte gleichzeitig dem Hafenmeister, er werde in die Steuerbordbucht einfahren. Den prompten Widerspruch aus der Reede ignorierte er. E r war der Kapitän. E r hatte die Verantwortung für das Schiff! Exakt einhundert Meter vor der Torlinie ließ er die Fahrt herausnehmen. Und als der Bug die Torlinie erreichte, befahl er volle Kraft zurück.
Das Boot war kaum festgemacht, kam der Hafenmeister mit hochrotem Kopf auf ihn zugestürmt. Hämäläinen ließ mit stoischer Ruhe die Litanei über sich ergehen. Als der Typ, den er sowieso nicht leiden konnte, eine Pause einlegte, hielt er ihm eine Kette, an der ein Schlüssel baumelte, vor die Nase.
„Was soll das?“, fragte ihn sein Gegenüber.
„Das ist der Schlüssel zur Kapitänskajüte. Da Sie es ja offenbar besser können, übernehmen Sie doch!“
Bevor der Hafenmeister etwas entgegnen konnte, war Sven Johansson hinzu getreten. „Können die Herren ihren Disput vielleicht ein anderes Mal austragen? Wir haben ein genaues Zeitlimit, um zur Plattform zu fahren. Spätestens in fünfundvierzig Minuten müssen wir los, sonst verlieren wir eine ganze Woche!“
Wortlos drehte sich der Hafenmeister um und verschwand. Der Kapitän und der Wissenschaftler gaben sich die Hand und lächelten sich in stummem Einverständnis an.
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K A P I T E L 8
KKzA Röhling nahm den Hörer ab. Frau Peters war am Apparat. „Der Chef möchte Sie sehen. Sofort! Und bringen Sie Ihr iPad mit.“ Bevor Röhling etwas sagen konnte, hatte sie schon aufgelegt. Nur fünf Minuten später fand er sich im Vorzimmer bei Frau Peters ein. Sie bedeutete ihm wortlos, er möge Platz nehmen.
Nachdem er zehn Minuten taten- und kommunikationslos da gesessen hatte, räusperte er sich vernehmlich. Er wollte gerade sagen, dass sich ihm die Eilbedürftigkeit seines Erscheinens nicht so recht erschließe, als sich die Tür öffnete und EKHK Singer ihn hereinbat.
„Nehmen Sie Platz. Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Hatte noch ein dringendes Telefonat mit dem Innenminister in unserer Olden-Geschichte.“
Röhling setzte sich und wartete, was da kommen sollte.
„Die Norweger sind nicht leicht zu händeln, musste ich feststellen. Sie wollen weder ein Foto noch sonstige Erkenntnisse herausgeben, wenn wir nicht offenlegen, was das BKA dort oben so treibt. Kann man ja irgendwie verstehen. Ich habe aber angeboten, durch einen unserer Mitarbeiter die dortigen Ermittlungen zu unterstützen. Natürlich nur mit dem Plazet der dortigen und hiesigen Regierung. Das ist geklärt.“
„Darf ich fragen, wie diese Unterstützung im Einzelnen aussehen soll“ ließ sich Röhling vernehmen.
„Nun, es geht lediglich darum, dass unser Mitarbeiter vor Ort Einsicht in die dortige Ermittlungsakte Zug um Zug gegen Offenlegung des Inhalts des Chips erhält. Und…“ fügte Singer hinzu, „...natürlich auch tatsächliche Ermittlungen vor Ort anstellt.“
„Verzeihen Sie, Si …, äh, ...Chef, mir erschließt sich nicht ganz, weshalb dieser Zug-Um-Zug-Austausch nicht auch ohne Anwesenheit vor Ort erfolgen kann.“
Singer schaute den jungen Kollegen eher amüsiert als genervt direkt an. „Nun, es liegt nicht in meiner Absicht, den Kollegen in Olden tatsächlich den Inhalt des Chips zu offenbaren. Ein Chip ist wie der andere. Unser Abgesandter wird in einem geeigneten Moment einen noch zu präparierenden gleichartigen Chip austauschen. Die darauf enthaltenen Informationen werden allgemein und ermittlungstechnisch unbrauchbar sein.“
Röhling fragte sich, weshalb der Chef ihm das erzählte. Die Antwort kam prompt.
„Sie fragen sich sicher, weshalb ich das mit Ihnen erörtere. Nun (Singer leitete seine Erklärungen offenbar gern so ein), Sie haben sich in Ihrer bisherigen Laufbahn als situativ flexibel erwiesen. Sie sprechen ausgezeichnet englisch, gut schwedisch und mittelmäßig norwegisch. Sie sind als Hobby-Illusionist sehr geschickt mit den Händen und fantasievoll in der Herangehensweise bei zu bearbeitenden Fällen. Ich gehe davon aus, dass Sie sich zutrauen, einen schönen Spielfall für den Chip zu erfinden, vor Ort den Austausch vorzunehmen und rauszukriegen, was tatsächlich mit unserer Agentin 7301 los ist.“
„Aber Sir, ich soll tatsächlich… ich bin doch noch unerfahren ...“
Singer schnitt ihm das Wort ab. „Sie werden das so machen, wie ich gesagt habe. Wenn Sie den letztgenannten Punkt geklärt haben, kommen Sie zurück. Alles Weitere werde ich dann mit 7301 klären.“
Singer nahm einen dünnen Hefter und reichte ihn an Röhling.
„Und nun an die Arbeit. Hier drin ist eine kurze Zusammenfassung des Casus, in dem 7301 unterwegs ist. Machen Sie eine vom Tatsächlichen ablenkende Geschichte draus. Der äußerlich identische Chip ist vorn in der Hülle. Good Luck.“
„Na immerhin lässt er sich jetzt doch auf Anglizismen ein“, dachte Röhling beim Rausgehen.
Singer sah ihm nach. So ganz wohl war ihm nicht bei dem Gedanken, den jungen Mitarbeiter in dieses Abenteuer zu schicken. Am Liebsten hätte er selbst vor Ort nach dem rechten gesehen.
„Er wird es packen“, beruhigte er sich. Und er dachte an Anna. Wie es ihr wohl gerade erging?
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K A P I T E L 9
Zur selben Zeit räkelte sich Anna in ihrem Bett. Sie schlug die Augen auf, drehte sich zur Seite und musste feststellen, dass Martin, der seit mehreren Jahren in Norwegen unter dem Namen Niels-Erland Eriksen lebte, schon aufgestanden war. Geschirrklappern und ein köstlicher Duft von frisch gebackenen Brötchen wehte zart herüber.
Wehmütig dachte sie daran, dass die kurze Auszeit, die sie sich vor ein paar Tagen von ihrer Mission gegönnt hatte, heute zu Ende sein würde. Sie wäre gern noch einmal in seinen Armen aufgewacht und hätte sich zu gern noch einmal eingekuschelt – vielleicht auch noch ein bisschen mehr.
Beide hatten es immer gewusst – und sie hatte es ihm ja auch schon vor ihrer Liaison mehrfach gesagt: Ihren Beruf als Agentin des BKA konnte sie nicht einfach so aufgeben. Und sie wollte es auch nicht. Und so gab es immer nur – manchmal sehr kurze, manchmal auch längere – Phasen glücklichen Zusammenlebens.
Es half nichts. Sie schwang sich aus dem Bett, hauchte ihm im Vorübergehen einen Kuss auf die Wange und verschwand im Bad.
Zurück am Frühstückstisch machte sie sich über ein Brötchen und die extrem süße Erdbeermarmelade her. Als sie den zweiten Bissen im Mund hatte, fiel ihr auf, wie ernst und still Martin da saß und nichts aß. Sie legte die angebissene Brötchenhälfte auf ihren Teller und sah ihn fragend an.
„Agnes ist hier in Trondheim“, sagte er nur.
„Wo hast du sie gesehen?“
„Sie war gestern nachmittag in der Stabkirche.“
„Und? Hat sie dich gesehen?“
„Ich weiß es nicht genau. Ich war draußen und sie kam gerade aus der Kirche. Sie sah in meine Richtung und rief irgend etwas. Ich konnte sie nicht hören, weil die Glocken gerade läuteten. Ich bin so schnell wie möglich um die Ecke verschwunden.“
„Ich kümmere mich drum“, sagte Anna. „Wenn sie in Trondheim abgestiegen sein sollte, werde ich sie schnell finden. Und wenn sie mit der Hurtigruten unterwegs ist, ist sie heute auf hoher See.“
„Und was ist mit deiner Verabredung auf Spitzbergen?“
„Ich werde eine Nachricht schicken, dass ich noch in Trondheim Vorermittlungen betreiben muss. Mach' dir keine Sorgen – und gehe heute erstmal nicht raus.“
„Aye aye Sir“, sagte Martin grinsend und nahm sich nun doch ein Brötchen. „Aber morgen muss ich zum Hafen. Bin mit einem Kunden verabredet.“
„Dann sei aber bitte vorsichtig.“
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K A P I T E L 1 0
Ein paar Wochen zuvor in Berlin gönnte sich Rechtsanwältin Agnes Winter eine kurze Pause. Sie biss auf einem kleinen Spaziergang von ihrer Praxis durch die Moabiter Kirchstraße bis zur Ecke Alt-Moabit und zurück herzhaft in das Baguette-Brötchen. Es war ärgerlich, dass sie aus Zeitgründen ihre Pause mit einem Essen-To-Go verbinden musste.
Zurück in der Kanzlei suchte sie zunächst den Waschraum auf. Sie wusch sich die Hände und setzte an, den Lidstrich nachzuziehen. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Das, was sie im Spiegel sah, war erschreckend. Aus einem blassen Gesicht schauten trübe Augen auf sie zurück, unter denen sich dunkle Halbringe gebildet hatten. Aus ihren zarten Lachfältchen waren Falten geworden und ihre Mundwinkel hingen herab, als hätte sie gerade einen Fall verloren.
Sie stützte sich mit beiden Händen auf das Waschbecken, bewegte ihren Kopf ganz nah an den Spiegel und sagte laut: „So geht das nicht weiter! Der Job frisst mich auf. Und für was und für wen?“
Agnes Winter, knapp über fünfzig Jahre alt, war ledig und kinderlos. Der einzige Mann, mit dem sie je hätte zusammen leben wollen, war vor drei Jahren gestorben. Man hatte ihn ermordet. Mit Grausen dachte sie an die Geschehnisse um die LIGA zurück. Nie wieder würde sie einen Mann in ihr Leben lassen. Nie mehr würde sie einen anderen Mann lieben können.
Natürlich hatten ihre zahlreichen Freundinnen einige Zeit nach dem Verlust ihres Geliebten den Versuch unternommen, sie zu überzeugen, dass sie noch viel zu jung, knackig, attraktiv und lebensfroh sei, um als 'alte Jungfer' den Rest ihres Lebens zu fristen. Es war auch nicht so, dass es an Interessenten fehlte. Und das eine oder andere Mal hatte sie sich auch auf einen Kinobesuch oder ein Essen mit dem einen oder anderen Kollegen eingelassen.
Mit dem einen oder anderen?
Sie musste sich eingestehen, dass sie ihre letzten drei Ausflüge immer mit demselben Kollegen gemacht hatte: Dietmar Otto. Er umwarb sie schon lange, was sie ebenso lange von sich geschoben hatte. Doch er war charmant, einfühlsam, geduldig, konnte gut zuhören und was er von sich gab, hatte Hand und Fuss. Bei aller Sanftheit machte auch manchmal ein gewisses Macho-Gehabe einen Teil seiner Persönlichkeit aus. Sie musste sich eingestehen, dass er sie in seinem Wesen an ihren Geliebten Martin erinnerte, zumal er auch noch äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm hatte.
„Träum weiter“, rief sie sich zur Ordnung, beendete ihre Kosmetik und ging in ihr Büro.
„Herr Otto hatte gerade angerufen. Er hätte da einen Fall, in dem er dringend Ihren Rat braucht.“
Agnes musste unwillkürlich lächeln. Diese Floskel benutzte er immer, wenn er sie zum Essen, zum Kino- oder Konzertbesuch einladen wollte.
„Dann verbinden Sie mich mit ihm.“
„Schön, dass du zurückrufst.“
Agnes merkte, dass er anders als sonst klang, irgendwie ernster.
„Ich habe da eine Sache, die ich unbedingt mit dir besprechen muss. Kannst du dich heute früher loseisen? Ich würde dich um sechs abholen. Ginge das?“
„Was ist denn so dringend? Ist irgendwas passiert? Du klingst etwas sehr dramatisch.“
„Ich möchte das nicht am Telefon besprechen. Bitte glaube mir, es ist wirklich sehr wichtig.“
„Na schön. Ich sehe zu, dass ich bis sechs fertig bin. Eventuell musst du ein bisschen warten.“
„Kein Problem. Ich danke dir sehr, bis nachher.“
Agnes nahm den Hörer vom Ohr und sah ihn ungläubig an. Dietmar hatte nicht einmal ihre Antwort abgewartet. Er hatte sofort aufgelegt.
Ihre Neugier war geweckt. Sie nahm sich vor, pünktlich für ihn bereit zu sein.
§
Seit dem vor drei Jahren auf ihn verübten Attentat war Willibald Clemm nicht mehr der Alte. In wochenlangem Krankenhausaufenthalt mit -zig Operationen hatte man ihn wieder so weit zusammengeflickt, dass er sich selbstständig bewegen konnte. Mehr als ein halbes Jahr hatte er sodann – zunächst stationär, anschließend ambulant – mit Reha-Maßnahmen zugebracht. Er war seiner Zeitung dankbar, dass sie ihm seine Stelle als Kulturreporter freigehalten hatten. Nie wieder, so hatte er sich geschworen, würde er sich in den redaktionellen Teil der Gerichtsreportagen begeben.
Das eine Mal hatte gereicht.
Und nun hatte ihn die mit dieser kurzen Episode verbundene Vergangenheit eingeholt: Ein anonymer Anrufer bot ihm Informationen zu den Hintergründen des Anschlags an. Und er kenne auch die bis heute von der Polizei nicht ermittelten Täter und ihre Auftraggeber. Da er damals selbst in die Organisation eingebunden gewesen sei, könne er nicht zur Polizei gehen.
Willibald Clemm hatte dies rundheraus abgelehnt. Wenn überhaupt, dann solle der Anrufer mit der für Kriminalfälle zuständigen Redaktion sprechen. Darauf hatte der Anrufer gebeten, er möge es sich überlegen, er würde sich in den nächsten Tagen wieder melden.
„Da gibt es nichts zu überlegen“ hatte er gedacht und die Sache zunächst gedanklich ad acta gelegt.
Doch sie hatte ihm keine Ruhe gelassen. Zwei Tage später war er zum zuständigen Redakteur gegangen und hatte ihm von dem Anruf berichtet. „Passen Sie auf“, hatte der gesagt. „Verabreden Sie ein Treffen. Der soll seine Karten auf den Tisch legen. Wenn er wirklich seriöse Informationen hat, werde ich mich selbst um die Sache kümmern. Aber zunächst sollten Sie den Kontakt aufrecht erhalten. Er hat sich an Sie persönlich gewandt, das bedeutet, dass erst Vertrauen aufgebaut werden muss, bevor der auch mit anderen verhandelt.“
Eine schlaflose Nacht lang hatte Clemm hin und her überlegt. Dann stand sein Entschluss fest: Er würde ein Treffen verabreden, aber nicht alleine hingehen. Er würde seinen Anwalt, der ihn wegen der Ansprüche gegen die Krankenkasse und die Berufsgenossenschaft vertreten hatte, bitten, ihn zu begleiten.
§
Agnes Winter verließ Punkt 18.00 Uhr ihr Büro. Rechtsanwalt Otto stand neben seinem in zweiter Spur vor dem Eingang zum Verwaltungsgericht geparkten 'Angeberauto' (so hatte sie das Porsche-Cabrio, das er fahren zu müssen meinte, betitelt) und war in ein Gespräch mit einer Polizeibeamtin verwickelt.
„Ah, da kommt sie ja“, rief er und deutete in ihre Richtung.
Agnes beeilte sich, die Kirchstraße zu überqueren. „Brauchst du anwaltlichen Beistand? Ich rate, die Aussage zu verweigern.“
„Nein, nein, ich bin nicht in Gefahr, ein Knöllchen zu bekommen. Sie war kürzlich Zeugin in einem Prozess, in dem ich verteidigt hatte. Wir haben uns fachlich ausgetauscht. Und ...“ fügte er schelmisch hinzu „… sie mag mein Auto!“ Agnes lachte. „Dann verkauf es ihr doch. Dann kannst du mich vielleicht künftig in einem weniger auffälligen Gefährt mitnehmen.“
„Das kann ich mir leider nicht leisten“, ließ sich die Polizeibeamtin etwas pikiert klingend vernehmen. Und an Otto gewandt: „Fahren Sie jetzt das Auto bitte weg.“
Otto verabschiedete sich freundlich, beide stiegen ein und er fuhr los.
Das Unglaubliche geschah: Otto fand einen Parkplatz direkt vor dem Restaurant in der Xantener Straße.
„Na, wie hab' ich das gemacht?“, fragte er stolz. Doch Agnes antwortete nicht gleich. Sie mochte dieses Lokal nicht. Zu viele Promis – und solche, die sich dafür hielten – kamen hierher. Und da sie manche von ihnen anwaltlich vertreten hatte, waren ihr solche Begegnungen unangenehm.
„Muss das sein?“, fragte sie deshalb. „Du weißt doch, dass ich nicht so gern hierher gehe.“
„Tut mir leid, aber du wirst es im Laufe des Abends verstehen,“ antwortete er. „Bitte hab' etwas Geduld.“
Das wurde ja immer rätselhafter. Erst seine ungewöhnlich ernste Art, dann so etwas. Doch dann stieg Agnes seufzend aus.
Otto hatte einen Tisch in der hinteren rechten Ecke reserviert. Von dort hatte man den ganzen Raum und den Eingang im Blick.
Agnes wunderte sich immer mehr. Das sah Otto überhaupt nicht ähnlich, er saß sonst immer gern im Mittelpunkt. Sie orderte einen Campari-Orange, Otto erstmal nichts. Nachdem der Kellner weg war, fixierte sie ihren Begleiter. „Also, heraus mit der Sprache, was ist los? Du benimmst dich seltsam, muss ich mir Sorgen machen? Bist du krank?“
Otto lachte. „Nein, wie kommst du darauf? Mir geht es gut.“ Er machte eine Pause. „Es geht um einen Mandanten und seine Geschichte. Und ich denke, die wird dich interessieren, obwohl sie geeignet ist, alte Wunden aufzureißen.“
Agnes sah ihn schweigend an. Als sie nichts sagte, fuhr er fort: „Der Name Clemm sagt dir noch was?“
Agnes nickte zustimmend.
„Der hat mich vorgestern aufgesucht. Er sei da einer Sache auf der Spur. Doch weil er sich schon einmal die Finger bei einer Recherche verbrannt hätte, wollte er eigentlich damit nichts zu tun haben. Leider stelle ihn sein Redakteur vor die Wahl, die Sache zu verfolgen oder seinen Job los zu sein.“
„Das hört sich nach einer arbeitsrechtlichen Sache an. Was hat das denn mit mir zu tun?“
„Naja, in die Sache, in die er damals verwickelt war, ist er ja durch deinen Freund Voss geraten. Und die neue Sache soll wieder mit dem zu tun haben.“
Agnes war blass geworden. Ihr Herz schlug schneller und in der Magengrube bildete sich das Gefühl, das man kennt, wenn man von Angst ergriffen wird. Zum Glück kam gerade ihr Getränk. Sie nahm einen großen Schluck, atmete tief durch und stieß hervor: „Martin ist seit drei Jahren tot. Wie kann irgend etwas mit ihm zu tun haben?“
„Das weiß ich auch nicht. Aber Clemm will Informationen haben, dass Voss in Wirklichkeit noch lebt.“
„So ein Unsinn! Ich will davon nichts mehr hören. Bring' mich bitte nach Hause.“
Agnes stand auf, nahm ihre Handtasche und schickte sich an, zu gehen. In dem Moment erhob sich ein Mann am Nebentisch und stellte sich ihr in den Weg. „Guten Abend, Frau Winter, mein Name ist Clemm, Willibald Clemm. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten.“
„Aber ich mich nicht mit Ihnen“, zischte Agnes zwischen den Zähnen hervor. „Gehen Sie mir aus dem Weg! Und wenn es wirklich so wichtig sein sollte, machen Sie einen Termin mit meinem Sekretariat.“
Sie schob sich an Clemm vorbei und lief zum Ausgang. Hier stieß sie fast mit Walter Meier, einem mittelmäßigen Schauspieler (Künstlername Roy Robson), den sie in einigen Gagenstreitigkeiten vertreten hatte, zusammen.
„Warum so eilig, schöne Frau“, gab er galant von sich.
„Ich muss hier raus, die Luft ist mir zu dick“, flüsterte Agnes. Und als sie sah, dass Otto kam, hatte sie eine Idee: „Würden Sie mir den Gefallen tun, mich nach Hause zu fahren?“
Meier verbeugte sich und winkelte den rechten Arm an. Er imitierte die Synchronstimme eines Hollywood-Action-Stars und verließ mit den Worten „Ich habe nichts Besseres zu tun“ mit Agnes das Restaurant.
§
Tatsächlich war Clemm am nächsten Tag in ihre Praxis gekommen. Die Geschichte, die er erzählt hatte, war wirr, aber einige Punkte entsprachen den Fakten, die ihr Singer und Anna, die beiden BKA-Außendienstler, seinerzeit im Zusammenhang mit der Ermordung von Martin Voss berichtet hatten.
Und als sie Clemm unter Hinweis auf ihre anwaltliche Schweigepflicht endlich den Namen seines Informanten entlockt hatte, hatte sie sich sehr zusammenreißen müssen, um nicht laut aufzustöhnen. Sie erinnerte sich gut, dass 'Charles Meuser' einer der Alias-Namen des ehemaligen BKA-Agenten (und früheren Freundes von Martin) Falk Schröder war. Und wenn der behauptete, Martin Voss sei nicht tot, sondern lebe unter einem neuen Namen in Norwegen, höchstwahrscheinlich in Trondheim, so konnte da was dran sein.
Dieser nagende Zweifel, ob Martins Tod nicht vorgetäuscht war, das Drängen der Freundinnen und letztlich die Neugier hatten in ihr den Entschluss reifen lassen, über Schweden nach Norwegen zu reisen. Schon lange hatte sie eine Einladung von ihrer Freundin Åsa, sie in ihrem Haus in Umeå zu besuchen. Das war die Gelegenheit. Endlich einmal raus aus der Tretmühle. Sie hatte Åsa angerufen und die hatte vor Freude gequiekt. Sofort sollte sie kommen, sie würde sich unglaublich freuen.
Eine Vertretung für ihre Praxis war schnell gefunden. Doch die ganze Reise allein machen? Vor allem: Die ganze Strecke allein fahren? Mit einem klein wenig schlechten Gewissen – er würde sich bestimmt Hoffnungen machen, mehr als nur ein Begleiter zu sein – fragte sie Dietmar Otto, ob der sie auf ihrer Reise ein Stück begleiten wolle. Er war natürlich sofort bereit und sie musste zugeben, dass ihr die Aussicht, in seinem offenen Sportwagen durch Schweden kutschiert zu werden, sehr gefiel.
Ihm hatte es hingegen überhaupt nicht gefallen, dass sie für die Fähre von Rostock nach Trelleborg zwei Kabinen gebucht hatte. Aber sie hatte ihm nachdrücklich klar gemacht, dass sie ihre Beziehung als eine rein freundschaftliche betrachtete.
Es war ihm nichts anderes übrig geblieben, als das zu akzeptieren.
Die Tage in Umeå vergingen wie im Flug, sie lachten und unternahmen viel. Doch als die Abreise bevorstand, wurde Åsa auf einmal ernst.
„Seit nicht traurig“, hatte Agnes gesagt, weil sie die Stimmung auf den Abschied bezogen hatte.
Doch das war es nicht.
„Ich mache mir Sorgen um einen alten Bekannten. Er ist Biochemiker auf Spitzbergen. Wir kennen uns aus einer kurzen gemeinsamen Zeit an der Uni in Uppsala. Wir waren beide dort Einzelgänger. Und wie das so ist: Da sind wir uns etwas näher gekommen. Nicht, dass es zu einer Liebesbeziehung kam, aber wir haben uns so gut verstanden, dass wir uns auch später nicht aus den Augen verloren haben, egal wohin wir gezogen sind.“
„Und was macht dir Sorgen?“
„Er war ein paar Jahre an der Uni in Oslo in der Forschung tätig und hat dann den Job des wissenschaftlichen Leiters vom Saatgut-Tresor in Svalbard übernommen. Seine Anrufe und seine Postkarten kamen anfangs im üblichen Abstand, auch, nachdem er geheiratet hatte. Ich hatte mich sehr für ihn gefreut und ihm herzlich gratuliert. Doch schon bald wurden seine Anrufe und Mails seltener und der Inhalt der letzten Karte, die ich von ihm vor etwa vier Monaten bekommen habe, klang regelrecht depressiv. Ich glaube, es geht ihm nicht gut. Die Nummer, unter der ich ihn immer anrief, ist nicht mehr geschaltet. Auf meine Mails und Schreiben reagiert er nicht.“
„Hast du mal bei der Polizei nachgefragt?“
„Ach, die würden mich doch auslachen. Er ist ein erwachsener Mann, so etwas wie ein Professor. Wenn ich da anrufe, nehmen die mich doch nicht ernst. Nein, nein. Ich weiß, es wäre eine Zumutung, aber du willst doch sowieso nach Norwegen weiter. Kann ich dich bitten, mal in Oslo nachzufragen. Ich gebe dir hier den Namen und die Adresse. Er hat da noch aus seiner Zeit an der Uni ein Haus, das er vermietet hat. Vielleicht weiß man da etwas.“
„Das ist doch keine Zumutung. Natürlich mache ich das. Wir fahren aber zuerst quer rüber nach Trondheim und kommen erst ein paar Tage später nach Oslo.“
„Das macht doch nichts. Auf ein paar Tage oder Wochen kommt es nicht an. Ich möchte nur irgendwann Gewissheit haben, dass er noch lebt und es ihm gut geht.“
§
Am nächsten Tag waren Otto und Agnes früh aufgebrochen und nach einer anstrengenden Fahrt zehn Stunden später in Trondheim angekommen. Der Empfang des in der Innenstadt gelegenen Hotels war bereits geschlossen, aber das Einchecken und die Ausgabe der Zimmerkarten war – wie heutzutage schon weitgehend üblich – automatisiert. Nach einer kurzen Pause waren sie etwas essen gegangen und bereits um halb zehn war Agnes todmüde in ihr Bett gefallen und hatte bis zum nächsten Morgen durchgeschlafen.
Nach dem Frühstück machten sie einen Stadtbummel und holten sich aus der TouristInformation die Hinweise auf die Sehenswürdigkeiten. Ihr Blick fiel auf die Seite mit dem Freilichtmuseum, auf dessen Gelände auch die berühmte Stabkirche steht.
„Da gehen wir jetzt hin“, hatte sie beschlossen.
Sie hatten Glück, dass gerade eine Führung lief und sie sich noch anschließen konnten.
Nach dem Ende der Besichtigung war sie aus dem Schummerlicht, das drinnen herrschte, nach draußen getreten. Nach kurzem Blinzeln hatte sie einen Mann gesehen und geglaubt, einem Gespenst zu begegnen: Martin! Martin Voss. Da war er! Ihr totgeglaubter, bei einem Attentat vor drei Jahren zu Tode gekommener Geliebter. Da hatte dieser Reporter doch nicht gesponnen.
Und dann fingen auch noch die Glocken der Kirche an zu läuten!
Sie hatte laut seinen Namen gerufen und er hatte sich kurz umgedreht. Mit einer Geistesgegenwart, die sie sich selbst nie zugetraut hätte, hatte sie ihr Smartphone, in dem die Fotofunktion noch eingestellt war, hochgerissen und ein Foto machen können, bevor er um die Häuserecke verschwunden war. Anschließend hatte sie regungslos vor der Stabkirche gestanden und das Gefühl gehabt, der Boden unter ihren Füßen würde sich auflösen.
Otto war kurz nach ihr aus der Kirche gekommen. Er hatte die Begegnung nicht gesehen. Sie schilderte ihm das Ereignis und zeigte ihm das Foto. Er hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt, er sehe nur ein unscharfes Foto eines bärtigen Mannes. Er hätte Voss zwar nicht persönlich gekannt, ihn jedoch damals in allen Gazetten gesehen, in denen er abgebildet gewesen sei. Er könne keine Ähnlichkeit feststellen. Der Kollege war keine große Hilfe.
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