Kitabı oku: «TRAVELLERS», sayfa 3

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Jessica realisiert, dass ihr Aufenthalt am Brienzersee unter anderem dazu dient, sich nochmals wichtiger Aspekte in Bezug auf ihre künf­tige Heilarbeit bewusst zu werden. Es kommt ihr vor, als ob sie sich am Ende eines langen Ausbildungsweges zu ihrer Berufung als spi­rituelle Heilerin befindet - auch wenn sie ihre heilerischen Fähigkei­ten bereits seit Kindheit unbewusst anwendete. Als Erwachsene hat sie ihre Berufung während vieler Jahre stets abgelehnt und war bis vor kurzem nicht bereit gewesen, sie anzunehmen. Warum dies so ist, kann Jessica sich bis heute nicht erklären. Erst nachdem sie ihr drittes Burnout in ihrem ehemaligen Beruf in der Wirtschaft erlitt, war sie innerlich bereit, ihre Berufung als neues Tätigkeitsfeld zu ak­zeptieren und sich ihrer Bestimmung auf Erden zu stellen.

***

Jessica’s Aufenthalt im Berner Oberland neigt sich bereits langsam dem Ende zu. Noch knapp zwei Wochen wird sie in dieser schönen Gegend am Brienzersee verbringen. Mit jedem weiteren Tag, den sie hier ist, wird ihre finanzielle Situation herausfordernder.

In solchen Momenten gehen ihre Gedanken zurück zum Zeitpunkt, wo sie sich vor einigen Jahren schweren Herzens bei der Invaliden­versicherung anmeldete, nachdem sie ihr drittes Burnout erlitt. Da­mals musste sie sich eingestehen, dass der Dauerstress und die feh­lende Menschlichkeit in der Wirtschaft sie ausbrennen und krank machen. Die Tatsache, dass sie nach ihrer Anmeldung von einem Versicherungssystem ins nächste abgeschoben wurde, macht sie bisweilen immer noch traurig. Ebenso spürt sie manchmal eine Wut wegen des damaligen IV-Entscheides: Kurze Zeit nach ihrer Anmel­dung erfolgte eine Gesetzesänderung in der Invalidenversicherung, worauf sie mit der Diagnose Burnout keinen Anspruch mehr auf eine berufliche Umschulung hatte. Kurz zuvor wurden Menschen mit demselben Leiden noch umgeschult. Diese Tatsache war für Jessica enorm schwierig zu verdauen, hat sie doch mehr als dreissig Jahre Vollzeit gearbeitet und der Gesellschaft und den Sozialsystemen während Jahrzehnten gedient! Sie hatte seinerzeit Kontakt zu Leu­ten, die denselben medizinischen Befund erhielten und ihr bestätig­ten, dass sie die Rückkehr ins Berufsleben ohne die Unterstützung der Invalidenversicherung nicht geschafft hätten. Es gibt Tage, an denen Jessica noch Jahre danach Mühe hat, die ihr widerfahrene Ungerechtigkeit zu verstehen und mit dem Herzen zu akzeptieren. Dies umso mehr, da sie dadurch in den folgenden Jahren weitere gesundheitliche Schicksalsschläge hinnehmen musste, die schwer­wiegende Folgen für ihre Zukunft mit sich brachten.

Als geborene Optimistin gibt Jessica selbst in schwierigsten Lebens­lagen niemals auf. So auch jetzt nicht, wo sie in der Fremde fast kein Geld mehr hat. Dauernd sucht sie konstruktiv nach Lösungen, die ihr eine Zukunftsperspektive geben. Allerdings ist ihr Planungshorizont wegen ihrer desolaten Finanzlage sehr eingeschränkt, was für sie eine echte Herausforderung ist! Heute sieht sie sich veranlasst, ihre Ziele in Teilschritte aufzuteilen und nicht länger als eine Woche im Voraus zu planen. Früher konnte sie ihre Projekte in ihrem Berufs- und Privatleben immer auf lange Sicht hinaus planen. Dank ihrer spirituellen Haltung nimmt Jessica Ihre momentanen Lebensum­stände in Liebe, Geduld und Vertrauen an. Die absolute Akzeptanz von dem, was gerade ist, gibt ihr Kraft, Mut und Gelassenheit, die gegenwärtigen Hindernisse ruhig und überlegt anzugehen.

Jessica’s Optimismus lässt sie sogar jetzt das Positive an ihrer Situa­tion sehen. Seit Beginn ihrer Heimatlosigkeit vor etwa drei Monaten hat sie vor allem eines begriffen: Die extremen Lebensbedingungen, besonders für eine Frau in ihrem Alter, lassen sie noch bewusster im Hier und Jetzt leben.

Die aktuellen Umstände sind so herausfordernd, dass sie ihr Denken vollkommen ausschalten und einfach handeln muss. Sie tut einzig, was das Leben im Augenblick von ihr verlangt. Sie verschwendet weder überflüssige Gedanken an die Vergangenheit noch an die Zu­kunft. Konkret bedeutet es, dass sie keine anhaltende Wut auf ver­gangene Ereignisse empfindet oder sich Sorgen über ihre finanzielle Lage in den nächsten Jahren macht.

Der einzige Anspruch, den Jessica an sich selbst hat, ist glücklich zu sein. Jetzt - und zwar unabhängig von den äusseren Umständen. Dies ist ihr grosses Geheimnis! Sie ist trotz der schwierigen Lage und der nahezu unlösbaren Probleme, die ihr das Leben stellt, innerlich entspannt und zufrieden. Aufgrund ihrer spirituellen Einstellung be­wältigt sie die unzähligen Aufgaben erfolgreich, ohne dass ihre Psyche daran Schaden nimmt.

Dank ihrer positiven Grundhaltung findet sie stets die Kraft weiter­zumachen, wo andere Menschen längst aufgegeben hätten: Das Empfinden von grosser Dankbarkeit, auch wenn das Leben gegen einen ist, das Fühlen von tiefer Liebe, wo andere Hass empfinden, der starke Durchhaltewillen, wo andere aufgeben. Es sind dies die Früchte eines langen spirituellen Weges der Bewusstwerdung, die sie nun unterstützen, die schweren Zeiten zu meistern.

Jessica hat fast alles Materielle verloren, aber ihre Gesundheit wie­dergewonnen. Ihre Liebesfähigkeit, Geduld und Toleranz versiegten trotz widerwärtigster Gegebenheiten nicht. Sie ist dankbar, in ihrem fortgeschrittenen Alter nochmals ein neues Leben erhalten zu ha­ben, das sie nun ganz bewusst gestalten möchte.

Jessica überlegt, wer ihr Geld ausleihen kann, damit sie die nächs­ten Tage finanziell überleben kann. Hier in der Fremde ist Alan ihre nächste Bezugsperson. Er hat ihr trotz seines gelegentlich dreisten Verhaltens immer zu verstehen gegeben, dass es für alle Widrig­keiten, die einem das Leben in den Weg stellt, eine Lösung gibt. Obwohl sie seine autoritäre Haltung gegenüber schwachen Frauen überhaupt nicht billigt - weil es eine ihrer Lebensaufgaben war, sich aus einengenden, patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen zu be­freien -, gibt sie sich in ihrer finanziellen Not einen inneren Ruck.

Sie überwindet ihren Ekel, den sie beim Gedanken empfindet, wie rücksichtslos Alan mit gewissen Frauen umgeht. Sie begibt sich in Richtung seines Arbeitszimmers, klopft einmal kräftig an die schwe­re Holztür und kommt nach einer kurzen Begrüssung direkt zur Sa­che. Sie ergänzt beiläufig, dass es sich lediglich um einen kleinen Betrag handelt, den sie jetzt benötigt.

Langsam und bedächtig zieht Alan seine Lesebrille ab und blickt Jes­sica völlig überrascht an. Seine Augen treten für den Bruchteil einer Sekunde aus den Tiefen seiner Augenhöhlen hervor und unterstrei­chen seine Verblüffung. Trotz seines früheren Angebots, ihr bei Be­darf zu helfen, scheint er nun verlegen, dass sie mit ihrem Anliegen an ihn gelangt. Jessica sieht, wie sein Adamsapfel vor Nervosität auf und ab hüpft. Alan schluckt einmal leer, öffnet leicht seine Lippen, als müsse er wie ein Fisch nach Luft schnappen. Schliesslich findet er seine Sprache wieder. Er stottert zaghaft hervor, dass er momen­tan selbst nur über wenige flüssige Mittel verfügt. Als Jessica insis­tiert, meint er dann doch, dass er ihr bis morgen Mittag einen klei­neren Geldbetrag ausleihen kann. Sie vertraut seinem Wort und verlässt aufatmend das Haus.

Jessica’s Gefühle sind nach der kurzen Diskussion mit Alan ge­mischt. Sie hat keineswegs erwartet, dass er finanzielle Schwierig­keiten hat. Die Anzeichen dafür waren nicht gegeben. Es beschäf­tigt sie nun doch, dass sie von einem Mann Geld ausleihen wird, der Frauen regelmässig von sich abhängig macht, um damit sein ge­ringes Selbstwertgefühl aufzuwerten.

Mit ihrem Tagesbewusstsein weiss Jessica, dass Alan sie mit seinem autoritären Machogehabe nicht erniedrigen kann. Sie ist sich zudem bewusst, dass sie sich wehren kann, wenn es die Umstände erfor­dern. Auf einer unbewussten Ebene schwingen aber ihre einstigen schlechten Erfahrungen mit diesem Typus Mann mit. Sie realisiert, dass diffuse Ängste aus früheren Zeiten aufkommen, als sie selbst noch in der Opferrolle war. Eine Rolle, die sie längst überwunden zu haben glaubte! Jessica begreift intuitiv, dass der jetzige Vorfall sie auffordert, alte und unbewusste Gefühls-, Gedanken- und Verhal­tensmuster für immer loszulassen. Sie soll diese als Zeichen ihrer Wertschätzung für alle Erfahrungen, die sie ihr auf ihrem Entwick­lungsweg ermöglichten, in Liebe und Dankbarkeit ins Universum zu­rückschicken. Jessica muss lächeln, als sie begreift, welche Lektion ihr das Leben gerade erteilte. Es ist vielfach so, dass der eigentliche Grund eines äusseren Ereignisses erst erkannt wird, wenn wir fähig sind, „die Dinge hinter den Dingen zu sehen“. Häufig sind es tat­sächlich die unangenehmen Geschehnisse, die unsere Bewusstseins- und Persönlichkeitsentwicklung enorm beschleunigen.

Jessica empfindet Mitgefühl für Frauen, die dauerhaft im Hamster­rad von Macho-Männern gefangen sind, weil sie unselbständig sind oder ohne ihr eigenes Verschulden in Not gerieten. Solange sie in ihrer meist unbewussten Opferrolle verharren, bleiben sie zwangs­läufig von machtorientierten Männern abhängig. Die innerlich unsi­cheren Frauen müssen zuallererst ein starkes Selbstvertrauen entwi­ckeln, um sich aus den unbefriedigenden, autoritären Strukturen zu befreien - auch wenn ihnen der Gedanke an Freiheit anfangs grosse Angst bereitet. Sobald die Opfer ihre gedanklichen Barrieren loslas­sen, die sie fälschlicherweise glauben lassen, dass sie nicht auf ei­genen Füssen stehen können, haben sie den ersten Schritt in Rich­tung Freiheit getan. Die Frauen müssen aktiv werden, um aus ihrem selbst erbauten Gefängnis auszubrechen, denn die männlichen Tä­ter werden ihr Verhalten niemals ändern - dafür sind sie zu feige, zu bequem und zu wenig selbstsicher.

***

Am nächsten Mittag steht Jessica, wie mit Alan abgemacht, auf der Türschwelle zu seinem Büro. Sie will den Geldbetrag abholen, den er ihr versprochen hat. Alan wirkt nervös. Nach einer knappen Be­grüssung lässt er sie wissen, dass er leider keine Zeit hatte, das Geld am Bankomat zu holen. Jessica glaubt ihren Ohren nicht zu trauen! Alan’s Äusserung ist für sie eine faule Ausrede. Ganz bestimmt will er ihr gar kein Geld ausleihen.

Sie ist gerade dabei, sich heftig aufzuregen, als sich ihr Schutzengel dazwischenschaltet und sie an der Nasenspitze kitzelt. Jessica fängt sich augenblicklich, wünscht Alan einen wunderschönen Nachmit­tag und dreht sich auf der Schwelle um. Sie erhascht gerade noch, wie Alan selbstgefällig lächelt, um seinen Minderwertigkeitskomp­lex zu verbergen, und sich erleichtert in seinen übergrossen Büro­stuhl aus schwarzem Leder zurückfallen lässt.

Draussen muss Jessica zuerst einmal tief Atem holen und den he­runtergeschluckten Ärger mit einer langen Ausatmung loslassen. Es macht sie gerade extrem nervös, dass sie bloss noch zehn Franken im Portemonnaie hat!

Anderseits ist sie ihren Schutzengeln überaus dankbar, sie davor be­wahrt zu haben, in Alan’s Schuld und damit in seine Abhängigkeit zu geraten. Wegen ihres hohen Freiheitsbedürfnisses ist Jessica näm­lich nichts mehr zuwider, als anderen Menschen etwas schuldig zu sein - vor allem, wenn es sich um Geld handelt.

Sie ist sich sicherer denn je, dass die gestrigen Ereignisse einzig dazu dienten, dass sie ihre früheren Erfahrungen mit Macho-Männern für immer loslassen konnte. In diesem Sinne war auch Alan lediglich ein Werkzeug in diesem göttlichen Spiel auf Erden! Dieser Gedanke ent­lockt Jessica ein lautes, befreiendes Lachen. Aufgrund ihrer Erkennt­nis kann sie Alan auch nicht wirklich böse sein, wenngleich die Reali­tät bezogen auf ihre finanzielle Lage sehr düster aussieht.

Jessica weiss jedoch aus Erfahrung, dass ihre Schutzengel nur dann so drastisch eingreifen, wenn sie auch eine Lösung für ihre Probleme bereithalten. Wichtig ist, dass sie eine offene und achtsame Haltung gegenüber dem Leben beibehält, sodass sie die Zeichen der Zeit erkennt. Die oft subtilen Hinweise müssen nicht unbedingt von aussen kommen, sondern können sich genauso in ihren eigenen Gedanken und Gefühlen zeigen.

Einmal mehr lässt Jessica sich ihre Lebensfreude nicht durch eine äussere Situation nehmen. Vertrauensvoll steigt sie in ihren Wagen und fährt in ein naheliegendes Shopping-Center. Trotz ihrer deso­laten Finanzen, will sie sich als Trost einen Cappuccino gönnen und sich über ihre nächsten Schritte bewusst werden.

Wenngleich sie auf ihrem Bewusstseinsweg weit fortgeschritten ist und übernatürliche Fähigkeiten besitzt, ist es ihr wichtig, im Alltag ganz normale, menschliche Bedürfnisse zuzulassen. Sie ordnet sich keinen Dogmen oder Vorstellungen von Glaubens- oder Heilsyste­men unter! Unter Berücksichtigung ihrer ethischen Werte und der Bereitschaft zu Verzicht, sollte ihr spiritueller Entwicklungsweg dies erfordern, entscheidet Jessica stets mit gesundem Menschenver­stand über das klügste Vorgehen in einer bestimmten Situation.

Als Kontrast zu ihrem teils schon mystisch anmutenden Lebensstil liebt Jessica die Dynamik von grösseren Menschenansammlungen, wie sie in Einkaufszentren anzutreffen sind. Sie geniesst die Inspira­tion, die von Leuten unterschiedlichster Art und Herkunft ausgeht, und geht trotz ihrer Hochsensibilität bewusst an solche lebhaften Orte. Sie will sich frei bewegen können und lässt sich auch in die­sem Bereich nicht einschränken. Indem sie sich täglich in der Natur aufhält, wo ihr das saftige Grün der Wiesen neue Energie schenkt, schafft sie es, die beiden unterschiedlichen Welten harmonisch zu verbinden.

Der Cappuccino, den ihr der freundliche Serviceangestellte wenige Minuten nach ihrer Bestellung bringt, sieht fantastisch aus. Der cre­mig aussehende Milchschaum türmt sich oberhalb der Tasse und ist mit einem Schokoladenherz hübsch dekoriert. Genauso muss für Jessica ein Cappuccino sein! Sie liebt es, den mit Schokoladenpulver bestreuten Milchschaum häppchenweise zu löffeln und ihn sachte und genüsslich zwischen Zunge und Gaumen zergehen zu lassen. So kann sie die Konsistenz und den Geschmack des Schaums voll aus­kosten! Der samtige Milchschaum und das süsse Schokoladenpul­ver haben für Jessica eine liebliche, tröstende Komponente, die sie gerade besonders zu schätzen weiss.

Nach dem Lesen der letzten Neuigkeiten in der Tagespresse befasst sie sich mit der Lösung ihres akuten Geldproblems. Alan kommt für eine finanzielle Unterstützung definitiv nicht in Frage. Auf einmal taucht Michael in ihrem Bewusstsein auf. Sie hat ihn seit längerer Zeit nicht mehr gesehen und bis anhin nicht daran gedacht, ihn um Hilfe anzufragen. Nun aber erwägt sie ernsthaft, ihn diesbezüglich aufzusuchen. Dafür wird sie ihren ganzen Mut aufbringen müssen! Jessica empfindet es in unserer leistungsorientierten Gesellschaft als grosse Herausforderung, andere Menschen um Geld zu bitten. Ganz besonders, weil in der reichen Schweiz das Erwerbseinkom­men für die meisten Leute noch immer ein Tabu-Thema ist. Bei Mi­chael kommt hinzu, dass er im Gegensatz zu Alan im Arbeitsprozess integriert und in einer guten beruflichen Position ist, was ihre Hem­mungen, ihn um Geld anzufragen, eindeutig vergrössert. Weil er in­telligent ist und gut zuhören kann, fällt es ihr gleichzeitig leichter, ihm ihre traurige Geschichte anzuvertrauen. Jessica weiss, dass es nicht einfach ist, Männern komplexe Sachverhalte verständlich zu machen, obschon sie Michael für einen der einfühlsameren Vertre­ter des männlichen Geschlechts hält. All dies ändert nichts daran, dass sie sich als ehemalige Kaderfrau schämt, in dieser unangeneh­men Lage zu sein, auch wenn sie sich bewusst ist, dass die Haupt­ursache für ihre heutigen finanziellen Schwierigkeiten in der frühe­ren Gesetzesänderung der Invalidenversicherung liegt.

Für eine Weile denkt Jessica über ihre Schamgefühle nach. Eigent­lich weiss sie, dass sie sich für ihre jetzigen Lebensverhältnisse nicht zu schämen braucht. Dank ihrer spirituellen Einstellung begreift sie sich in ihrem Innersten als göttliches, unzerstörbares Selbst, das sich mit negativen Gefühlen wie Scham nicht identifiziert. Sie akzeptiert jede Lebenssituation, wie sie sich gerade präsentiert, ohne sie als gut oder schlecht zu bewerten.

Jessica ist sich bewusst, dass sie vom Universum geschätzt und ge­liebt wird, und zwar genauso, wie sie im Moment ist. Die universelle Liebe urteilt nicht und fliesst ihr ununterbrochen zu - unabhängig, ob sie reich oder arm, gesund oder krank, jung oder alt, attraktiv oder hässlich ist. Dies bedeutet, dass sie vor sich selbst kein Problem mit ihrer desolaten Finanzsituation hat, wenngleich diese in der Re­alität natürlich auch für sie herausfordernd ist.

Spricht Jessica hingegen mit fremden Leuten über ihr Schicksal und ihre Lebenslage, stellt sie fest, dass ihre Sichtweise des Selbst den wenigsten Menschen vertraut ist. Die meisten urteilen voreilig, oberflächlich und nüchtern über andere und sind unfähig, ihre Mit­menschen mit dem Herzen zu sehen. Wenn jemand mit dem Herzen sieht, ist er nicht mehr imstande, über andere - besonders Schwache in dauerhaft schwierigen Situationen oder Leute in zeitweilig he­rausfordernden Lebensumständen - ein Urteil zu fällen! Sie weiss, dass besonders in ländlichen Gegenden hinter vorgehaltener Hand noch häufig über Menschen gelästert wird, die nicht voll leistungs­fähig sind.

Jessica realisiert, dass die intuitive Wahrnehmung dieser unmensch­lichen Verhaltensweise der Grund ist, dass bei ihr kurzzeitig Scham­gefühle aufflackern, wenn sie mit anderen über ihre Lebenssituation redet. Allerdings legen sich ihre Emotionen ebenso rasch wie das er­löschende Flämmchen eines Streichholzes. - Denn letztlich ist sie fest in ihrem Selbst verwurzelt und lässt sich nicht nachhaltig durch Dritte verunsichern.

Am Abend kocht sich Jessica seit langem wieder einmal Spaghetti an einer selbstgemachten Gemüsesauce, damit sie für das anste­hende, heikle Gespräch mit Michael gerüstet ist. Nebst den Scham­gefühlen, die sie am Nachmittag kurz befielen, gibt es einen weite­ren Grund, warum es ihr schwerfällt, ihn um Hilfe zu bitten. Seit ihrer Kindheit hat Jessica für Gleichberechtigung und Freiheit ge­kämpft und sich aus dominierenden, patriarchalischen Strukturen herausgekämpft. Nun sieht sie sich emotional in die unangenehme Lage zurückversetzt, wo sie einen Mann um finanzielle Unterstüt­zung bitten muss, was in ihrer empfindlichen Magengegend ein schales Gefühl hinterlässt.

Jessica versucht zu verstehen, was die gegenwärtige Situation für ihren spirituellen Weg - nebst ihrer gestrigen Erfahrung mit Alan - noch zu bedeuten hat. Sie erkennt, dass auch sie schwach sein darf und es für ihr persönliches Wachstum wichtig ist, Hilfe von anderen annehmen zu können. Und zwar ohne dabei in alte Verhaltensmus­ter von Hilflosigkeit und Ohnmacht zurückzufallen oder Schuldge­fühle zu haben. Als sie diese subtilen Zusammenhänge erkennt, fällt ihr der Schritt, in wenigen Minuten an Michael’s Haustüre zu klop­fen, bedeutend leichter. Sie bedankt sich bei ihren Schutzengeln für die wertvollen Erkenntnisse, zieht sich eine Jacke über und läuft in der Dunkelheit zu Michael’s Haus hinüber. Mittlerweile ist es neun Uhr geworden.

Sachte klopft Jessica an die massive Holztür und schon bald hört sie Schritte, die sich rasch dem Eingangsbereich nähern. Zu dieser spä­ten Stunde steckt Michael nur seinen grauen Haarschopf aus dem Türspalt und späht mit leicht zusammengekniffenen Augen in die Finsternis hinaus. Als er Jessica erkennt, huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Er bittet sie mit einer einladenden Geste ins Haus und gibt ihr zu verstehen, dass sie ihm ins warme Wohnzimmer folgen soll.

Jessica nimmt kurz wahr, dass ihr der Grund für ihr Erscheinen wirk­lich peinlich ist. Doch Michael’s herzliche Gastfreundschaft lässt ih­re unangenehmen Gefühle und Geldsorgen rasch in den Hinter­grund rücken. Er bietet ihr einen Melissentee aus frischen Kräutern an, den er erst letzten Samstag im Bio-Laden des naheliegenden Bauernhofs gekauft hat. Es ist genau das richtige Getränk für Jes­sica’s leicht überreizte Nerven. Dankend nimmt sie sein Angebot an und wartet auf dem bequemen roten Sofa, während sie Michael in der Küche das Teewasser aufsetzen hört. Als er zurück ins Wohn­zimmer kommt, setzt er sich neben sie.

Nach ihrem über zehnjährigen Single-Dasein ist die Nähe von Mi­chael für Jessica wirklich ungewohnt. Gleichzeitig geniesst sie es, einem Mann wieder einmal so nahe zu sein! Dies umso mehr, da sie in seiner Anwesenheit keine innere Unruhe empfindet, wie sie es sonst bei Vertretern des männlichen Geschlechts erlebt. Michael ist, abgesehen von seinem Suchtverhalten, ein kultivierter und hu­morvoller Gesprächspartner. Er interessiert sich für zeitgenössische wie für spirituelle Themen und spricht gerne über tiefgründige Fra­gen des Lebens, wie sie schon bei ihrer letzten Begegnung erfuhr. Jessica fasziniert die Verbindung von Intellekt und Spiritualität, die sie bei Michael zu erkennen glaubt. Es ist selten, heutzutage jeman­dem mit diesen Eigenschaften zu begegnen! Überhaupt ist es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie einen Mann kennenlernt, der beide Aspekte zu vereinen scheint - ein Charakterzug, den sie selbst auch besitzt.

Jessica wird durch das zischende Pfeifen des Teekessels jäh aus ih­rem kurzen Gedankenspiel herausgerissen. Trotz seines Alters und leichten Übergewichts um den Bauch springt Michael wie ein jun­ger Mann von der Couch hoch und rennt zur freistehenden Koch­insel. Augenblicklich verstummt das nervende Geräusch und eine angenehme Stille erfüllt die kleine, gemütliche Wohnung. Alsdann kehrt Michael mit einem Tablett aus glänzendem Chromstahl zu­rück und der liebliche Duft des frisch gebrühten Melissentees, den er in Design-Teegläsern serviert, entweicht in einer zarten Dampf­schwade. Zu ihrer Freude erblickt Jessica auch ihre Lieblingsbiskuits: Bretzeli von Kambly! Insgeheim ist sie stets von neuem über die kleinen Gemeinsamkeiten, die sie und Michael teilen, erstaunt.

Nachdem sie zwei Stunden lebhaft über Gott und die Welt geredet haben, wird sich Jessica bewusst, dass sie zum eigentlichen Grund ihres Besuchs kommen muss. Sonst wäre ja ihr Bemühen, Michael heute Abend aufzusuchen, vergebens gewesen und sie wäre keinen Schritt weitergekommen. Zuerst weiss Jessica gar nicht, wie sie den Übergang von der unbeschwerten Stimmung zu ihrem belasteten Thema bewerkstelligen soll. Dann geht es auf einmal ganz automa­tisch und Michael hört ihr augenblicklich aufmerksam und konzen­triert zu. Er zeigt viel Verständnis für ihre zahlreichen Schicksals­schläge, die sie in den vergangenen Jahren erlitt. Jessica staunt über seine mitfühlende Haltung, obgleich sie ihn von Anfang an so eingeschätzt hat. In den letzten Monaten hat sie von Seiten des männlichen Geschlechts ja nicht viel Gutes erfahren! Umso dank­barer ist sie, dass sie hier in der Fremde einen so netten Menschen getroffen hat. Als Jessica mit der Schilderung ihrer Lebenssituation fertig ist, schlägt Michael vor, ihr bis zum Zeitpunkt ihrer Abreise wöchentlich einen bestimmten Betrag zu geben, damit sie ihre all­täglichen Ausgaben bezahlen kann. Für Jessica handelt es sich um eine vorübergehende Ausleihe, was sie Michael ausdrücklich kom­muniziert. Es ist ihre feste Absicht, ihm das Geld zurückzugeben, sobald ihre Finanzen wieder in Ordnung sind. In der Zwischenzeit zeigt Jessica’s Armbanduhr bereits nach Mitternacht an. Sie steht auf und bedankt sich bei Michael mit einer herzlichen Umarmung für seine bedingungslose Unterstützung. Sie fühlt sich gerade sehr erleichtert!

Als sie zurück in ihrem Zimmer ist, wird Jessica vom schönen Gefühl durchströmt, dass es auf der Erde doch noch Wunder gibt. Diese Er­kenntnis ist für sie nach den traumatischen Erlebnissen mit ihrem Vater vor einigen Wochen und den unangenehmen Vorfällen mit Alan sehr tröstend. Sie weiss, dass sie bei Michael keine Angst ha­ben muss, dass er irgendeine Gegenleistung erwartet, schon gar nicht sexueller Natur. Michael lebt nämlich seit zehn Jahren wie ein Mönch. Er hat ihr versichert, dass es für ihn in Ordnung ist, wenn sie ihm das Geld irgendeines Tages zurückbezahlt. Er akzeptiert aber auch, falls er es nicht zurückerhält.

***

Während der letzten Wochen ihres Aufenthaltes am Brienzersee entspannt sich das Verhältnis zwischen Alan und Jessica merklich. Sie respektieren sich beide in ihrer Eigenart und haben nur noch selten angespannte Gespräche. Wenn nötig zieht sich Jessica in Si­tuationen, die einen unerfreulichen Verlauf nehmen, rasch zurück. Sie will ihre angeschlagene Seele nicht mit leichtfertigen Sprüchen, die Alan des Öfteren äussert, zusätzlich belasten.

Bevor sich Jessica heute zu ihrem täglichen Spaziergang aufmacht, denkt sie über die Gründe nach, die sie hie und da veranlassen, sich aus heiklen zwischenmenschlichen Begegnungen zurückzuziehen. In ihrem reifen Alter entspringt der Auslöser für einen akuten Rückzug - im Gegensatz zu früher - ihrem Herzen, verbunden mit Respekt ge­genüber der Person, mit der sie zusammen ist. Weicht sie heute Leu­ten aus, die ihrer Seele schaden, oder bricht sie eine unerträgliche Unterhaltung ab, so tut sie dies vor allem für sich selbst! Ihr Verhal­ten ist nicht gegen andere gerichtet - weder in ihren Gedanken, Ge­fühlen noch in ihrem Handeln.

Früher litt sie in der Nähe von Personen, die Alan ähnlich sind, still­schweigend vor sich hin. Als Kind widerten sie Erwachsene, die stark nach Zigarettenrauch oder Alkohol rochen, regelrecht an und bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr pflegte sie in mancherlei Hin­sicht einen asketischen Lebensstil. Noch empfindsamer als auf den Dunst einer brennenden Zigarette reagierte sie auf abgestandenen Rauch, der von den ungelüfteten Kleidern eines starken Rauchers ausging. Genauso wenig konnte sie als junge Erwachsene das Ver­halten von Leuten nachvollziehen, die zuerst grosse Mengen Alkohol trinken mussten, bevor sie entspannt auf ihre Mitmenschen zuge­hen konnten. Personen, die regelmässig Spirituosen konsumierten, hat Jessica schon immer gemieden, da sie ihre Freizeit ungern mit Menschen verbrachte, die tags darauf nicht mehr wussten, was sie am Vorabend geredet haben. Solche Diskussionen waren für sie rei­ne Zeitverschwendung.

Auch heute sucht Jessica nicht bewusst die Nähe von Süchtigen, da ihre Grundeinstellung zu Suchtverhalten dieselbe geblieben ist wie in jungen Jahren. Sie findet, dass jegliche Art von Sucht aus der Sicht von vollkommener Gesundheit und Freiheit schlicht unakzeptabel ist. Im Laufe ihrer Tätigkeit in der Wirtschaft war sie für eine gewis­se Zeit selbst starke Raucherin, da sich ihre Seele in der bisweilen kalten, berechnenden Wirtschaftswelt oft einsam fühlte, wodurch sich ihre Muskulatur stark verspannte. Das Rauchen half ihr, sich psychisch und körperlich zu entspannen. Es fehlte ihr damals an echten zwischenmenschlichen Beziehungen und spontanen Begeg­nungen in ihrem Arbeitsalltag. Heute begreift Jessica ihre Erfahrun­gen als Raucherin als Teil ihrer Ausbildung zur spirituellen Heilerin. Sie versteht heute umso besser, welche gesundheitlichen Schäden durch Süchte hervorgerufen werden und wie schwierig es ist, sich langfristig von ungesunden Verhaltensmustern zu lösen.

Die Tatsache, dass Jessica ein ausgeprägtes, angeborenes Mitgefühl hat und das Leid von süchtigen Menschen in ihrem Umfeld schon als Kind beobachtete, verstärkt heute ihren inneren Drang, ihre Beru­fung zu leben und süchtigen Menschen zu mehr Freiheit in ihrem Le­ben zu verhelfen.

Jessica geniesst die letzten schönen Tage dieses prachtvollen, sich bis spät in den Oktober hineinziehenden Herbstes und spaziert ent­lang der Seeuferpromenade am Brienzersee. Sie schlendert über eine Brücke, als sie eine junge Asiatin sieht, die mithilfe eines Hand­stativs umständlich ein Selfie für ihr digitales Fotoalbum auf dem Smartphone macht. Mit ihrer offenen, helfenden Wesensart fragt Jessica die Touristin in englischer Sprache, ob sie ein Foto von ihr schiessen soll. Freudig willigt die Asiatin ein und übergibt ihr das Handy. Als geübte Hobbyfotografin gibt Jessica der jungen, hüb­schen Frau einige Tipps, wie sie sich vorteilhaft ins Bild setzen kann. Dann drückt sie mehrere Male auf den Auslöser, um sicher zu sein, dass wenigstens ein tolles Erinnerungsfoto dabei ist. Sogleich trip­pelt die Asiatin mit kleinen Schritten vom Brückengeländer zu Jessica heran, um sich die Bilder anzusehen. Sie ist von den gelungenen Portraits entzückt, bedankt sich mit einem herzlichen Lachen und für einige Sekunden sind von ihren Augen nur noch schmale Schlitze zu sehen. Sie diskutieren noch eine Weile und Jessica erfährt, dass die zierliche Frau aus China kommt und alleine reist. Darüber ist sie sehr erstaunt! Allerdings ähnelt ihr die junge Chinesin vom Charakter her. Jessica ist ebenso der Ansicht, dass Alleinreisende authentischere Eindrücke von Land und Leuten erhalten als Menschen, die in Gruppen unterwegs sind. Es beflügelt sie, wenn sie auf ihrer oft einsamen Reise durch das Leben auf Seelenverwandte trifft! Sie wünscht der jungen Frau für ihren Kurzaufenthalt in der Schweiz weiterhin sonniges Wetter und sie verabschieden sich mit einem herzlichen Lachen voneinander.

Seit einigen Jahren sind für Jessica solche kurzen, inspirierenden Be­gegnungen weitaus wertvoller als langjährige, ausgeleierte Bezie­hungen. Dies besonders, seit sich ihr familiäres Umfeld und ihr frü­herer Freundeskreis wegen ihrer mehrmaligen Schicksalsschläge in den letzten Jahren allmählich in Luft auflöste. Sei es, weil Freunde sich mit der Zeit zurückzogen oder weil es ihr selbst an Kraft fehlte, um in Krisenzeiten regelmässig soziale Kontakte zu pflegen. Ausser­dem empfand Jessica das ständige Erzählen ihrer Geschichte als sehr ermüdend! Nach ihrem Verständnis von nachhaltiger Heilung auf allen Ebenen des Seins - Geist, Seele, Körper - verlangsamt sich spiritueller Fortschritt, wenn die eigene Leidensgeschichte stets von neuem erzählt wird. So hat sie sich entschieden, ihren Weg allein im „Eins-Sein mit allem Lebendigen auf der Erde“ weiterzugehen.

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