Kitabı oku: «Robins Garten»

Yazı tipi:

Marc Späni

Robins Garten

Marc Späni

Robins Garten

Roman

orte Verlag

© 2016 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen,

fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger

und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Janine Durot

Umschlagbild: iStock, Jacques Palut

Gesetzt in Arno Pro Regular

Satz: orte Verlag, Schwellbrunn

ISBN: 978-3-85830-193-2

ISBN eBook: 978-3-85830-194-9

www.orteverlag.ch

eBook-Herstellung und Auslieferung:

HEROLD Auslieferung Service GmbH

www.herold-va.de

Prolog

In der traditionellen chinesischen Gartenkunst ist die ideale Grundstücksform ein Quadrat. Wird dieses gleichmässig in drei mal drei Abschnitte geteilt, ergibt sich ein sogenanntes Ba Gua-Raster. Der Bereich im Zentrum, das Iching oder Tai Chi, symbolisiert die Mitte der Erde beziehungsweise das Zentrum der Lebenskraft des Gartens, den acht äusseren Bereichen werden verschiedene Aspekte des Lebens zugeordnet: Zhen (Familie, auch Gesundheit und das Verhältnis zu Vorgesetzten), Dui (Kinder und Kreativität), Li (Ruhm und Ansehen), Gen (Wissen, Intuition), Xun (Reichtum und Besitz), Kan (Karriere), Kun (Partnerschaft, Liebe und Ehe), und Qian (hilfreiche Freunde und Reisen). Feng Shui, die Lehre von der Gestaltung von Wohnräumen und Gärten, kennt zahlreiche Accessoires wie Statuen, Brunnen, Pflanzen, Bilder und Symbole, mit denen die Funktion des entsprechenden Abschnittes positiv beeinflusst werden kann.

Seit sich Robin Fahrni, Landwirt, Hobbygärtner und Leiter einer spirituellen Interessengemeinschaft, hinter seinem Bauernhaus einen grossräumigen Feng Shui-Garten angelegt hatte, beschäftigte ihn die Frage, wie es um diese Relation zwischen den neun Bereichen des Gartens und den Aspekten des Lebens bestellt sei. War es so, dass man, indem man sich um einen bestimmten Abschnitt seines Gartens kümmerte, unbewusst diesem Aspekt auch im richtigen Leben mehr Bedeutung zumass? Oder verbarg sich dahinter doch ein ursprünglicheres Prinzip, das seine Wirkung auch dann tat, wenn man die dahinterstehende Lehre nicht kannte?

Nachdem ihn weder das Studium der Arbeiten von Meister Yap Cheng Hai noch die Pflege des eigenen Gartens einer Antwort näher gebracht hatte, begann Robin Fahrni langsam den Verdacht zu hegen, seine Frage könnte der verräterische Ausdruck einer tiefen Verwurzelung im westlichen Rationalismus sein, den er zeitlebens mit aller Kraft zu überwinden versucht hatte. Ein wahrer Feng-Shui-Meister würde wahrscheinlich nachsichtig lächeln und ihn mit einer dieser Zen-Paradoxien abspeisen: «Erst ist ein Berg ein Berg, dann ist der Berg kein Berg, dann ist der Berg wieder nur ein Berg.» Ja, ja, mit solchen Sprüchen konnte man natürlich auch bei völliger Ahnungslosigkeit sehr, sehr weise erscheinen!

1.

Familie, Gesundheit und das Verhältnis zu Vorgesetzten

Als Edwin Gadze um 11.24 Uhr auf seinem Lesesessel neben der Vitrine mit den historischen Modelleisenbahnen in sich zusammensank und nach fast dreiundachtzig Lebensjahren seinen letzten Atemzug tat, bewegten sich nur wenige hundert Meter von der Seniorenresidenz entfernt fünf graue Gestalten im Schutz von Büschen und Hecken langsam unter der warmen Aprilsonne durch das Gelände. Zuerst tauchte jeweils der Anführer aus seiner Deckung auf, legte einige Meter zurück und begab sich sofort wieder in den Schutz des Buschwerks, einer kleinen Erhebung oder einer Holzbeige, drehte dann den Kopf mit dem verbeulten Helm und der Fliegerbrille zu den anderen und gab mit hochgehaltener Hand Signale. Daraufhin machten sich die vier Männer mit den abgewetzten Lederjacken, den Waffengürteln und Motorradstiefeln in seine Richtung auf, schnell und lautlos wie Eidechsen, mit gesenkten Köpfen, oder in der meditativen Langsamkeit von Schildkröten, eins mit der Umgebung. Zwischendurch verharrten sie minutenlang bewegungslos, in der Hocke oder flach auf den Boden gepresst, den Blick in höchster Konzentration nach vorne gerichtet, umringt von frühen Insektenschwärmen.

Als der Trupp im Schutz eines Heuschobers innehielt, bevor er den Weg über offenes Gelände in Angriff nahm, einen gepflügten Acker ohne jede Deckung bis zum kleinen Bachlauf gleich unterhalb des japanischen Gartens, war Edwin Gadze bereits achtzehn Minuten tot. Sein Kiefer hing schlaff nach unten, die Zunge war schwer auf die farblose Unterlippe gesunken. Nur die Neuenburger Wanduhr zwischen den Kupferstichen des Landwasserviadukts und des Kehrviadukts von Brusio tickte unbarmherzig durch das geräumige Appartement. Ein Scharfschütze auf dem Balkon hinter dem Toten hätte freie Sicht gehabt, um mit dem Zielfernrohr die fünf Gestalten zu erfassen, die wenige Augenblicke später im Abstand von etwa zehn Metern über den Acker rannten, und genügend Zeit, einen nach dem anderen abzuschiessen, bevor er die schützenden Büsche erreichte.

Auch der kräftige Mann mit der Glatze und dem Leinenhemd, der nur wenige Meter oberhalb des Baches seinen Bambus zurückschnitt, hätte die schnelle Bewegung wahrnehmen müssen, hätte er nur einen Augenblick seinen Blick auf den Acker statt auf die robusten Bambusstängel gerichtet, hinter denen sich eine ausgedehnte Gartenanlage verbarg mit Fischteichen, Brunnen, Steinfeldern, geschwungenen Wegen und einer kleinen Pergola im Stil eines japanischen Teehauses. Eine kleine, ältere Asiatin fütterte die Karpfen und wandte sich an den Glatzköpfigen, der daraufhin seine Arbeit am Bambus unterbrach. Es vergingen kaum zwei Minuten, in denen sich die fünf Kämpfer mit angehaltenem Atem an die Hecke gepresst hatten, die schmutzigen Motorradstiefel im kleinen Bach. Sobald der Gärtner seinen Platz verliess, zogen sie weiter, lautlos und unsichtbar im Schutz der Hecke, zum Waldrand hoch, wo sie endgültig verschwanden.

Ein Karpfen sprang aus dem Wasser, eine Kohlmeise huschte durch einen blühenden Ranunkelstrauch, in der Residenz wurde das Mittagessen aufgetragen, die letzten Senioren nahmen ihre Plätze im Speisesaal ein. Edwin Gadzes Wanduhr zeigte 11.57 Uhr und tickte pflichtbewusst weiter, ungerührt vom Ableben ihres Besitzers.

Im gleichen Augenblick, drei Minuten vor zwölf, trat Florian Walpen aus dem mächtigen Eingang der Versicherung auf den Gehsteig hinaus. Auf der Teufenerstrasse rauschten lange Autokolonnen vom Stadtzentrum Richtung Appenzell und zurück. Der zwanzigjährige Sachbearbeiter wandte sich nach links, blieb dann aber nach einigen Metern vor einer der Fensternischen stehen, die in die Fassade des Jugendstilbaus eingelassen waren, stellte seine Tasche ab und blickte gespannt auf die Glasfront, auf die von innen der Ausschnitt einer Landkarte projiziert wurde. In jeder der zwölf Nischen war ein anderer Kartenausschnitt sichtbar, eine gewöhnliche Landkarte mit Gebäuden, Strassen, Flüssen, Seen, Symbolen für Gaststätten, Aussichtspunkte, Zeltplätze, Burgruinen, Stauwehre, Rebberge oder Seilbahnen. Eine gewöhnliche Landkarte, ausser dass jedes Grundstück und jedes Stückchen Land in einer von siebzehn Farben erschien, in einem Spektrum, das von sattem Rot über Gelb und Grün bis zu dunklem Violett ging. Besonders war auch, dass die Kartenausschnitte auf den zwölf Glasfronten von einem auf Zufallsgeneratoren basierenden Programm in ständig fliessender Bewegung gehalten wurden. Jede zweite Nische war zudem mit einem Bewegungssensor ausgestattet, der es einem Passanten erlaubte, die Steuerung der Projektion selber zu übernehmen: Durch Vorbeugen des Oberkörpers konnte er einen Ausschnitt heranzoomen, durch Zurücklehnen den Ausschnitt verkleinern, durch kleine Schritte innerhalb einer runden Markierung auf dem Fussboden in alle Himmelsrichtungen navigieren. Weiter oben, auf der anderen Seite des Eingangs, standen einige Schüler und spielten mit der Anlage. Florian Walpen hatte sich eine Nische ohne Bewegungsmelder ausgesucht.

«Du kannst dich wohl nicht losreissen?» Charly, Florians Teamleiter, ging eben in die Mittagspause.

«Ich schau mir nur mal schnell die Umschaltung an.» Florian wandte den Blick nicht vom Bildschirm.

Alle zwei Monate, am letzten Freitag um Punkt 12.00 Uhr, wurde die aktualisierte Versicherungskarte aufgeschaltet, ein Spektakel, das sich Florian in den zwei Jahren, seit er hier arbeitete, kein einziges Mal hatte entgehen lassen.

«Und, schon was Spannendes gesehen?», fragte Charly mit gespieltem Ernst.

Florian schüttelte den Kopf, ohne den Blick vom hell erleuchteten Fenster zu nehmen.

Sein Teamchef konnte nicht verstehen, warum er für jede Umschaltung drei Etagen nach unten fuhr und zehn Minuten seiner Pausenzeit opfert, schliesslich war die ganze Karte der Nordostschweiz, mit viel besseren Navigations- und Such-Tools versehen auch im Internet einsehbar, zudem konnten sich die Sachbearbeiter über Auf- und Abstufungen von Parzellen in der internen Datenbank informieren. Aber Florian liebte diesen Moment, auch wenn er nach 12.00 Uhr meistens keinen Unterschied erkennen konnte.

Der Zwanzigjährige hatte zwar nicht direkt mit der Gestaltung der Karte zu tun, dafür waren die PR- und die grafische Abteilung zuständig, er war nur einer von Hunderten von Sachbearbeitern, welche die Daten, Analysen und Einschätzungen verarbeiteten, auf deren Basis der Hauptcomputer für jede Parzelle in der Nordostschweiz über Auf-, Abstufung oder Beibehaltung der Einstufung entschied, ohne dass Mitarbeiter wie er in die komplexen Berechnungsabläufe Einblick hatten. Dies hatten nur die Versicherungsmathematiker höherer Stufen, die wiederum von den Geschichten nichts wussten, die hinter den Zahlen standen.

Erst einige Sekunden nach 12.00 Uhr löste Florian den Blick vom Bildschirm. Er hatte nichts sehen können, wie meistens. Zu gering waren die Anpassungen, zu gross das kartographierte Gebiet. Erst ein einziges Mal hatte er mitverfolgen können, wie sich vor seinen Augen um 12.00 Uhr eine Parzelle verfärbt hatte – was ihm über eine Woche lang ein besonders Glücksgefühl beschert hatte, und zudem die irrige Vorstellung, dies sei ein Zeichen, dass ihm weiteres Glück bevorstehe.

Charly war einige Schritte weitergegangen, drehte sich dann aber nochmals um. «Bist du am Nachmittag noch da?», fragte er über die Schulter.

«Nein, ich nehme heute meinen freien Halbtag.»

Der Teamleiter nickte und ging.

Florian musste am Nachmittag zu seiner Grossmutter, die in einer Altersresidenz wohnte, über eine Stunde mit S-Bahn und Postbus Richtung Voralpen. Da seine Mutter sich vor einem halben Jahr in klösterliche Isolation begeben hatte, um einmal mehr den Verlust des Vaters endgültig zu überwinden, und sich Moritz erfolgreich mit Kinderbetreuung und Familienpflichten zu entschuldigen pflegte, blieb dieser Besuch an ihm hängen. Diesmal hatte die alte Dame nicht zuerst den älteren Bruder, sondern direkt Florian angerufen, und er hoffte, dass es nicht zur Gewohnheit werden würde. Für seine freien Halbtage hatte er ganz andere Pläne, und wenn es nur war, im Café der Shopping Mall unter seiner Wohnüberbauung Grüntee zu trinken und in einem Magazin über Modellschiffbau zu blättern.

Er musste über eine Reihe von Kinderwägen steigen, um in den Sitzbereich des S-Bahnwagens zu gelangen, wo er, eingezwängt zwischen jungen Vätern und Müttern, quengelnden Kleinkindern und Seniorengruppen schliesslich einen Platz fand. Über den Bildschirm an der Wagendecke liefen abwechslungsweise Werbefilme und Nachrichten. Florian war eine halbe Stunde früher als geplant. Er wollte nur schnell Grossmutters Aufträge abholen und dann endlich wieder einmal bei Robin Fahrni vorbeischauen, der ganz in der Nähe der Seniorenresidenz seinen Hof hatte. Er hatte den Landwirt und Leiter der Freien Interessengemeinschaft für Grenzwissenschaften und Spiritualität schon Jahre nicht mehr gesehen und freute sich auf einen Tee in der Ruhe des japanischen Gartens. Es war 14.38 Uhr, als sich der Zug in Bewegung setzte, aus dem Nebenbahnhof heraus, vorbei an den hohen Verwaltungsgebäuden beim Güterbahnhof und ins Dunkel des Kehrtunnels, der die rund hundert Meter bis ins Riethüsli überwand, von wo aus die Bahn der Kantonsstrasse ins Appenzellische folgte.

Am Bildschirm las Florian, dass in der Zone erneut ein Haus überfallen und mit Gewehren beschossen worden war, allerdings ohne dass jemand verletzt worden wäre.

Das war seltsam! Vor allem in der Zone, wo nur noch wenige Leute lebten, die bewusst auf die Vorzüge des modernen Stadtnetzes verzichteten und weitgehend auf sich allein gestellt ihren Alltag bewältigten. Gut, da waren noch die Reichen in ihren Landhäusern, aber deren Grundstücke waren hermetisch abgeriegelt, und eine solche Villa hatten die Heckenschützen nie angegriffen.

Die S-Bahn fuhr grösstenteils unter der Erde. Wo das Trassee zwischendurch kurz an die Oberfläche kam, sah man spielende Kinder und Familien in den Grünzonen der Grossüberbauungen. Gelbe Schilder markierten das Ende des Wohngebiets und den Beginn der Zone, dem Gebiet ohne Versicherungsschutz, in dem sich die Natur langsam, aber sicher ihren Platz zurückeroberte. Verlassene Höfe, ja ganze leerstehende Dörfer wurden Meter für Meter von schnellwachsenden Heidepflanzen überwuchert und von einheimischen Tieren besiedelt, die man ausgestorben geglaubt hatte. Die wenigen bewohnten Flächen bildeten kleine oder grössere Oasen in dieser neuen Wildnis, von alteingesessenen Bauern mit altem Gerät mühsam freigekämpft oder von vollautomatischen Mährobotern systematisch in Spielwiesen, grosszügige Gartenanlagen oder Golfplätze verwandelt. Die Älteren erzählten gerne von der Zeit, als es die Trennung in Stadtnetz und Zone noch nicht gegeben hatte und man sich überall frei bewegen konnte. Erlitt man zu jener Zeit eine Panne oder einen Unfall, konnte man von überall her Hilfe anfordern, was unter Umständen sehr lange dauern konnte. Mit der Versicherung war alles einfacher geworden: Innerhalb des Netzes städtischer Infrastruktur hatte jeder Versicherte Anrecht auf Rettung durch die Rettungskräfte der Versicherung, wofür er je nach Einstufung seines Grundstücks mehr oder weniger bezahlte. Schafften es die Rettungskräfte einmal nicht, in der festgelegten Frist von nur wenigen Minuten vor Ort zu sein, riskierte die Versicherung eine Klage und hohe Entschädigungszahlungen. Das System war gut und gerecht, oder zumindest insofern neutral, als Rechner über die Einstufung entschieden und nicht Menschen, zudem bot es einem etwas vom Wichtigsten im modernen Leben: Sicherheit. Kein Wunder, dass nach und nach die Leute vom Land weg ins Stadtgebiet zogen und auch neue Landwirtschaftsgebiete in dieses integriert wurden. Der Boden ausserhalb der Versicherungsschutzzone verlor innert weniger Jahrzehnte seinen Wert, was den Prozess der Entsiedelung noch beschleunigte. Für Florian war das Geschichte. Solange er sich zurückerinnern konnte, hörte seine Welt bei den gelben Warntafeln auf. Was dahinter lag, war mit Angst und Unsicherheit konnotiert und konnte deshalb auch getrost in seiner Erfahrungswelt fehlen.

Die S-Bahnstrecke führte nur bis zu den Fünf Dörfern, einem Komplex aus fünf neuen Megaüberbauungen mit autonomem Wohnkonzept. Die Station war ein grauer Betonwürfel, dem die Architekten nicht einmal Fenster gegeben hatten, dafür eine auf die Aussenwand projizierte grosse Digitaluhr, die 15:19 Uhr anzeigte. Florian hatte zwanzig Minuten Aufenthalt, weil die Fahrpläne der S-Bahn und des Kleinbusses, der ihn zur Residenz bringen sollte, nicht aufeinander abgestimmt waren. Überhaupt fuhren die Kurse nur, wenn man sich vorher per Handy anmeldete.

Er setzte sich auf eine Bank, einen Betonquader an der Rückseite des Stationsgebäudes, und blickte auf den leeren Gehsteig. Im Schatten war es angenehm kühl. Eine Frau mit einem Dreierkinderwagen ging vorbei, später zwei Senioren mit motorisierten Gehhilfen, anschliessend fuhr ein Elektroauto der Spitex vorbei. Florian gähnte und streckte die Beine aus.

Nach einer Weile kam der Bus. Die Strasse führte zunächst in grosszügigen Serpentinen den Hang hoch. Florian war der einzige Fahrgast, sodass der Bus wenigstens nicht in jedes Seitental fuhr, in das sich die Versicherungszone in immer dünneren Verästelungen zog. Anfänglich waren links und rechts Häuser und Siedlungen zu sehen, dann, als die Strasse ein Plateau erreichte, lag auf beiden Seiten nur die Zone, hinter Maschendrahtzaun, der nur an wenigen Stellen unterbrochen und mit gelben Warntafeln versehen war.

Die Residenz war ein wuchtiger, dunkler Kasten aus den Anfängen des Kurtourismus Ende des 19. Jahrhunderts, auf mehreren Seiten durch unauffällige Neubauten erweitert. Ein halbes Einfamilienhaus, dessen andere Hälfte abgerissen und durch eine nackte, graue Wand ersetzt worden war, ragte wie eine Kriegsruine schräg hinter der Residenz auf.

Die Neuenburger Uhr im Zimmer des toten Erwin Gadze hatte bereits vier Mal geschlagen, als Florian Walpen aus dem Bus und in die Eingangshalle mit den marmornen Treppen trat. Vor rund einer Stunde hatte eine junge Ärztin den Toten gefunden, als sie ihn zur Ergotherapie abholen wollte. Der zugezogene Residenzarzt hatte eine halbe Stunde später den Tod festgestellt, und nun lag Erwin Gadze auf dem Bett, die Hände gefaltet, und auf dem Nachttisch brannte eine Kerze. Ein kurzer Moment des Friedens, bis der Leichenwagen den Weg zur Residenz geschafft hatte und den toten Körper im grauen Kunststoffsarg entsorgte.

Gleich bei Florians Ankunft im Kurhaus ging etwas schief. Statt Grossmutter Hallo zu sagen, seine Aufträge in Empfang zu nehmen und kurz darauf den düsteren Kasten wieder zu verlassen, folgte er, kaum angekommen, einem Freund und Mitbewohner der alten Dame, Herrn Eckert, durch lange Gänge mit schweren Teppichen zum Gewächshaus, wo dieser ihm seine Züchtungen zeigen wollte, sein kleines botanisches Reich, wie er es nannte. Grossmutter hatte er zwar gleich beim Empfang angetroffen, oberhalb der grossen Marmortreppe, im Gespräch mit Eckert und einem anderen älteren Herrn, aber sie schien von seiner verfrühten Ankunft ganz aus dem Konzept zu sein, entschuldigte sich in schlecht überspielter Aufregung, sie müsse sich noch frisch machen – sie trug einen dieser hässlichen Trainingsanzüge, wie man sie speziell für Leute über sechzig fabrizierte – und gab ihren Enkel in die Obhut des Pflanzenliebhabers. Sie hatte Florian bei einem seiner früheren Besuche dem Herrn einmal vorgestellt, aber er konnte sich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Überhaupt hatte am Empfang eine seltsame Stimmung geherrscht: Am Tresen stritt sich ein anderer Senior lautstark mit dem Verwalter. Es ging dabei, soviel konnte Florian aufschnappen, um Jagdaufsicht und eine Aufgabe des Försters, und der Verwalter sagte mehrmals etwas von geltendem Gesetz. Aber nicht genug: Kaum hatte Grossmutter sich einige Schritte entfernt, wurde sie von einer anderen alten Frau am Arm gepackt, die aus einem Seitengang gekommen sein musste. Jemand war tot, glaubte Florian zu hören, aber vielleicht täuschte er sich auch. Grossmutter schüttelte energisch den Kopf und riss sich los. Sie habe keine Zeit. Er würde sie später fragen, was los war.

Florian folgte also Herrn Eckert, der sich immer wieder umdrehte und ihn dies und das fragte, ins Gewächshaus am Ende des Flurs. Herr Eckert strahlte eine Aura von Tabakrauch und Sherry aus und erinnerte Florian an einen Englischlehrer aus einem früheren Jahrhundert. Von dem her passte er wunderbar in das Gewächshaus, das ebenfalls mindestens hundert Jahre alt zu sein schien. Unter den Glasscheiben, die sämtliche matt und undurchsichtig geworden waren, staute sich eine unangenehme, mit Blumenduft durchtränkte feuchte Schwüle. Grossmutter hatte Florian so überrumpelt, dass er gar nicht auf die Idee gekommen war, Einwendungen zu machen, und jetzt, wo ihn der alte Hobbygärtner schon in den hinteren Teil des Gewächshauses entführt hatte und ihm seine Sammlung von Wolfsmilchgewächsen zeigte, wäre es natürlich unhöflich gewesen, ihn stehen zu lassen, ohne seinen Schützlingen wenigstens einige Minuten Aufmerksamkeit zu widmen. Und es waren auch wirklich ganz schöne Pflanzen, das musste er zugeben, ausserdem hatte der Hobbybotaniker die Gabe, selbst über etwas so Langweiliges wie eine Pflanzenart ganz spannend zu erzählen. Er stellte seinem Besucher zuerst eine Sukkulente vor, die aus Madagaskar stammte und von diesem als Kaktus eingestuft wurde.

«Wolfsmilchgewächse sind eben keine Kakteen», meinte Eckert amüsiert, «sie gehören zu einer ganz eigenen Gruppe. Wussten Sie, dass es von den Wolfsmilchgewächsen 240 Gattungen und nicht weniger als 6000 Arten gibt?»

Florian fragte sich, wie jemand sich auf etwas wie Wolfsmilchgewächse spezialisieren konnte; schliesslich gab es so viele andere Blumen, die mindestens ebenso schön und vielleicht noch leichter zu züchten wären.

«Die hier», Eckert war schon einige Töpfe weiter, «enthält eine weissliche Milch, daher der Name der ganzen Familie. Ihre wissenschaftliche Bezeichnung ist Euphorbia, nach dem Hausarzt eines mauretanischen Königs.»

Florian nickte höflich.

«Aus einigen dieser Sukkulenten lässt sich ein Gift gewinnen, das von Völkern Zentralasiens für die Jagd und den Krieg verwendet wird.»

Da stand Florian nun in einem antiken Gewächshaus einer historischen Residenz für alte Leute und unterhielt sich mit einem Siebzigjährigen über Blumen! Er musste innerlich den Kopf schütteln. Nicht nur, dass er sich fragte, was das Ganze sollte. Irgendwie hatte es auch etwas Unheimliches: Ein alter Englischlehrer referierte über Pfeilgifte, in der hintersten Ecke eines unfreundlichen Gewächshauses, dessen rostige Türen sicher abgeschlossen waren und durch dessen Scheiben niemand einen Mord beobachten könnte, geschweige denn eine Leiche entdecken würde. Schon dieser penetrante Blumenduft, wie in einer Aufbahrungshalle. Und Herr Eckert erzählte und erzählte, eben noch von einer immergrünen aufrechten Stammsukkulenten von rund 70 Zentimetern Höhe, dann von der Blüte einer Merurialis annua. Florian blickte ab und zu verstohlen auf die Uhr. Die Wolfsmilchgewächse waren ihm mehr und mehr unsympathisch geworden. Als Herr Eckert endlich innehielt und vorschlug, auf der Terrasse bei einem Aperitif auf Grossmutter zu warten, war bereits mehr als eine halbe Stunde vergangen. Er ging mit seinem Gast aber nicht etwa auf dem direkten Weg zurück zum Wohnhaus, nein, Herr Eckert nahm Florian freundlich am Arm und führte ihn durch eine kleine Tür an der Rückseite des Gewächshauses ins Freie, eine Treppe hoch zu einem schmalen Pfad, der oberhalb des Gewächshauses zurück zur Terrasse der Residenz führte. Von diesem Weg aus konnte man zu einem Aussichtsturm hoch blicken, einer Konstruktion aus drei mächtigen Metallträgern mit vier Plattformen, von denen die oberste weit über den Sockel hinausragte. Durch die Ritzen zwischen den Brettern leuchtete die Sonne. Florian erinnerte der Turm an alte kolorierte Ansichtskarten aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert, und aus dieser Zeit stammte der Bau wohl auch. Nur Treppen, kein Lift natürlich.

«Wollen wir noch die Aussicht geniessen?», schlug Herr Eckert vor. «Es ist wirklich lohnend.»

Aber darauf hatte Florian nun wirklich keine Lust, ausserdem hasste er nichts mehr als grosse Höhen, vor allem überhängende Plattformen, wo das Auge keinen Fixpunkt mehr fand. Nein, da lehnte er dankend ab.

«Man muss sich nur überwinden können», meinte Herr Eckert kurz, aber Florian erklärte ihm, er könne sich sehr wohl überwinden, wenn es einen wichtigen Grund dafür gäbe. Aber nur zum Spass da hinaufzuklettern, dafür sei er sich nun doch zu lieb. Das schien dem Alten zu gefallen, er klopfte ihm auf die Schulter und führte ihn weiter.

«Ja, ja, wichtig ist, dass man sich überwinden kann, wenn es die Pflicht erfordert, da haben Sie völlig Recht.»

Als sie auf die Terrasse kamen, begann er, über die Wichtigkeit der Familie zu reden, verlor aber den Faden. Ihnen bot sich eine herrliche Aussicht, weit über die Hügel der Voralpen in den noch schneebedeckten Alpstein. Sie fanden einen leeren Tisch an der schmiedeeisernen Brüstung. An den anderen Tischen sassen bereits Senioren, die meisten – das fiel Florian als Erstes auf – mit weissen Turnschuhen an den Füssen. Er war nicht unglücklich, dem unheimlichen Gewächshaus entkommen zu sein und hoffte, dass er nun bald seinen Auftrag bekam und sich wieder auf den Weg machen konnte. Aber Grossmutter wollte einfach nicht auftauchen, was auch dem alten Eckert unangenehm zu sein schien. Auch er sah immer wieder auf die Uhr und versuchte krampfhaft Konversation zu machen: «Wissen Sie», griff er nach einer längeren Pause das Thema wieder auf, das er auf dem Weg vom Turm hierher begonnen hatte, «die Familie mag in Ihrem Alter keine besondere Rolle spielen, aber später, wenn Sie vielleicht selber Kinder haben, werden Sie feststellen, dass sie einen ganz anderen Stellenwert bekommt.»

Florian hörte nur mit halbem Ohr zu. Er überlegte sich, dass er jetzt, wo er später als geplant vom Kurhaus weggehen würde, einen anderen Shuttlebus bestellen musste, und rechnete hin und her, ob es doch noch für einen Besuch bei Robin reichen würde oder nicht. Eckert hatte, ohne ihn zu fragen, zwei Appenzeller bestellt und nötigte ihn nun zum Anstossen. Florian trank selten Alkohol, und das Zeug schmeckte nach Hustensirup und brannte in der Kehle.

«Es gibt keine Kultur, in der die Familie nicht eine absolut primäre Rolle spielt. Sie ist eine Grundkomponente der menschlichen Gesellschaft, ein Archetyp sozusagen, und steht damit über allen anderen Regeln des menschlichen Zusammenlebens.» So nett der alte Pflanzenfreund auch war, so legte er im Gespräch die sehr bemühende Eigenheit an den Tag, für alles die Bestätigung seines Gegenübers einzufordern: «Meinen Sie nicht auch, junger Freund?» «Da müssen Sie mir doch zustimmen, nicht?» «Sehen Sie das nicht ebenso?»

Florian bestätigte brav und sah vor seinem inneren Auge den Sekunden- und Minutenzeiger ticken und seine wertvolle Zeit unwiederbringlich davonrennen.

Endlich kam Grossmutter, nach über einer Stunde, frisch geduscht, in einer lachsfarbenen Bluse, eine Goldkette mit einem grossen Medaillon um den Hals, die braun gefärbten Haare säuberlich hochgesteckt. Als wäre sie nur zwei Minuten in ihrem Zimmer gewesen, reichte sie dem Enkel einen Zettel, auf dem sie von Hand einige Dinge notiert hatte, die er doch bitte für sie besorgen sollte: aus der Buchhandlung eine Einführung in die Moralpsychologie, aus dem Musikgeschäft eine CD mit entspannender, aber stilvoller Musik, einen unauffälligen Mehrfachstecker in dunkler Farbe – nichts, was sie sich auch über das Internet hätte in die Pension bestellen können, aber sie legte besonderen Wert darauf, dass Florian in den Geschäften einen Augenschein nahm und dann nach seinem Gutdünken entschied. Damit war das Thema abgeschlossen.

«Na, habt ihr zwei euch gut unterhalten?», fragte sie mit einem etwas aufgesetzten Lächeln, und bevor Florian etwas sagen konnte, bejahte Eckert enthusiastisch und begann aufzählen: «Wir haben über Selbstüberwindung, die Wichtigkeit der Familie und die Pflichten gegenüber Familienmitgliedern geredet.»

Hatten sie über Selbstüberwindung geredet? Ach ja, beim Turm, als sich Florian geweigert hatte hochzusteigen. Grossmutter schien zufrieden, und der Enkel hatte immer mehr das Gefühl, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Das Gespräch mit Eckert wirkte arrangiert, doch konnte er sich nicht vorstellen, zu welchem Zweck. Eine zweite Runde Appenzeller wurde bestellt. Und als Florian irgendwann signalisierte, dass er in absehbarer Zeit aufbrechen würde, meinte Grossmutter, das gehe nun wirklich nicht.

«Ich habe extra ein zusätzliches Gedeck bestellt, und es ist ganz ausgeschlossen, dass du schon wieder verschwindest, wenn du schon einmal hier bist. Auch Herr Eckert wäre herb enttäuscht!» Dieser bemühte sich ein ganz unglückliches Gesicht zu machen. Da war wohl nichts zu machen, unhöflich wollte Florian nicht sein. Der Besuch auf dem Fahrnihof bei Robin war also gestrichen, aber unterdessen war es ohnehin schon fast halb sechs, sodass er, auch wenn er sich in den nächsten zehn Minuten hätte losreissen können, direkt zurückgefahren wäre. Er hoffte, sie würden hier früh essen, wie in Spitälern und Altersheimen, schliesslich war die Residenz ja etwas Derartiges. Aber noch machte niemand Anstalten, sich in den Speisesaal zu begeben, und als Herr Eckert endlich aufstand, um sich seinerseits noch etwas frisch zu machen, trat sogleich ein anderer Senior an den Tisch und nahm seinen Platz ein.

«Herr Strahm», stellte Grossmutter vor, «war früher im Rahmen der grönländischen Bodenerschliessung tätig. Mein Enkel», wandte sie sich an den Ankömmling, «interessiert sich sehr für Schiffbau und den Norden.»

Strahm trug eine graugrüne Weste mit unzähligen kleineren und grösseren Taschen, wie man sie bei Förstern und Jägern sieht. Er war der zweite Mann gewesen, der bei Florians Ankunft mit Grossmutter geredet hatte.

«Schiffbau, Skandinavien, ein herrliches Hobby!» Er sagte es ohne jede Überraschung, als sei er über die Interessen Florians schon vorgängig informiert worden. Das machte diesen etwas stutzig. Sobald Strahm aber zu erzählen begann, von Bauprojekten, Schiffsreisen, heiklen Situationen, Stürmen, dem unbarmherzigen Klima im Norden, vergass Florian seinen Verdacht wieder. Er mochte den Alten, der etwas weniger gekünstelt wirkte als Eckert, voller Tatendrang steckte und ihm beim Erzählen verschmitzt in die Augen sah. Nach einer Weile kamen sie auf Versicherungen im Allgemeinen und Florians Job im Besonderen zu reden, wobei Strahm ein grosses Interesse zeigte, etwa dafür, wie ein so grosser Betrieb funktionierte, wie die Einstufungsentscheide zustande kamen, wie es mit der Datensicherheit aussehe. Natürlich hätte ihm Florian nicht in dieser Offenheit von den Sicherheitslücken erzählen dürfen, oder vom Passwort, das seit einigen Tagen offen auf dem Pult des Teamleiters lag, schliesslich wusste man nie, was passieren konnte, wenn so etwas an die Medien gelangte, aber er spürte schon die Wirkung der zwei Appenzeller auf nüchternen Magen.

₺547,42

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
221 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783858301949
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre