Kitabı oku: «TRAVELLERS», sayfa 2

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Sie weiss, dass die Fähigkeit zur Erkenntnis bei vielen Menschen im Westen noch grosses Entwicklungspotenzial hat. Eine völlig andere Sichtweise der Dinge einzunehmen, als sie sich für unser Auge prä­sentieren, ist für die meisten Leute schwierig, da uns diese Art der Wahrnehmung nicht vertraut ist. Ebenso fällt vielen der Akt des Ver­zeihens schwer.

Jessica weiss, dass sich alle Menschen diese wunderbaren, friedvol­len Fähigkeiten aneignen können, und zwar genauso, wie sie einen Beruf oder ein Hobby erlernen. Arbeitet jemand mit grosser Hinga­be an der Entwicklung dieser Charaktereigenschaften und kultiviert sie über einen langen Zeitraum hinweg, wird es ihn unweigerlich zur Meisterschaft führen. Die süsse Frucht dieses Bewusstseinsentwick­lungsweges ist ein gesundes, glückliches Leben.

Jessica fühlt eine grosse Dankbarkeit im Herzen, dass ihr diese Weis­heiten vertraut sind. Das uralte Wissen macht sie innerlich frei und lässt die Lebensenergie in ihren Körpern ungehindert fliessen, was für den Erhalt von langfristiger, natürlicher Gesundheit und die voll­kommene Erfüllung in allen Lebensbereichen unerlässlich ist. - Da­rum erachtet sie diese neue Sichtweise der Dinge und die Kraft des Verzeihens als wichtige Voraussetzung für eine gesunde und fried­liche Zukunft von Individuen und der Menschheit als Ganzes.

Obschon es anfangs September ist, herrschen an diesem prächtigen Herbsttag erneut angenehme Temperaturen. Jessica hat sich nach dem Mittagessen ausnahmsweise für einen weniger anspruchsvol­len Spaziergang entschieden. Der flache Weg verläuft am herrlichen Ufer des Brienzersees entlang und verlangt ihr körperlich keine grosse Anstrengung ab, sodass sie ihre Gedanken schweifen lassen kann. Als Denkerin und Philosophin ist sie dauernd damit beschäf­tigt über die grösseren Zusammenhänge des Lebens nachzudenken und sie sinniert beim Laufen über die Zeitformen von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit nach.

Jessica findet, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beson­ders innerhalb eines Familienverbunds erkennbar sind. Es kommt vor, dass ein Familienmitglied - meist sind es die Heiler der Familie - auf seinem Weg der Bewusstseinsentwicklung sowohl unerledigte Aufgaben in seiner Herkunftsfamilie als auch ungelöste Themen von Tanten, Onkeln oder Grosseltern aufarbeitet. Die Früchte dieser Bewusstseinsarbeit, die über die verschiedenen Zeitachsen hinweg geleistet wird, ernten auch einzelne Familienmitglieder der nächs­ten Generation, und zwar unabhängig vom Verwandschaftsgrad mit dem Heiler. Die fortschreitende Bewusstseinsentwicklung innerhalb eines Familiensystems bewirkt, dass Nachkommen ein Leben führen können, das von mehr Freude, Frieden, Leichtigkeit und Liebe ge­kennzeichnet ist, was für ein gesundes, kreatives und erfülltes Leben entscheidend ist.

Beim Laufen bemerkt Jessica, dass sich die ersten Blätter der Laub­bäume gelb verfärben. Ein Naturspektakel, das sie jedes Jahr von neuem fasziniert! Der Färbungsprozess zeigt an, dass die Bäume ih­re Pflanzensäfte zu den Wurzeln zurückziehen, bevor die farbigen Blätter von den Herbstwinden durch die Lüfte davongetragen wer­den, tanzend zu Boden schweben und dort langsam verwelken. All­jährlich leitet der wiederkehrende Vorgang im Herbst den Entste­hungsprozess für das Austreiben neuer Blätter im nächsten Frühjahr ein. - Die für unser Auge unsichtbaren Zusammenhänge offenbaren, dass Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zeitgleich existieren. Zeit ist eine menschliche Erfindung, um uns in der Welt besser zu­rechtzufinden, denn Zeit existiert nicht wirklich! Im ganzen Univer­sum und überall auf der Erde sind alle Zeitformen im selben Augen­blick gegenwärtig. Menschen, die achtsam und bewusst durch das Leben gehen, können dieses Phänomen überall wahrnehmen.

Jessica macht sich noch ein paar Gedanken zur Beschaffenheit der Berge, deren verschiedene Gesteinsarten ebenso aus unterschied­lichen geografischen Zeitepochen stammen. Sie ist sich bewusst, dass die heutigen Handlungen der Menschen in Wirtschaft, Indus­trie, Politik und Gesellschaft einen direkten Einfluss auf die künftige Gesteinsbeschaffenheit des Gebirges haben. Unsere aktuellen Taten beeinflussen wesentlich, ob das Gestein in Zukunft fest und stabil oder porös und unstabil sein wird. Letzteres wird unweigerlich zu vermehrtem Steinschlag und Felsrutschen führen.

Die Nachmittagsstunden draussen in der Natur sind wie im Flug vergangen. Als die letzten Sonnenstrahlen einen schmalen Streifen orange-gelber tanzender Lichtfunken auf das Wasser zaubern und die glühende Abendsonne hinter der imposanten Bergkulisse ver­schwindet, beendet Jessica ihre tiefgründigen Überlegungen. Sie beginnt zu frösteln, sobald die wärmende Sonneneinwirkung auf ihrem Gesicht ausbleibt, und kehrt langsam ins Hier und Jetzt zu­rück. Mittlerweile knurrt auch ihr Magen und sie macht sich auf den Heimweg.

***

Beim Betreten des Anwesens sieht Jessica Alan’s hagere Silhouette im halbdunklen Flur stehen. Ein kurzes, zischendes Geräusch ist in der beklemmenden Stille zu vernehmen und darauf erhellt ein bläu­lich-gelbes Flämmchen für wenige Sekunden den spärlich beleuch­teten Gang. Alan ist dabei, sich mit leicht zittrigen Fingern eine Zi­garette anzuzünden. Seit vielen Jahrzehnten ist er Kettenraucher und raucht täglich bis zu zwei Päckchen der tödlichen Glimmstän­gel. Genussvoll zieht er den ersten Zug seiner Zigarette bis tief in die Lungenspitzen hinunter und inhaliert die giftigen Stoffe. Dabei murmelt er eine unverständliche Begrüssung in Jessica’s Richtung und entlässt den restlichen Rauch mit einer langen, quälend an­mutenden Ausatmung. Er sieht müde aus und seine Gesichtsfarbe erscheint im Halbdunkeln blass und aschgrau. Seine sonst freund­lichen, braun-grünen Augen blicken düster unter den leicht hän­genden Lidern hervor. Tiefe Ringe färben die dünne Haut unter sei­nen Augen dunkel und enden erst an den zahlreichen Lachfältchen am äusseren Augenrand.

Alan’s Laune scheint heute nicht besonders gut zu sein. Als Jessica durch den hellen, zur Terrasse führenden Vorraum schreitet, nimmt sie den beissenden Geruch von kaltem Rauch wahr. Die abgestan­dene Luft im ungelüfteten Raum reizt ihre empfindliche Rachen­schleimhaut so stark, dass sie reflexartig husten muss. - Als prä­ventiv handelnder Mensch berührt es sie dennoch zu beobachten, wie sich einst gesunde Leute wie Alan durch ihr jahrzehntelanges Suchtverhalten langsam zugrunde richten. Es beschäftigt sie auch, dass süchtige Personen wegen ihrer emotionalen Unausgeglichen­heit ihre Mitmenschen verletzen, auch wenn sie dies meist unbe­wusst tun.

Gleich sollte sie Alan’s Impulsivität am eigenen Leib erfahren! Als sie zufrieden und erleichtert über ihr vorübergehendes Zuhause die Terrasse betritt, fährt er sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel von hinten an. Süffisant meint er, dass sie überhaupt noch nie erfahren habe, was es für einen Menschen bedeutet, ganz unten in der Ge­sellschaft leben zu müssen. Jessica ist infolge der unerwarteten Be­merkung erst einmal perplex. Alan’s Stimme ist laut, sein Tonfall aggressiv! Sie fragt sich, weshalb er sie nach ihren traumatischen Erfahrungen in ihrem Elternhaus so massiv angreift. Er weiss näm­lich seit ihrer Ankunft über die traurigen Vorkommnisse, die in den vergangenen acht Wochen vorfielen, Bescheid.

Ist Alan erst einmal in Fahrt, ist er in seinem unablässigen Redefluss kaum mehr zu stoppen. Jessica holt tief Luft und unterbricht ihn mit einem lauten und bestimmten „Stopp“, worauf Alan augenblicklich verstummt. In ihrer vorbelasteten Situation muss sie sich von ei­nem fremden Mann keine dermassen taktlosen Äusserungen anhö­ren. Als sich Jessica abrupt umdreht, reflektiert sie Alan’s Bemer­kungen, welche dieser über den sozialen Abstieg gemacht hat.

Sie teilt seine Ansichten keinesfalls! Jessica glaubt nicht, dass alle Leute zuerst auf der untersten Gesellschaftsstufe ankommen müs­sen, bevor sie sich in schwache Menschen hineinversetzen können. Dagegen kann sie sich gut vorstellen, dass Alan wegen seines aus­geprägten Egos als ehemaliger Pilot der Fliegerabwehrtruppen durch die harte Lebensschule musste. Erst nachdem er Armut am eigenen Leib erfahren hatte, konnte er seinen Stolz und seine Eitel­keit ablegen, die ihm den Blick auf bedürftige Mitmenschen lange Zeit versperrten. Ab dem Moment, als seine Wahrnehmung nicht mehr einzig auf sich selbst gerichtet war, war er fähig, Empathie für andere Menschen aufzubringen.

Jessica wurde hingegen mit einer anderen Persönlichkeit geboren. Die Aufgaben, die sie auf ihrem Lebensweg bewältigen muss, unter­scheiden sich deutlich von den Herausforderungen, mit denen Alan konfrontiert ist. Ihr angeborenes Mitgefühl liess sie bereits in ihrer Kindheit das Leiden der Mitmenschen wahrnehmen. Mit ihrem be­scheidenen Wesen, das für ihre Persönlichkeit prägend ist, war es in diesem Leben ihre Pflicht, ein starkes Ego zu entwickeln, um ihr an­geborenes Heilwissen zu verkaufen und nicht zu verschenken. Bei Jessica ist das Ego nicht primär dazu da, um sich ein möglichst an­genehmes Leben aufzubauen, sondern vielmehr um einen Dienst an der Gesellschaft zu leisten. Ihre Lebensaufgabe ist das exakte Ge­genteil von Alan’s zynischen Äusserungen. Sie besitzt so viel natürli­ches Einfühlungsvermögen, dass sie gesellschaftlich nicht zuerst auf die unterste Stufe absteigen musste, um Mitgefühl für andere ent­wickeln zu können. Davon ist Jessica überzeugt! Auch ohne diese Erfahrung war sie in den letzten Jahren bereit, auf gewisse Annehm­lichkeiten eines modernen Lebens zu verzichten, um sich auf ihre Berufung als Heilerin und Coach für Bewusstseins- und Persönlich­keitsentwicklung vorzubereiten.

Im Zusammenhang mit herausfordernden Lebensphasen sinniert Jessica weiter über mögliche positive Aspekte von Krisensituationen nach. Sie realisiert, dass Menschen, die seit Jahrzehnten einem nor­malen Arbeitsalltag nachgehen, die Realität von Personen, die harte Schicksalsschläge hinnehmen mussten und gleichzeitig ein hochent­wickeltes Bewusstsein haben, falsch einschätzen.

Dies bedeutet nicht, dass für Letztere das Bewältigen des Alltags in schwierigen Zeiten nicht genauso herausfordernd ist wie für Leute, die in ihrem Bewusstseinsprozess erst am Anfang stehen. Jedoch bleibt ihr Bewusstsein von schicksalhaften Geschehnissen, wie be­ängstigend diese auch sein mögen, langfristig unberührt. Sie sind sich bewusst, dass ihr inneres Selbst aus göttlichem Licht ist, das auch unter widrigsten Umständen unverwüstlich und unzerstörbar ist. Viele Personen, die ein geregeltes Leben führen, glauben auf­grund ihrer oberflächlichen Realitätswahrnehmung irrtümlicher­weise, dass tragische Lebenslagen nur düstere Seiten haben.

Jessica weiss aus eigener Erfahrung, dass bei gewissen Menschen ein unverschuldeter Unterbruch eines bis anhin bürgerlichen Lebens durch Krankheit oder den Verlust des Arbeitsplatzes einen lebens­verändernden Prozess einleiten kann. Sind die Betroffenen fähig, solche einschneidenden Ereignisse in Liebe, Vertrauen und Geduld anzunehmen, können sie sogar ihre wahre Bestimmung finden. In Leistungsgesellschaften ist unsere Berufung oft tief im Unbewussten vergraben, weil unsere freie Meinungsbildung seit jüngster Kindheit durch unsere Kultur und die Medien manipuliert wird. Lässt sich je­mand darauf ein, seine Lebensaufgabe zu finden und setzt diese in der Welt erfolgreich um, wird er mit grosser Freude, tiefer Erfüllung und nachhaltiger Gesundheit belohnt. Jessica ist sich bewusst, dass dies langfristig mehr Wert ist als ein Vermögen auf einem heutzu­tage fast zinslosen Bankkonto zu haben und um dessen Verlust sich die meisten Menschen ohnehin nur sorgen.

Nach ihren tiefgründigen Gedanken, die jeweils Lichtblitzen gleich in ihrem Bewusstsein auftauchen, lässt Jessica den immer noch wie Rumpelstilzchen wetternden Alan einfach stehen und verlässt die Terrasse. Sie ist sich sicher, dass er bald wieder auf dem Boden der Realität ankommen und zu seinem eigentlichen, netten Wesen zu­rückfinden wird.

Um den Tag nach diesem unerwarteten Zwischenfall doch noch an­genehm abzuschliessen, plant Jessica, sich ein leckeres Abendessen in ihrer Küche im Untergeschoss zuzubereiten. Vor ihrem geistigen Auge sieht sie bereits das fertig gekochte Gericht: Ein Ring aus Bas­matireis, gefüllt mit frischem Saisongemüse an einer milden Curry­sauce. Bei der Vorstellung läuft ihr das Wasser im Mund zusam­men!

***

Fast jeden Nachmittag nimmt Jessica bei sonnigem und regneri­schem Wetter den herrlichen Wanderweg, den Michael ihr kurz nach ihrer Ankunft zeigte, unter die Füsse. So auch an diesem wun­derbaren Tag mitten im September.

Die unerfreuliche Szene, die sie gestern Abend mit Alan erlebte, hat sie auf der Gefühls- und Gedankenebene bereits wieder losgelas­sen. Sie weiss, dass solche Erfahrungen sonst in ihrer Aura haften bleiben und ihren Energiefluss nachteilig beeinflussen. Wenn sie negative Emotionen, die von aussen auf sie zukommen oder durch eigene Gemütsbewegungen hervorgerufen werden, nicht losliesse, blockieren sie zuerst ihre Lebensenergie, führen später zu Kraftver­lust und langfristig zur Entstehung von Krankheiten.

Derzeit kann nichts und niemand ihr heiteres Gemüt trüben! Sie ist überglücklich, diesen wunderbaren Spaziergang entdeckt und in Michael einen ebenbürtigen Gesprächspartner gefunden zu haben. Sie geniesst während des Aufstiegs die warmen, wohltuenden Son­nenstrahlen, die winzigen Lichtfunken gleich auf ihrem Rücken zu tanzen scheinen.

Als Jessica den steilen Weg weiter hinaufsteigt und einen Blick zu­rück auf den See und die in der Abendsonne zart rosa leuchtenden Berggipfel wirft, erblickt sie in der angrenzenden Wiese fünf gra­sende Rehe. Ein seltener Anblick, so viele Tiere auf einmal im offe­nen Gelände zu sehen! Die Rehe haben sie nun ebenfalls erspäht. Mit erhobenen Köpfen und aufgerichteten Lauschern beobachten sie Jessica abwartend aus der Ferne. Sie bleibt regungslos stehen, um die scheuen Waldbewohner nicht zu erschrecken. Als die Wild­tiere instinktiv realisieren, dass Jessica für sie keine Bedrohung dar­stellt, senken sie ihre Köpfe und zupfen weiter an den Grashalmen. Die Szene ruft bei ihr unmittelbar Erinnerungen wach, die sich fest in ihrem Gedächtnis eingeprägt haben.

Bei zahlreichen Begegnungen mit Rehen im nahen Wald ihres frühe­ren, paradiesisch gelegenen Wohnorts inmitten der Natur hatte Jes­sica den Eindruck, dass das Verhalten der Tiere ihre eigene momen­tane Gefühlslage widerspiegelte. So auch jetzt: Innerlich ist sie, trotz ihrer unsicheren Lebensumstände, völlig ruhig und entspannt. Dem­zufolge verharren die fünf Rehe in der grünen Wiese, zupfen weiter an den zarten Gräsern und machen keinerlei Anzeichen, fluchtartig davonzuspringen.

An ihrem einstigen Wohnort beobachtete sie Rehe während mehr als zehn Jahren, wobei die zarten Geschöpfe stets unterschiedliche Verhaltenweisen zeigten. Zuweilen sprang ein Tier nach der Über­querung der Fahrbahn mit einem Satz in den Wald hinein. Ein an­deres Mal hielt es am gegenüberliegenden Wegrand an, wendete kurz den Kopf, als müsse es sich versichern, in welche Richtung es weiterlaufen soll: Den gleichen Weg zurück oder den vor ihm liegen­den Pfad? Dann wiederum kam es vor, dass das sonst scheue Tier langsam und ruhig in einigen Metern Distanz vor ihrem Auto vorbei­lief.

Jessica’s wichtigste Erkenntnis bei ihren regelmässigen Begegnung­en mit den Waldbewohnern war, dass deren Verhalten jeweils mit ihrer eigenen Gefühlslage übereinstimmte. Je nachdem, ob ihre Ge­mütslage nervös und unruhig, zögerlich und unschlüssig oder sicher und vertrauensvoll war, beobachtete sie, dass sich die Rehe stets entsprechend verhielten.

Trotz ihrer hohen Verbundenheit mit der Natur, der Tier- und Pflan­zenwelt brachte dieses Phänomen sie regelmässig zum Staunen!

Als Jessica ihren Spaziergang oberhalb des Brienzersees fortsetzt, blicken die Rehe kurz zu ihr hinauf. Jessica’s Sinne sind für einige Sekunden nach innen gekehrt und sie geniesst die einzigartige Be­gegnung mit den Wildtieren. Es scheint, als bestünde eine magische Verbindung zwischen ihr und den Rehen. Dann, auf einmal, sprin­gen sie in grossen Sprüngen über die Wiese davon und verschwin­den rasch hinter einem abfallenden Hügel. Jessica spürt dem klei­nen Wunder in ihrem Herzen noch einmal nach. Sie ist dankbar für jedes Naturspektakel, welches Mutter Erde ihr in diesen harten Zei­ten offenbart. Sie empfängt die aussergewöhnlichen Ereignisse je­des Mal wie ein Geschenk des Himmels!

Es dunkelt bereits ein, als Jessica am höchsten Punkt des Wander­wegs ankommt und den Abstieg in Angriff nimmt. Von ihrem frühe­ren Wohnort in der Natur ist sie es sich gewohnt, in der Dunkelheit allein unterwegs zu sein, und sie hat auch an diesem verlassenen, unbekannten Ort keine Angst. Ihr Urvertrauen in das Leben blieb trotz aller Hindernisse, die ihr während der ersten fünfzig Lebens­jahre in den Weg gelegt wurden, glücklicherweise unversehrt.

***

Es ist stockdunkel, als Jessica am Abend in den Weg abbiegt, der hinunter zum Anwesen am See führt. Langsam und achtsam schrei­tet sie voran, um nicht zu stolpern oder gar hinzufallen. Wie sie von Michael erfuhr, hätten die Glühbirnen in den neun Laternen, die den Weg säumen, bereits seit längerem ersetzt werden sollen. Bei Alan braucht eben alles seine Zeit! Für Michael ist die nachlässige Haltung seines Vermieters nicht immer nachvollziehbar und fordert ihm bisweilen viel Verständnis, Toleranz und Flexibilität ab. Als Jes­sica in der Ferne die hell leuchtenden Fenster des Wohnhauses er­blickt, orientiert sie sich am spärlichen Licht, welches diese in der Dunkelheit auf den Weg streuen. Als sie sich dem Anwesen nähert, sieht sie Michael in der Küche stehen. Er hat in Alan’s Küche zusätz­lichen Stauraum im Gefrierschrank gemietet, wo er verschiedene Saisongemüse, die er regelmässig blanchiert, einfriert und lagert.

Anstatt ihren eigenen Ausseneingang zu benutzen, beschliesst Jes­sica den Weg über die Küche des Wohnhauses zu nehmen, wo eine Treppe ins Souterrain zu ihrem Zimmer führt. Sie begrüsst Michael mit einem vergnügten „Hi there, how are you doing tonight?“ Er wirft einen kurzen Blick über seine linke Schulter und erhascht Jes­sica aus den Augenwinkeln. Soeben hat er den letzten Beutel des vakuumverpackten Gemüses in den Tiefkühlschrank gelegt. Mit einer schwungvollen Drehung auf dem Absatz seines linken Schuhs wendet er sich Jessica zu und begrüsst sie mit einem breiten Grin­sen. Er lässt sie wissen, dass sein Abendessen in wenigen Minuten bereit ist. Vergnügt meint er, sie sei herzlich eingeladen, ihm dabei Gesellschaft zu leisten. Jessica nimmt seine überraschende Einla­dung gerne an! Sie ist froh, wenn sie nach dem langen Tag nicht selbst kochen muss und durch das gemeinsame Nachtessen für eine Weile von ihren Gedanken und bevorstehenden Herausfor­de­rungen abgelenkt wird.

Michael wohnt bloss wenige Meter neben dem Hauptanwesen in einem kleinen Haus, das einen ebenso traumhaften Blick auf den Brienzersee und die angrenzenden Berge gewährt. Sein Zuhause besteht eigentlich aus einem einzigen grossen quadratischen Raum, an den eine offene Küche grenzt. Michael hat seine Wohnung schlicht, jedoch mit sicherem Geschmack für Formen und Farben eingerichtet. Die indirekten Lichtquellen und die brennenden Ker­zen in den herzförmigen Kerzenhaltern auf dem Tisch verbreiten eine warme Atmosphäre. Jessica fühlt sich augenblicklich vom mo­dernen Liegesofa aus hellrotem Stoff angezogen. Mit einem leisen Seufzer lässt sie sich auf der weichen Couch nieder, entspannt sich und lässt ihren Blick im Raum umherschweifen. Trotz der begrenz­ten Raumverhältnisse besitzt Michael sämtliche modernen Kommu­nikationsmittel. Auch eine Spielkonsole fehlt nicht, was für einen Mann mit seinem jugendlichen Schalk durchaus normal ist, wie Jessica findet. Sie weiss, dass in jedem Mann - und sei er noch so erfolgreich in seinem Beruf - ein kleiner Junge steckt. Es ist genau diese herrliche Mischung aus jugendlicher Lebendigkeit und Ver­antwortungsbewusstsein, die für Jessica den umwerfenden Charme von Michael ausmacht.

Trotz seiner hübschen Gesichtszüge und seines entwaffnenden La­chens sieht Jessica, dass eine grosse Traurigkeit auf ihm lastet. Die Trauer nimmt sie oberhalb seiner Schultern wahr, ausgehend von der Mitte seines muskulösen Brustkorbs.

Ihrer angeborenen Fähigkeit, tief in die Seele der Menschen zu bli­cken, bleibt nichts verborgen. Jessica nimmt ungelöste Emotionen, die sich tief im Unbewussten vergraben haben und oft sogar aus früheren Generationen stammen, mit ihrer Hellsichtigkeit wahr. Während Jahrzehnten wusste sie nicht um ihre heilerische Be­gabung, die sie schon seit jüngster Kindheit besitzt. Erst nach meh­reren schicksalhaften Ereignissen in ihrem Erwachsenenleben und durch die Beschäftigung mit Büchern über Heilung in feinstofflichen Bereichen fand sie heraus, dass sie dieses Talent hat. Inzwischen weiss Jessica, dass Menschen, die von Kindheit an nach ethischen Richtlinien handeln und mit offenem Herzen durch die Welt gehen, geborene Heiler sind. Solche Personen verfügen meistens auch über ein ausgeprägtes Mitgefühl, eine hohe Konzentrationsfähig­keit und eine endlos tiefe Liebe für die Menschen und alles Le­bendige auf der Erde. Ihre Energien sind klar, rein und gebündelt. Deshalb ist ihre Heilkraft besonders stark und kann allein schon bei einer kurzen Begegnung mit einem Menschen Heilungsprozesse auf der unbewussten Ebene auslösen.

Jessica nimmt bei Michael wahr, dass sein Kronen-Chakra zu stark geöffnet und sein Wurzel-Chakra verletzt ist. Deshalb ist er in sei­nem Alltag verschiedenen Süchten erlegen. Ein Leben lang flüchtet er vor einer für ihn traumatischen Realität in seine eigene Welt, wo er sich aufgehoben und beschützt fühlt. Gleichzeitig hat er eine starke Persönlichkeit, sodass ihn seine Süchte bei der Ausübung seines verantwortungsvollen Berufs nicht beeinträchtigen. Jessica stellt weiter fest, dass sein Herz-Chakra stark verletzt ist. Ein gesun­des Herz-Chakra ist die wichtigste Voraussetzung, dass die Energien im Körper frei fliessen können und der Mensch langfristig gesund bleibt. Sie nimmt auch wahr, dass das Problem des Wurzel-Chakras nicht aus diesem Leben stammt, sondern dass Michael dieses The­ma von seinem Grossvater übernommen hat. Die Verletzung des Herzens stammt hingegen aus diesem Leben.

Intuitiv erkennt Jessica all diese Fakten innert Sekunden über ihr geöffnetes Drittes Auge. Während des Spaziergangs mit Michael hat sie einige oberflächliche Anhaltspunkte über sein Leben erhal­ten, die ihr freilich keine Hinweise auf die soeben gemachten Er­kenntnisse gaben. Sie lässt das Gesehene einfach stehen, ohne sich weitere Gedanken darüber zu machen.

Währenddem sie das Abendessen einnehmen, führen sie eine sehr lebhafte und spannende Diskussion. Jessica geniesst es, sich mit je­mandem auf einem hohen intellektuellen Niveau über spirituelle, philosophische, medizinische und naturwissenschaftliche Themen auszutauschen. Beide sind zudem an kreativen, künstlerischen und musischen Themen interessiert, wenngleich sie verschiedene Fach­gebiete bevorzugen. Jessica realisiert, dass sie und Michael ähnlich empfinden, was die Wahrnehmung der realen und übersinnlichen Welt angeht, obschon sie beide völlig andere Mittel für den Zugang zu diesen Welten benutzen. Es kommt ganz selten vor, dass Jessica auf Menschen trifft, mit denen sie noch weitere Stunden verbrin­gen möchte.

Als der grosse Zeiger ihrer Armbanduhr gegen Mitternacht vor­rückt, bedankt sie sich für das ausgezeichnete Essen, das wegen ihres abwechslungsreichen Gesprächs ganz in den Hintergrund ge­rückt ist. Mit einem kurzen „goodbye, see you“ verabschiedet sie sich von Michael und geht selig schlafen.

***

Seit Jessica‘s Ankunft am Brienzersee sind sechs Wochen vergan­gen. Sie ist auch heute draussen unterwegs und lässt sich von den Farben und den Formen in der Natur inspirieren. Es ist jetzt fast Mitte Oktober und der Herbst präsentiert sich von seiner schönsten Seite. Fast täglich scheint die Sonne, der stahlblaue Himmel ist klar und hell. Bisweilen ziehen weisse Schleierwolken über die massiven Berggipfel hinweg und verleihen der Herbstlandschaft eine male­rische Atmosphäre.

Fast alle Blätter der zahlreichen Laubbäume haben sich mittlerweile verfärbt und die kräftigen Gelb- und Rottöne leuchten als Blickfang in die Landschaft hinaus. An den in diesem Jahr selten bewölkten Herbsttagen heben sie sich jeweils kontrastreich zum dunkelgrauen Himmel ab.

Jessica ist fast die ganze Zeit für sich allein. Michael arbeitet tags­über meist ausser Haus und Alan ist mit einem seiner unzähligen Projekte rund um das grosse Anwesen beschäftigt.

Nach dem mehrmaligen Aufeinanderprallen mit Alan kann sie ihn mittlerweile gut einschätzen. Sie spürt, wenn seine Launenhaftig­keit ihn zwischendurch einholt und zieht es dann vor, ihm zu ihrem Schutz auszuweichen. In ihrer Situation will sie sorgsam mit ihren Energien umgehen und sich nicht von jemandem, der selbst zu we­nig Energie hat, ihre eigenen Kraftreserven nehmen lassen. Kürzlich hat Jessica den Besitzer des Anwesens nämlich als Energievampir entlarvt! Wie ein blutrünstiger Dracula holt er sich die ihm fehlende Energie bei seinen Mitmenschen, die meist völlig ahnungslos sind. Er tut dies, indem er seine schlechte Laune rücksichtslos an ihnen auslässt oder sich über gesellschaftliche Themen aufregt, ohne aber einen konstruktiven Lösungsbeitrag zu erbringen. Eine andere per­fide Strategie von Energievampiren ist, dass sie ihre Mitmenschen demütigen oder ihnen die verdiente Anerkennung für eine gute Leistung absprechen. Jessica sind solche Typen zuwider!

Für einen Moment blickt sie in ihre Vergangenheit zurück. Sie er­innert sich, dass sie ähnliche Gegebenheiten, die ihr derzeit mit Alan widerfahren, bereits in ihrer Kindheit erlebte. Sie weiss noch, dass sie nach heftigen, lauten Streitigkeiten, die sich regelmässig in ihrer Herkunftsfamilie abspielten, vielfach traurig, müde und antriebslos war. Weshalb dies so war, wusste sie damals nicht. Sie nahm einzig wahr, dass sie im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern noch lange nach der Auseinandersetzung an einem Energiemangel litt. Heute ist sich Jessica sicher, dass schon ihr Vater ein schreck­licher Energievampir war!

Immer wieder ist es für sie beeindruckend zu beobachten, wie der Prozess der Bewusstwerdung funktioniert: Themen, die Jahrzehnte in unserem Unbewussten vergraben sind, werden durch äussere Er­eignisse jäh in unser Tagesbewusstsein katapultiert, damit wir einen anderen Umgang mit ihnen finden oder sie für immer loslassen. Solche Erkenntnisse sind für Jessica Geschenke des Himmels, die sie ihre Schwierigkeiten vorübergehend vergessen lassen.

In ihrer derzeitigen Situation, wo sie ihre ganze Kraft für den Wie­deraufbau ihres eigenen Lebens braucht, verspürt Jessica nicht die geringste Lust, Alan ihre natürlich fliessende Heilenergie weiter zu­kommen zu lassen. Genau dies ist nämlich während der letzten Wo­chen mehrmals passiert! Wenn sie eine kurze Antwort auf eine Frage wollte, verwickelte er sie jedes Mal in eine endlose Diskus­sion, die nichts mit ihrem Anliegen zu tun hatte. Während der für sie mühsamen Hinhaltetaktik saugte er ihre Energie ab, indem er sich negativ und aufbrausend zu Themen aus Politik, Wirtschaft, Industrie und Umwelt äusserte. Seit Jessica seinen Charakter durch­schaut hat, versucht sie konsequent Diskussionen zu vermeiden, die ihr die Energie rauben.

Dabei gerät aber die Heilerin in ihr in einen inneren Konflikt und sie zweifelt dann, ob es aus karmischer Sicht richtig ist, Alan ihre natür­liche Heilkraft vorzuenthalten. Jessica fragt sich, ob ihre Verweige­rungshaltung zu einem späteren Zeitpunkt negative Folgen für ihr Leben haben wird. Eigentlich glaubte sie, sich zu dieser wiederkeh­renden Thematik bereits früher eine klare Meinung gebildet zu ha­ben! Vor einiger Zeit ist sie nämlich - nach ihren traumatischen Er­fahrungen mit Menschen während der vergangenen Jahre - zum Schluss gekommen, dass es ihr legitimes Recht ist, ihre Energie für sich zu behalten, bis ihr eigenes Leben neu geordnet ist. Ein solches Verhalten ist für Jessica, die eine universelle Liebe für alle Leute empfindet, nicht immer einfach. - Es widerspricht schlichtweg ih­rem Naturell!

Zugleich ist sie sich bewusst, dass es in diesem Leben ihre Aufgabe ist, eine Synthese zwischen der geistigen und der materiellen Welt zu bilden. In dieser Inkarnation soll sie ihre heilerischen Fähigkeiten nicht einfach verschenken, sondern einen materiellen Nutzen für ihre eigene Existenz schaffen. Sie weiss, dass viele Leute mit ange­borenen Heilkräften es noch immer nicht wagen, einen angebrach­ten finanziellen Gegenwert für ihre Dienste an der Menschheit zu verlangen, was im 21. Jahrhundert eine überholte Vorstellung ist. Solche Heiler brennen im Laufe ihres Lebens langsam aus und leben im Alter oftmals in ärmlichen Verhältnissen. Dies soll keinesfalls ihr Schicksal sein! Sie ist zutiefst dankbar, dass sie nebst ihren intuiti­ven ebenso über intellektuelle und analytische Fähigkeiten verfügt. So kann sie Sachverhalte rational und differenziert beurteilen und die geistige und materielle Welt miteinander verknüpfen. Dies zu ihrem eigenen Wohl und demjenigen ihrer Mitmenschen.

Jessica taucht nochmals in die Vergangenheit ein. Nach ihrem drit­ten Burnout vor etwa fünf Jahren, als sie noch in der Wirtschaft ar­beitete, musste sie sich ihrer heilerischen Fähigkeiten erst bewusst werden. Ihre angeborenen Heilkräfte wirkten in ihrem früheren Ar­beitsumfeld während Jahrzehnten automatisch, ohne dass sie da­rum wusste. Sie realisierte dies erst, als sie sich als Autodidaktin umfassende Kenntnisse über Energie- und Geistheilung aneignete, während sie sich von ihrem Burnout erholte. Da es für sie natürlich ist, ihre Heilenergie überall und jederzeit fliessen zu lassen, musste sie lernen, ihre Heilkräfte gezielt einzusetzen und sich, wenn nötig, klar abzugrenzen. Gerade im Bereich der Fernheilung brauchte sie eine gewisse Zeit, um ihre geistigen Kräfte bewusst zu steuern und die Heilenergien nicht beliebig strömen zu lassen.

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