Kitabı oku: «Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur», sayfa 14
I.2.3 Fast. IV 901–904OvidFast. IV 901–904
Der nächste Text ist der vom 25. April1, es geht um das Verschwinden der Konstellation. Ovid hat den Termin jedoch zu spät angesetzt, wie Frazer bemerkt, denn „in his time the apparent setting of the constellation at evening fell on the twentieth of March and the true setting on the fifth of April“2. Seltsam ist, dass der Dichter die Mitte des Frühjahres auf diesen Tag setzt. Bömer meint, „Ovid stimmt mit Caesar überein“3; in Colum. XI 2, 36 findet dieses Ereignis am 21. April statt. Auf jeden Fall und ohne dieses Problem zu vertiefen, muss man beachten, dass Ovid einen großen Fehler begeht, denn „the rising of the Dog-star (Sirius) at morning did not take place in Ovid’s time till more than three months later, on the second of August“4. Laut den Sachverständigen bezieht sich Ovid eher auf den Untergang des Sternbildes als auf dessen Erscheinen.
Der Text spricht von pecudem … Athamantidos Helles. Dies ist bizarr, weil der Widder üblicherweise mit Phrixos5, nicht mit Helle, in Verbindung gebracht wurde; Ovid aber hat noch ein anderes Mal, und zwar einige Verse früher (Fast. IV 713–716OvidFast. IV 713–7166), dieses wunderbare Tier mit Athamas’ Tochter verbunden. In keinem der beiden Fälle wird Phrixos erwähnt. Darüber hinaus wird der Widder in Verbindung mit Helle nur von zwei anderen Autoren so benannt: Valerius Flaccus (I 167425Valerius FlaccusVal.Flac. I 425Valerius FlaccusVal.Flac. I 167) und Lucanus (IV 56–57).LucanusLucan. IV 56–57
I.2.4 Fast. VI 473–562OvidFast. VI 473–562
Dies ist eine der wichtigsten Textstellen in der griechischen und lateinischen Literatur für das Verständnis und die Interpretation von Athamas’ Mythos. Es handelt sich um den 11. Juni. Ovid schildert das Fest der Matralia1, die auf dem Forum Boarium in RomRom stattfand. Hier wird die I-L-M-Version präsentiert. Die Erzählung ist den ätiologischen Geschichten von Plutarch2 ähnlich; der Unterschied liegt darin, dass Ovids Werk literarisch höher steht als das des griechischen Schriftstellers.
Bevor der Text ausführlich analysiert wird, ist es nützlich, seine Struktur darzustellen:
Kleine Einleitung zum Tag (473–474).
Vorstellung der Matralia:Zielpublikum (475)KultKult (476)Lokalisierung (477–480)Motivierung der Erzählung: Drei Fragen (481–482)
Anrufung von Bacchus (483–484)
Erster Teil: I-L-M-Version (485–498)Bacchus’ Aufnahme (485–486)Junos Zorn (487–488)Athamas’ furor und Learchos’ Tod und Beisetzung (489–492)Ino und Melikertes (493–498)
Kurzes Zwischenspiel: Panopes Aufnahme und Seefahrt (499–502)
Zweiter Teil: AbenteuerAbenteuer in Italien (503–550)Semeles oder Stimulas Hain (503–506)Junos Eingriff und Mänadens Angriff (507–515)Inos Anrufung und Herkules’ Beihilfe (516–522)Herkules’ Dialog und Inos Fama (523–528)Gast bei Carmentis: Kuchen – Prophezeiung – Divinisierung (529–550)
Dritter Teil: Grund für den Hass den Sklavinnen gegenüber (551–558).Einleitung (551–552)Athamas’ heimliche Liebe zu einer SklavinSklavin und Anklage wegen des verbrannten Samens (553–558)
Epilog: Bitte für die Nachkommenschaft der anderen (559–562)
Die kleine Einführung (473–474) spielt auf den Beginn des Tages an, denn „Tithon, époux de l’Aurore, était le fils de Laomédon et le frère de Priam“3. Das Wort exit muss man „in der Bedeutung oriri“4 verstehen.
0’) Vorstellung
Ovid wendet sich an die guten römischen Mütter und lädt sie ein, zu ihrem Fest, den Matralia, zu kommen. Das Zielpublikum sind dann entweder bonae matres (475) oder die pia mater (559). Man muss beachten, dass „Ovide emploie matres comme équivalent de matronae“5. Leider gestattet der Umfang dieses Buches nicht, in das faszinierende Thema der Matralia einzudringen; hier wird nur das Wichtigste hervorgehoben6. Auf jeden Fall behauptet Schilling treffend, „le développement d’Ovide est une illustration remarquable du cas où rite et mythe se trouvaient en discordance“7.
Die Matralia8 wurden zu Ehren von Mater MatutaMatuta gefeiert. Frazer glaubt, sie war „an old Italian goddess, whom Ovid erroneously identified with the Greek goddess Ino or Leucothea“9. Schilling meint, „l’assimilation syncrétiste Mater Matuta-Leucothea était un fait acquis dès le temps de Cicéron (N.D. 3, 3910)“11; die Gründe für diese Gleichsetzung aber sind für Bömer „nicht leicht erkennbar“12. Der Ursprung dieser Göttin liegt im Dunklen; Frazer glaubt, „the ancients connected the name of the goddess Matuta with mane, ‚morning‘“13. Bömer schließt jedoch nicht aus, „wie Iuno Lucina ist auch Mater Matuta vielleicht schon ursprünglich Geburts- und Frauengottheit“14.
Im Ritual dieses Festes sollten einige auffällige Merkmale betrachtet werden, wie z.B. die Beschränkung der Teilnahme: nur die mit einem einzigen Mann verheirateten Frauen (uniuira) durften dabei sein. Frazer erwähnt noch eine Angabe: „None but a wife who had had but one husband (uniuira) might place a wreath on the image of the goddess“15. Nach diesem Gelehrten galt die Vorschrift auch für das Abbild von Fortuna Muliebris16. Laut römischem Gesetz war es zwar nicht verpflichtend, dass der Mann noch lebte, aber man darf annehmen, dass die Witwen fernblieben. Man hätte ihnen vorwerfen können, „the pollution of death might be thought to attach to them“17.
Man kann der Vollständigkeit wegen die bekannte These der Komparatistik in Bezug auf dieses Fest, wie sie Dumézil formuliert, hier einbringen: „L’Aurore allaite et lèche l’enfant de sa sœur, la Nuit. Cet enfant, qui est le Soleil, ne peut apparaître qu’après l’expulsion de l’Aurore. Dans cette perspective, le rôle des matrones romaines consiste à favoriser, par une sorte d’action sympathique, une fois l’an, le 11 juin, la réussite de cet office astral“18. Den Verlust dieser theologischen indogermanischen Geschichte ersetzt Ovid mit dem Mythos von Ino-Leukothea, weil er ‚diese griechische Figur‘ mit Mater MatutaMatuta identifiziert hat: Ino erzieht Bacchus, den Sohn ihrer Schwester SemeleSemele; die Sklavinnen werden aus dem Tempel geworfen, denn eine war die Geliebte ihres Mannes Athamas. Schließlich kann man sagen, „Ovide a adapté rigoureusement la mythologie grecque au rite latin“19. Interessant ist zu bemerken: „Der KultKult der Matuta war in Italien weit verbreitet (Satricum-Conca, Cora, Cales, Praeneste, Pisaurum u.a.)“20; und die Römer verbreiteten ihn, als sie die Welt eroberten.
Die räumliche Umgebung für Ino-Leukothea ist nach Ovid ThebenTheben. Das ist logisch, weil ihr Vater KadmosKadmos die Stadt gegründet hatte. Obwohl dieses Thema ausführlicher im nächsten Kapitel analysiert wird, kann man schon jetzt folgenden Schluss ziehen: Wenn man auf Nepheles Sohn Phrixos besteht (I-P-H-Version) und er der Protagonist der Geschichte – normalerweise als Vorgeschichte der ArgonautenArgonauten – ist, wird die Erzählung in OrchomenosOrchomenos lokalisiert; zu dieser böotischen Stadt fuhren Phrixos’ Söhne, als sie ihre Mutter verließen, um das Haus ihres Großvaters Athamas zu erreichen, ob nun der Text das Erbe als Grund erwähnt21 oder nicht22. Der Leser findet sich in der Mitte der Erzählung des Mythos von Athamas. Wenn man auf Ino besteht (entweder I-P-H- oder I-L-M-Version) und sie die Protagonistin der Geschichte ist – ihr Bild kann entweder positiv oder negativ sein –, wird die Aktion in Theben stattfinden; in diesem Fall wird diese Erzählung mit KadmosKadmos’ Familie verbunden und betont das unglückliche Schicksal der Töchter von Kadmos.
Ovids’ carmen geht weiter. Der Dichter erwähnt den gelblichen, knusprigen Kuchen, der zu Ehren der Göttin angeboten werden sollte. Wie in den Metamorphosen stellt Ovid verschiedene Szenen nebeneinander dar, die, wie üblich, mit einer neuen Ortsbeschreibung beginnen. Der Leser befindet sich auf dem Forum Boarium oder Bouarium, wie es auch genannt wurde; es liegt zwischen den Brücken der Tiberinsel und dem zwischen Palatin und Aventin liegenden Circus Maximus. Ovid nennt die Namen der Brücken nicht, „but they were probably the old wooden bridge (Pons Sublicius) and the Aemilian bridge (Pons Aemilius)“23. Zu dieser Gegend kam man vom Forum Romanum her durch das Velabrum, nämlich den Janusbogen (Ianus Quadrifons) gelangen. Es ist communis opinio, dass dieses Gebiet nordöstlich von der Kirche S. Giorgo in Velabro, südöstlich von der Kirche S. Maria in Cosmedin und südlich vom Ponte Rotto begrenzt wurde. Frazer denkt, „the position of the Ponte Rotto appears to correspond to that of the old wooden bridge (Pons Sublicius), and the Aemilian bridge was not far off“24.
Dieser Ort bekam seinen Namen auf Grund des Denkmals eines liegenden Rindes, von dem keine Spur mehr erhalten ist. Frazer meint, Ovid habe sich darin geirrt25, denn es ist noch wahrscheinlicher, dass der Ort so genannt wurde, weil er ein berühmter Marktplatz war, der hauptsächlich als Viehmarkt diente. Das Bild, auf das Ovid angespielt, war aus Bronze, kam aus Ägina und wurde auf Myron zurückgeführt; im 1. Jh. n. Chr. (Plin. HN. XXXIV 10)Plinius der ÄltereHN. XXXIV 1026 war es noch sichtbar.
Ovid weist in die Zeit des Königtums, und zwar des großen Königs Servius Tullius zurück, denn dieser König hat den Tempel zu Ehren von Mater MatutaMatuta geweiht. Der Text spricht über sacra … templa (479–480); der Plural muss so verstanden werden: „Servius Tullius (579–534) passe pour avoir consacré, le même jour et au même endroit, les temples de Mater Matuta (480) et de Fortuna (569) qui sont contigus“27. Ovids Behauptung ist in Liu. V 19, 1–7 bestätigt, wo man auch lesen kann, dass der Diktator Marcus Furius Camillus ihn 396 v. Chr. nach der Eroberung von Veji wiederaufbaute, denn beide Tempel wurden 509 v. Chr. vom Volk im Aufstand gegen das etruskische Königtum zerstört. 213 v. Chr. richtet ein schreckliches Feuer den Tempel noch einmal zu Grunde: Alles – von Porta Carmentalis bis zu den Salinae – stürzt ein. 196 v. Chr. baute Stertinius zwei Bögen in der Nähe beider Tempel. 174 v. Chr. weihte Sempronius Gracchus eine Inschrift im Tempel von Mater Matuta zu Ehren von JupiterJupiter, das Motiv ist aber nicht bekannt.
Nachdem Ovid zu den römischen Müttern gesprochen hat, wendet er sich nun an Bacchus. Er wird mit Trauben und Efeu, den berühmten Kennzeichen dieses Gottes, geschildert. Man sagt ihm offensichtlich, dass der Tempel von Mater Matuta sein Haus ist, was ein klarer Hinweis auf die Erziehung Bacchus’ durch Ino ist. Er ist am besten geeignet, um dem Dichter alle AbenteuerAbenteuer Inos einzugeben.
Ovid interessiert sich für drei Angaben:
A) Wer Madre MatutaMatuta ist.
Frazer zufolge identifizierte sie Ovid – nicht ohne Bedenken28 – mit der griechischen Ino. Diese Assimilation wurde schon vor ihm von Cicero29 angenommen; entweder gleichzeitig mit unserem Dichter oder nach ihm wird sie von verschiedenen Autoren verwendet: Hygin (Fab. IIHyginusFab. II; CCXXIV); Servius (AenServiusG. I 437ServiusAen. V 241. V 241; G. I 437); Laktanz (InstLaktanzInst. I 21. I 21); St. Augustinus (Ciu. XVIII 14AugustinusCiu. XVIII 14) und Lactantius Placidus (Stat.ThebLactantius PlacidusStat.Theb. I 12. I 12). Es scheint30, dass die Identifikation aufgrund der wirklichen oder eingebildeten Ähnlichkeiten in ihren Mythos und ihr Ritual31 gelangen konnte: Beide Göttinnen werfen Sklavinnen aus ihrem Tempel32 und in beiden Fällen beten die Frauen nicht für ihre eigenen Kinder, sondern für die ihrer Schwestern33. Frazer glaubt, meiner Meinung nach zutreffend, folgendes: „Obviously this Greek legend furnishes no real explanation of the Roman custom which forbade women to pray to Mother Matuta for their own children, but allowed or enjoined them to pray for their sisters’ children“34. Möglich ist, sich wie Plutarch zu fragen, ob das einzige Ziel dieses Ritus war, die Gemeinschaft innerhalb der Verwandtschaft zu stärken.
Frazer versteht diesen Ritus anders: Er bezieht sich dabei auf Servius, der erklärt, dass man weder den Namen des Vaters noch der Tochter in den Riten von Ceres aussprechen konnte; „this suggests that in the rites of Matuta women may have been forbidden to mention the names of their children, but permitted to mention the names of their sisters’ children, and that therefore they could not pray for their own offspring, but were free to pray for their nieces and nephews, the children of their sisters“35. Auf jeden Fall, und Frazer36 selbst zieht diese Schlussfolgerung, hat man diesbezüglich keine zufriedenstellende Lösung gefunden.
B) Warum sie Sklavinnen vom Tempel fernhält.
Dies Thema wird im dritten Teil dieser langen Texte vertieft.
C) Warum sie sich einen knusprigen Kuchen wünscht.
Schilling basiert auf Dumézils Interpretation, indem er die ganze Textstelle nach der indogermanischen Perspektive des Aufgangs der Morgenröte – glossiert. Deshalb meint er, die Farbe dieser Kuchen, flava (476), „sont d’une couleur analogue à celle de l’Aurore“37. Das wäre dann eine deutliche ätiologische Erzählung.
1’) I-L-M-Version
Ovid fängt seine Erklärung mit der letzterwähnten Figur, nämlich Bacchus, an. SemeleSemele ist durch die Blitze verbrannt und Ino nimmt ihren Sohn auf, erzieht ihn und sorgt sich um ihn. Falsch ist meiner Ansicht nach Schillings Behauptung: „Le traitement de cette matière mythologique dans les Fastes fait contraste avec sa présentation dans les Métamorphoses: le personnage principal des Fastes devient le personnage secondaire des Métamorphoses et viceversa“38. Selbstverständlich haben beide Berichte eine ganz andere Erzählfunktion und infolgedessen werden in jeder Erzählung jeweils verschiedene Aspekte hervorgehoben. Trotzdem ist es nicht sehr treffend, zu behaupten, Semele, Bacchus’ Mutter, sei die Hauptfigur in Athamas’ und Inos Geschichte in den Metamorphosen (IV 416–562OvidMet. IV 416–562), sogar in dem ganzen Zyklus von KadmosKadmos – Schilling zitiert Met. III 260–309OvidMet. III 260–309. Sie spielt eine besondere Rolle, aber sie ist nicht die Protagonistin.
Juno gerät wegen der Erziehung des paelice natum (487)39 in Wut. Im Gegensatz zu den früheren Motiven wird hier weder Athamas’ Hochmut noch Inos Verachtung noch ihre ὕβρις erwähnt. Darüber hinaus wird Inos Verhalten in den Fasten gerechtfertigt und gepriesen: Wieso hätte sie sonst den Sohn ihrer Schwester aufnehmen können? Es ist letztendlich das positive Bild von Ino.
Sofort beschreibt Ovid Athamas’ Wahnsinn. Am auffälligsten ist, dass Juno überhaupt nicht eingreift: Sie spricht nicht einmal, sie beklagt sich nicht über eine Beleidigung und sie steigt nicht zur Unterwelt hinab, um die Erinnyen um ihre Rache zu bitten. Darüber hinaus sagt der Text nicht, dass JunoJuno Athamas den Irrsinn schickt. Dieser wird bei Athamas von den FurienFurien durch ein Trugbild ausgelöst, aber diesem falschen Bild, das angeblich dem von Tisiphone in Met. IV 490–511OvidMet. IV 490–511 entspricht, wird kein Name gegeben. Das Wort furiis erinnert den Leser an die Erinnyen, und zwar an die Furien, aber es soll vor allem Athamas’ WahnsinnWahnsinn als rasend kennzeichnen.
Ovid ruft Learchos mit demselben Wort (parue), mit dem er Melikertes in Met. IV 522OvidMet. IV 522 benannte. Die Einzelheiten der Jagd fallen weg, über die Art von Learchos’ Ermordung durch seinen Vater wird geschwiegen und jede Erwähnung von Grausamkeit vermieden. Man könnte sagen, Ovid behandelt dieses Thema mit Glacéhandschuhen, denn es ist nicht eigentlich das, was er dem Leser erzählen will: Dies ist nur die Vorrede, um zur ‚wichtigsten‘ Geschichte von Ino-Leukothea zu kommen. Ino bestattet ihren Sohn und erfüllt fromm alle den Toten gepflichteten Riten; Ovid besteht auf dem positiven Bild von Ino als einer guten Mutter, die unter dem Tod ihres Sohnes durch die Hand ihres wahnsinnigen Mannes leidet. In Met. IV 515–524OvidMet. IV 515–524 bleibt Learchos’ Leiche unbestattet und unbeweint.
Nachdem sie dem Toten gegenüber alle Akte der Barmherzigkeit erfüllt hat, nimmt Ino Melikertes aus der Wiege. Ovid ruft in diesem Moment Learchos’ jüngeren Bruder, und es ist klar, auch wenn er das Wort parue nicht erwähnt, dass Melikertes ein Säugling ist, denn er schläft in einer Wiege. Bemerkenswert ist, dass Ovid nicht sagt, Ino werde wahnsinnig wie ihr Mann: Ino leidet nicht wie Athamas unter dem Irrsinn, sondern unter der grässlichen Todesart ihres Sohnes Learchos, durch die sie emotionell (laniata, Vers 493) destabilisiert wurde. Allerdings ist die Beschreibung von funestos … capillos (493) ein Hinweis auf den bacchischen Wahnsinn der Mänaden, den Ino einigen Traditionen nach auch mitbekommen hat. Andererseits ist das Wort prosilit dasselbe, das Valerius Flaccus (VIII 21) verwendet, wenn er Medeas Antrieb, in den Wald hineinzugehen, schildert, eine Bewegung, die in der Argonautica mit Inos SprungSprung ins Meer verglichen wird40.
Neue Szene. Ovid bringt den Leser bis zum ‚Steilufer‘, von dem Ino ins Meer springen wird. Es gibt eine große Ähnlichkeit zwischen dieser Passage und dem Ausdruck est uia decliuis in Met. IV 432OvidMet. IV 432. Dieses kleine Land wird von Meeren umspült; auffällig ist, dass es nie als eine Klippe beschrieben wird41. Selbstversändlich beschreibt Ovid den Isthmus von KorinthKorinth42. Ino, die aufgrund ihres zukünftigen Verbrechens als insanis dargestellt wird, kommt mit Melikertes in ihren Armen. Hier wird das Wort verwendet, das laut Cicero43 den Wahnsinn als eine Krankheit kennzeichnet. Ino springt unverzüglich. Es ist nicht klar, warum Ino sich so verhält, denn es wird weder gesagt, dass Athamas sie verfolgt, noch dass der Aiolide seinen andern Sohn auch töten will. Man hat den Eindruck, dass Ovid viele Einzelheiten als bekannt betrachtet.
Der Leser springt von Szene zu Szene. Panope und ihre hundert Schwestern nehmen die Mutter und das Kind auf. Frazer erklärt, wer die Wohltäterin ist: „Panope was one of the sea-nymphs, the Nereids, the daughters of Nereus and Doris“44. Ihre Anzahl45 beträgt bei Hesiod (ThHesiodTh. 240–264. 240–264) und Hygin (Fab. Praef. 8) nur fünfzig; Ovid wird aber von Plato (CriPlatonCri. 116e. 116e) unterstützt, weil dieser auf einen Tempel zu Ehren Poseidons hinweist, wo es einhundert goldene Bilder der Nereiden gab. Bömer denkt, dass sich Ovid auf Prop. III 7, 67ProperzProp. III 7, 6746 beziehen könnte, „wo 100 eine Vielzahl bedeutet“47. Trotzdem muss man bei Ovid einhunderteins berechnen und „dafür gibt es überhaupt keine Parallelen“48. Abgesehen von der Anzahl der Nereiden ist es interessant, sich auf Panope zu konzentrieren; sie ist die einzige, die er beim Namen nennt und möglicherweise hat Ovid diese Nereide wegen des Textes von Vergil (VergilG. I 437G. I 437) explizit genannt: In Georgica steht sie bei dem Gelübde, das die Seeleute ablegen, buchstäblich neben Ino.
Man muss bemerken, dass nur Learchos in den Fasten stirbt; Ino und Melikertes überstehen inlaesos (499). Außerdem ändert sich der Ton der Beschreibung ganz und gar: von den zerrauften Haaren, den rasenden Armen, den tödlichen Sprüngen zu einer sanften Seefahrt. Das erinnert den Leser an die Seefahrt von Phrixos und Helle, denen auch von den Göttern durch das goldene Vlies geholfen wurde. Ovid besteht aber darauf, dass Ino und Melikertes’ Divinisierung noch nicht stattgefunden hat (vgl. Vers 501).
2’) Die AbenteuerAbenteuer in Italien
Ino und Melikertes kommen zum ersten Mal in der griechischen und lateinischen Literatur im Mündungsgebiet des Tibers an.
Und noch einmal: Eine neue Bühne, eine neue Szene: Ein Hain. Der Leser ist gespannt; schwierig ist, die Morde von Aktaion, Pentheus und Learchos im Wald zu vergessen. Die Struktur ist derjenigen von Vers 495 (lucus erat) ähnlich, mit einer bloßen Umkehrung von Wörtern: Substantiv + Verb. Seltsam ist der Name des Hains: entweder Semeles, Inos Schwester und Mutter von Bacchus, des Gottes des Wahnsinns, oder Stimulas, eines Schlüsselwortes in Ios Irrsinnn. Der Name des Haines legt im Voraus die Natur seiner Bewohner fest: die Mänaden Ausoniens. Frazer meint, Stimula „seems to have been a genuine old Roman goddess, the personification of the impulses which stimulate and excite the mind“49. Die Identifizierung mit SemeleSemele, Bacchus’ Mutter, war möglich, weil das Bacchusfest, das Bacchanal, vielleicht in diesem Gebiet stattfand; Le Bonniec deutet tatsächlich an, „le sens de Stimula (déesse « qui aiguillonne ») semble faire de cette déesse une instigatrice du délire bachique“50. Ernout / Meillet glauben, Stimula könnte vielleicht eine volkstümliche Fehlbildung von Semele sein51. Dieser Meinung ist auch Bömer, wenn er schreibt: „Ihre Verbindung zu Semele ist in erster Linie auf die sprachliche Ähnlichkeit zurückzuführen“52; oder Le Bonniec selbst: „Vieille divinité italique, mal connue, rapprochée de Sémélé à cause de la ressemblance de leurs noms“53.
In diesem Hain, der auch in CIL. VI 2 9897EinschriftenCIL. VI 2 989754 erwähnt ist, fand angeblich das berühmte Bacchanal des Jahres 186 v. Chr. statt, das RomRom so stark erschreckte; aus diesem Ereignis resultierte der denkwürdige, im Museo della Civiltà Romana erhaltene Text über das Verbot des Bacchanals. Der Hain sollte in der Nähe des Aventin liegen; Frazer mutmaßt, „that it was situated in the northern part of the modern Prati del Testaccio, at the western or south-western foot of the Aventine, below the church of S. Maria Aventina or of S. Anselmo“55.
Ino fragt nach der Identität der Mänaden; die Antwort verbindet RomRom mit Griechenland, nämlich mit Arkadien und dem König Evander. In diesem Moment taucht eine neue Figur auf, die ihre echte Identität versteckt: Saturnia56. Ovid benutzt für die Beschreibung ihrer Erscheinung das gleiche Wort, das den Hain kennzeichnet: instimulat (508). Die Worte der Göttin, die im Gegensatz zu denen, die Ino ausspricht, wortwörtlich nacherzählt werden57, haben dieselbe Eigenschaft wie Juno: die Unwahrheit.
Der Höhepunkt der Ironie befindet sich in diesem Widersinn: Juno beschuldigt Ino des gleichen Verbrechens, das sie selber begeht, nämlich des Betrugs. Die Rede der Göttin ist einfach und kurz, aber sehr wirksam. Zunächst erweckt sie den Argwohn der Zuhörerinnen, daraufhin enthüllt sie die böse Absicht der Ino: Kadmos’ Tochter ist zu ihnen gekommen, um das Ritual ihres Bundes zu erkunden. Letztlich weist sie auf die verdiente Bestrafung hin: Melikertes muss sterben. Dieser letzte Punkt ist dem Ausdruck ipse docet quid agam in Met. IV 428OvidMet. IV 428 ähnlich. In der Tat beabsichtigt Juno, dass Inos Schicksal dem ihrer Schwester Agave ähnelt und ihr Sohn Melikertes von den Bacchanten zerrissen58 wird und stirbt. Junos Besessenheit bezüglich Inos Kinder ist krankhaft.
Die Mänaden werden durch ihre üblichen Züge gekennzeichnet: Heulen, Kopf in die Luft und ungewöhnliche Gewalttätigkeit. Auffällig ist der Beiname ‚Thyaden‘, den Vergil (Aen. IV 302VergilAen. IV 302) schon benutzt hatte und der auf Griechisch ‚irreredende Frauen‘59 bedeutet. Die Hände zu strecken (iniciuntque manus, Vers 515), könnte mit einem außergerichtlichen Ritualakt zu tun haben60.
Ino ruft, wenn sie angegriffen wird, die Götter und Männer des Landes, und zwar die Vorfahren der Römer. Zum ersten Mal spricht Ino in den Fasten. Diese Szene ist der in Met. IV 516–517OvidMet. IV 516–517 sehr ähnlich: Da versucht Athamas – und er schafft es –, Learchos, nicht Melikertes, aus den Armen ihrer Mutter zu reißen. In den Fasten verteidigt Ino ihren Sohn vor dem Angriff der tobenden Bacchanten, im Gegensatz zu Agave in Bezug auf ihren Sohn Pentheus; der Unterschied liegt in dem furor: Der von Dionysos ist wirksam, jener von Juno nicht.
Herkules verlässt die Kühe61 auf dem Aventin und läuft dahin, wo er das Kampfgeräusch hört. Herkules’ Anwesenheit in dieser Geschichte – Ovid ist der einzige Autor, der diese Angabe überliefert – würde die enge Verbindung zwischen dem Tempel Hercules Victor und dem PortunusPortunus im Forum Boarium bestätigen, falls es wahr ist, dass die Kirchen S. Maria Sole und S. Maria Egiziaca zu Ehren dieser Helden geweiht worden sind. Das bedeutet, dass die Nachbarschaft beider Tempel auf eine gemeinsame, wahrscheinlich im 2. Jh. v. Chr. entstandene Legende zurückgeht, die „gleichzeitig die Erzählung von dem Eingreifen des Hercules in die Portunus-Geschichte“62 klarstellen könnte.
Der Held vom Berg Öta63 kommt an, und die Frauen fliehen entsetzt. Ovid benutzt das Bild, das zum Wort tropaeum, und zwar τροπαῖον, führt. Das war das Denkmal, das als Siegeszeichen genau an dem Ort, wo der Feind dem Gegner den Rücken zukehrte und zu flüchten begann, gesetzt war. Im Gegensatz zu den Bacchanten, die von Juno betrogen worden waren, erkennt Herkules Ino sofort und nennt sie matertera Bacchi (523). Dieser Titel ist eigentlich der Grund von Junos Zorn, der Beweis für die neue Niederlage von Jupiters Frau. Es ist nicht erstaunlich, dass Herkules sogleich auf Juno anspielt, ohne aber ihren Namen zu nennen: Er bezeichnet sie nur als numen (524).
Herkules und Ino haben ein ähnliches Erlebnis, ein gemeinsames Schicksal: Beide werden von JunoJuno verfolgt. Ino erzählt ihm nur einen Teil der Geschichte; Ovid sagt, dass sie den anderen Teil aus Scham zurückhält: Ihr ist es peinlich, eine solche Freveltat vor ihrem Sohn auszusprechen. Allerdings stimmt es überhaupt nicht mit Ovids Erzählung überein, dass Melikertes nur ein Säugling ist und er kein Wort verstanden hätte. Zum ersten Mal wird klar gesagt, dass sich Ino von den FurienFurien mitreißen ließ, was als ein deutlicher Hinweis darauf gilt, dass der furor auch in Athamas’ Frau wirkte. Nachdem Ino mit ihrer Erzählung fertig ist, fliegen die Gerüchte über sie überall hin. Und das Gerücht, das damals den Zeitgenossen Inos Erzählung bekannt machte, ist dasselbe, das den Römern vom 1. Jh. n. Chr. durch Ovids Darstellung Inos Geschichte erzählt.
Dann erscheint die Priesterin Carmentis, Evanders Mutter und Göttin des prophetischen carmen64. Ino ist Gast in Carmentis’ Haus, in dem Athamas’ Frau die auf dem Herd gewärmten Kuchen isst. Dies ist die Antwort auf die zweite Frage: Die Römerinnen sollten Mater Matuta, die raffiniert mit Ino identifiziert wurde, Kuchen anbieten, weil Tegeas Priesterin dies damals bei Ino auch so getan hatte. Laut Frazen „[these cakes65] were baked by matrons in a hot earthen pot (testu); hence they were called testuacia“66. Bömer deutet an, „das Aition ist griechisch“67. Ein anderer Beleg dieser Kuchen ist in Varr. V 106VarroLL. V 106 zu lesen: Testuacium, quod in testu caldo coquebatur, ut etiam nunc Matralibus id faciunt matronae. Carmentis wird Tegea genannt, weil sie aus Arkadien kommt, dessen wichtigste Stadt Tegea ist.
Nachdem Ino den Hunger gestillt hat, will sie auch ihre Neugier stillen. Sie fragt Carmentis nach der Zukunft. Athamas’ Frau ist besonnen; sie weiß, dass es nicht gestattet ist, alles zu sagen, weil sie Herkules auch nicht alles erzählen konnte; deswegen bittet sie nur, dass es gesagt wird, qua licet (536). Wie Ino unverzüglich (498) gesprungen war, genauso schnell bemächtigte sich der Gott der Weissagerin68 und bringt sie zum Sprechen. Der ἐνθυσιασμός ändert, verunstaltet und entstellt die menschliche Figur69; er vergrößert ihre Statur, weil auch ihre Fähigkeit und ihre Macht gesteigert werden: „Begnadete Menschen sind maiores humano“70. Die Szene ist deutlich von Verg. Aen. VI 46–51VergilAen. VI 46–51 inspiriert.
Carmentis verkündet nur frohe Nachrichten: Ino wird dem römischen Volk helfen, in RomRom71 immer zugegen sein und eine Seegöttin werden, wie Melikertes ein Seegott. Carmentis selbst verleiht ihnen ihre neuen Namen: Leukothea-Mutter MatutaMatuta; PortunusPortunus (er kümmert sich um den Hafen)-Palaimon72. In Bezug auf die lateinische Bezeichnung des divinisierten Melikertes, behauptet Frazer, „Portunus was a genuine old Roman god“73; diese Gottheit erscheint auch in AenVergilAen. V 240. V 240, wo er einem im Wettbewerb zu Ehren des verstorbenen Anchises kämpfenden Schiff hilft. Die Römer waren nicht sicher, ob Portunus’ Name aus portus oder aus porta abzuleiten war. Der schottische Gelehrte meint: „Portunus was primarily a god of gates (portarum) and only secondarily a god of harbours (portuum)“74. Seine Festspiele fanden am 17. August statt.
Carmentis empfiehlt den neuen Göttern, RomRom gnädig zu sein. Wo sich Ovid an die guten Mütter in Vers 478 wendet und ihnen befiehlt, zu den Matralia zu gehen (ite), da weist Carmentis Mater Matuta und PortunusPortunus umgekehrt an, nach Rom zu gehen (ite, Vers 548) und der Urbs gnädig zu sein; Mater Matuta verspricht es. Auffallend in diesem Verfahren ist, dass der Vermittler dieser Divinisierung nicht ein Gott ist, sondern eine menschliche Priesterin, der ApollonApollon die Worte eingibt; sie ist es auch, die den beiden ihre Namen verleiht. Im Gegensatz zu Met. IV 539–542OvidMet. IV 539–542 gibt es in den Fasten keinen Reinigungsprozess. Die erste Frage nach der Identität von Mater Matuta sollte hiermit beantwortet sein.
In den Fasten sterben Ino und Melikertes nie. Zunächst stürzen sie sich von einer Klippe ins Meer, aber Panope und ihre Schwestern retten sie, und sie überstehen den Sturz unbeschadet; daraufhin wollten die Mänaden das Kind den Armen der Mutter entreißen – eine Szene ähnlich wie in den Metamorphosen, in der Athamas Learchos aus Inos Armen reißt und tötet –, aber sie schaffen es dank der Hilfe von Herkules nicht; letztlich werden sie sofort gemäß der Vorhersage von Carmentis in Götter verwandelt.
3’) Der Grund für die Ablehnung der Sklavinnen
Ein bloßes Jawort – und Ovid bringt den Leser noch einmal in die Gegenwart. Der Dichter nimmt die Erzählung in die Hand und simuliert einen Dialog mit den vor dem Tempel der Göttin versammelten Gläubigen. Ovid will die dritte und letzte Frage beantworten, aber er ändert ganz und gar das ParadigmaParadigma, weswegen er zur Gegenwart zurückkehren muss: Er konnte nicht in der I-L-M-Version bleiben, wenn er diese Antwort mit der Hilfe der I-P-H-Version erklärt, obwohl weder Nephele noch ihre Kinder im Text erwähnt werden. Darüber hinaus ist die Erzählung sehr viel kürzer (nur zwölf Verse). Diese Antwort befriedigt überhaupt nicht. Frazer glaubt, „perhaps the prohibition was based on a general unwillingness, shared by Greeks as well as Romans, to allow slaves to participate in religious rites, which they were supposed to pollute by their presence“75. Dieser Forscher bietet auf derselben und der nachfolgenden Seite viele andere Beispiele von KultKulten, in denen die Anwesenheit von Sklaven verboten war.