Kitabı oku: «Menschen im Krieg – Gone to Soldiers», sayfa 14

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Louise war zu aufgeregt, um schlafen zu können, wollte aber anderntags blendend aussehen. Schließlich kramte sie in einer Schublade nach einer Schlaftablette. Sie hatte seit den Monaten nach Oscars Auszug keine mehr genommen. Sie konnte sich an ihren unglücklichen Zustand erinnern, aber heute Abend hatte sie eine Vogelperspektive auf diese Hölle, säuberlich wie Flickenteppichfelder weit unter ihr. Wenn sie heute Abend eine Einschlafhilfe brauchte, dann nicht, weil ihr Leben ihr entleert vorkam, sondern übervoll.

Als sie erwachte, erinnerte sie sich an zwei sexuelle Träume. Darin hatte sie nicht mit Oscar geschlafen, der ihr Traumleben immer noch zu dominieren schien, auch nicht mit gesichtsloser Jugend, jung Tausendlieb, der manchmal Oscar ersetzte. Sie hatte geträumt, Körper an Körper nackt mit Claude zu liegen, einmal und dann noch einmal, und als sie nun aufstand, um sich ihrem Tag zu stellen, ertappte sie sich dabei, dass sie an ihn bereits als ihren Liebhaber dachte, als einen Mann, der ihr schon zweimal Genuss bereitet hatte.

Naomi 2
Ab heute bist du eine Frau

Es passierte in der Schule, als Naomi in der Turnstunde draußen Baseball spielte. Sie war ans entfernteste Laufmal gestellt worden, weit weg vom Schläger, wo ihre einzige Angst war, der Ball könnte plötzlich auf sie zufliegen. Baseball war für sie ein fremdes Spiel. Sie holte nach dem Ball aus, wenn sie mit Schlagen dran war, und wenn sie ihn manchmal traf, so war das reine Glückssache. Sie hatte gelernt, dann ganz schnell zu rennen, und sie wusste, wo sie zuerst hinrennen musste und wohin dann.

Wenn dem Ball jedoch einfiel, direkt auf sie zuzukommen, dann wusste sie sich keinen Rat, was sie tun sollte. Dann stand sie mit hochgestreckten Armen da, und manchmal drehte der Ball unversehens ab und sprang an ihr vorbei, oder er schwebte über ihrem Kopf und plumpste auf sie herunter, oder er traf ihre ausgestreckten Arme, prallte gemein ab und hopste weg. Draußen im Gras des Außenfeldes betete sie, dass der Ball sich heute nicht sie als Zielscheibe suchte.

Den ganzen Frühling über hatte es geregnet, aber heute schien die Sonne und der Himmel war blau, verschmiert vom gelbbraunen Dunst aus den Fabriken. Löwenzahn blühte auf dem Außenfeld. Auf Französisch hieß er pissenlit, piss ins Bett, aber es war die gleiche Blume. In früheren, besseren Frühlingen hatten sie die Blätter gegessen. Die Mädchen rieben sich gegenseitig die Blüten unters Kinn und sagten, das sei Butter.

Am Laufmal rechts von ihr stand Clotilde. Für Naomis Ohren war das ein ganz normaler Name gewesen, bis sie gehört hatte, wie die anderen Kinder Clotilde hänselten, ein Pummelchen mit hellbrauner, fast grauer Haut und Haaren, so kraus wie Naomis, nur noch ein bisschen dunkler. Clotilde sprach nicht wie die anderen farbigen Mädchen. Ihre Mutter zog ihr Kinderschürzen an, und sie trug ein kleines goldenes Kreuz an einer Halskette. Sie war katholisch, ging aber nicht auf die Konfessionsschule, hatte sie Naomi erklärt, weil da Polen waren, und das verstand Naomi sofort, denn die polnischen Kinder verprügelten die farbigen Kinder ebenso oft wie die jüdischen Kinder, und weder Juden noch Farbige waren in Hamtramck willkommen, der polnischen Stadt innerhalb von Detroit mit eigener Verwaltung.

Jetzt fiel Naomi auf, dass Clotilde zu ihr herübergetrieben war, wie sacht vom Wind angeweht. Clotilde schaute nicht zu ihr, sondern unglücklich zum Schlagmal, und hoffte bestimmt so inständig wie Naomi, dass nichts von dort auf sie zukam. Clotilde wurde immer als letzte der farbigen Mädchen aufgestellt, denn sie hatte keine sportlichen Neigungen oder Fähigkeiten.

»Tu es de Paris, vraiment?«, fragte Clotilde aus dem Mundwinkel.

Einen Augenblick war Naomi nicht sicher, dass Clotilde Französisch sprach, denn es war ein Singsangfranzösisch, einige Silben verschluckt, andere Silben so ausgesprochen, wie Naomi es nur in der Provence gehört hatte. Dann begann Naomi, auf sie einzureden, ein heftiger Sturzbach. »Wie kommt es, dass du Französisch sprichst? Sprecht ihr das in deiner Familie? Wo bist du her?«

»Doucement, doucement«, warnte Clotilde. »Du weißt doch, wir dürfen hier nur Englisch sprechen. Wir müssen leise sein. Aber ich bin auf Martinique geboren, wo ich auch viel Familie habe, und es ist sehr schön da, ohne Winter, und die Weißen da sind nicht so gemein wie hier. Ich weiß, wie sich alle über einen lustig machen, wenn man zu Hause nicht Englisch spricht.«

»Es ist so schön, Französisch zu sprechen, Französisch zu hören, ich könnte weinen!«

Dummerweise warf die Innenfeldfängerin die nächste Schlägerin hinaus und beendete ihr Gespräch. Naomi hockte im Löwenzahn, suchte nach einem, der schon eine Pusteblume hatte, und schaute, wann sie mit Schlagen dran war, da merkte sie, dass sie zwischen den Beinen nass war.

Hatte sie sich in die Hose gemacht? Sie wartete, bis sie am Ende der Turnstunde vom Platz hereinkam und die Hose auszog, die sie für die Schule hatte kaufen müssen, eine lange Turnhose in hässlichem Marineblau. Ein großer roter Fleck, Blut, groß wie ein Halbdollarstück. Ihr fiel eine Geschichte im Radio ein von einem kleinen Mädchen, das an Blutarmut starb und das Blut in den Ohren rauschen hörte. Dann fiel ihr ein, wie Jacqueline einmal eine Binde im Badezimmer gelassen hatte. Maman hatte Jacqueline geohrfeigt und einen Schmutzfink geschimpft, aber dann erklärte Maman Rivka und ihr, wie kleine Mädchen zu Frauen wurden.

Dann fragten sie Jacqueline allein. Sie lag auf dem Bett ihrer Eltern und las Sturmhöhe, einen englischen Roman. Maman und Papa waren bei der Arbeit. Jacqueline tat sehr wichtig. Es war nichts, sagte sie, obwohl einige Mädchen ein Riesengeschrei darum machten und den ganzen Tag lang mit Wärmflaschen rumlagen und viele Aspirin schluckten. Sie selbst fand es nur lästig. Aber es bedeutete, dass du eine Frau geworden warst. Es war wie eine private bar mizwa und echter, denn es geschah, wann G-tt wollte. Dann merktest du, wie du mit dem Mond zu- und abnahmst und wie deine Zeit an einem bestimmten Punkt im Mondzyklus kam.

Naomi wusste, dass die Mädchen andauernd über Regeln redeten und über die Mollen und das Monatliche, aber sie nahm sich vor, kein Wort zu sagen. Sonst machten sie sich wieder über sie lustig, oder die gemeine Joyce erzählte es den Jungens, und dann schämte sie sich zu Tode. Sie stopfte sich Toilettenpapier in ihr Höschen und ging sehr vorsichtig zu ihrer nächsten Stunde.

Zu Hause schrie Tante Rose gerade Sharon an, dass die Babys sofort gewindelt werden mussten. Naomi trat von einem Fuß auf den andern und wartete, bis sie mit Tante Rose reden konnte, aber als Tante Rose von ihr Notiz nahm, war es nur, um sie loszuschicken, in der Bäckerei Pumpernickel und im Milchladen vier Liter Vollmilch zu holen.

Schließlich kam Ruthie für ein hastiges Abendbrot nach Hause und wechselte die weiße Bluse und den dunklen Rock, die sie zur Arbeit tragen musste, gegen andere Kleider. Ruthie hatte drei solche Blusen und zwei solche Röcke, die sie ständig wusch und bügelte. Sie bewahrte sie im Kleiderschrank, den sie sich teilten, ganz rechts auf, denn sie wurden nie zu anderer Gelegenheit getragen. Naomi ging achtsam damit um und passte auf, sie nicht zu verknittern, wenn sie etwas im Kleiderschrank suchte. Ruthie hatte eine knappe Stunde, bevor sie zum Abendkurs losmusste.

Naomi fing Ruthie in ihrem gemeinsamen Zimmer ab, sobald es ging. »Ruthie. Mir ist heute was passiert.«

»Was Gutes oder was Schlechtes?«

»Ich weiß nicht.« Naomi zuckte verlegen die Achseln. Die Frage verstörte sie. War das Blut eine Bestrafung oder ein Passierschein in die Freiheit der Erwachsenen?

»Wenn du es nicht weißt, wer dann?« Ruthie grub in den Tiefen des Kleiderschranks. »Es wird Zeit, wieder Baumwollsachen zu tragen. An so einem Tag muss ich nun in der Stube hocken!«

»In meinem Höschen ist Blut.« Naomi hockte unglücklich auf der äußersten Kante von Ruthies Bett. »Wie heißt das auf Englisch? Meine Regeln.«

»Deine Regel. Tatsächlich? Hat dir Mame eine Binde gegeben?«

»Ich hab’s ihr noch nicht gesagt.«

»Du brauchst einen Bindengürtel und eine Binde.« Ruthie kramte in ihrer Kommode. »Nimm erst mal meinen Gürtel. Morgen kaufe ich dir in der Stadt einen.« Ruthie strich ihr übers Haar und fragte besorgt: »Verstehst du, was das bedeutet?«

»Jetzt kann ich Babys kriegen.«

Ruthie lachte. »Nicht von allein. Nur, wenn du mit einem Jungen ins Bett gehst, und an so was sollst du noch hundert Jahre lang nicht denken.« Damit sie die Binde anlegen konnte, ließ Ruthie sie allein, hüpfte in die Küche und summte vor sich hin.

Naomi sah nicht ein, wieso das Blut in ihrem Höschen Ruthie so beschwingte. Vielleicht, weil Ruthie Babys haben wollte, nicht bald, aber sie wollte welche. Naomi selber eigentlich nicht. Das hätte sie gern Rivka erzählt, denn früher hatte Naomi Babys so süß gefunden, dass sie stehen blieb und schwärmte, sobald sie eine Mutter einen Kinderwagen schieben sah. Rivka fand das eklig und kitschig. Aber seit sie jeden Nachmittag, sobald sie aus der Schule kam, von Babys umgeben war, bis ihre Mütter sie abholten, war sie entzaubert. Pipi und A-a, brüllen und aus Stühlen fallen und Essen auf den Boden schmeißen, so sah das aus.

Naomi liebte den Klang des Wortes entzaubert. Sie stellte sich einen Schleier vor, der weggerissen wurde. »Ich bin entzaubert«, sagte sie laut vor sich hin. Innerlich war sie jetzt eine Frau. Sie nahm sich vor, nie wieder in der Nase zu bohren und die Popel unter den Stuhl zu kleben. Zu lernen, ordentlich mit der Gabel in der rechten Hand zu essen, wie es die Amerikaner taten. Aufzuhören, heimlich Murrays Briefe aus der Schublade mit Ruthies Unterwäsche zu holen und zu lesen. Jetzt, wo sie eine Frau war, durfte sie sich nicht mehr wie ein Kind benehmen. Alles, was sie tat, zählte jetzt, und sie musste anfangen, sich richtig und tapfer zu benehmen und bien rangée zu sein.

Sie saß auf Ruthies Bettkante und übte, wie eine reife Frau sitzt. Die Binde drückte zwischen den Beinen. Sie fragte sich, wie sie damit rennen sollte, ohne sich wundzuscheuern. Sie betrachtete ihr Gesicht in dem kleinen Spiegel über der Kommode, die sie mit Ruthie teilte. Sie versuchte sich an Schlafzimmerblicken, wie die Frauen in den Filmen sie den Männern zuwarfen. Es fiel ihr immer noch schwer, alles mitzubekommen, was sie sagten. Dann kniff sie das rechte Auge zu, machte ihr linkes groß und rund und fletschte die Zähne, aber nur auf einer Seite. Das war ihr bestes Hexengesicht. Rivka sagte manchmal, vielleicht wurden sie Hexen, wenn sie groß waren. Das hörte sich toll an.

Hatte Rivka schon ihre Regel? Sie schloss die Augen und versuchte, ihre Zwillingsschwester zu fühlen, aber es gelang ihr nicht. Sechs Uhr. Dann war es Mitternacht in Paris, und Rivka schlief schon. Es wäre so schön, wenn sie mit Rivka reden könnte: Dann wüsste sie, ob sie glücklich war oder unzufrieden. Wenn du eine Zwillingsschwester hast, bist du nie einsam, außer, ihr seid getrennt, und dann kann niemand je verstehen, was dir fehlt, nur du selbst.

Für einen Moment überkam sie trostloser Zorn auf ihre Eltern, die sie getrennt hatten. Es hatte eigentlich nicht für lange sein sollen. Papa hatte sich einen Ausweis besorgt, der ihm erlaubte, in die Vichy-Zone zu fahren, dazu die Papiere und die carte d’identité von einem Mann mit Namen Antoine Saligny, der im Süden geschäftlich zu tun hatte. Auf dem Ausweis war auch eine Tochter eingetragen, aber nur eine. Antoine Saligny war an einem Herzschlag gestorben, kaum dass sein Ausweis genehmigt war, und Papa hatte die Papiere gekauft. Ursprünglich wollte Papa Jacqueline mitnehmen, aber die lehnte ab, weil die Prüfungen für ihr baccalauréat bevorstanden. Dann hatte Papa Naomi gewählt als die Zweitälteste – sie war eine Viertelstunde vor Rivka zur Welt gekommen.

Papa plante, in der Vichy-Zone Arbeit zu finden und dann den Rest der Familie zu holen. Das war dann aber schwieriger, als sie alle gedacht hatten. Es gab keine Telefonverbindungen zwischen den beiden Frankreichs. Die einzige Post, die sie schicken konnten, waren Postkarten, auf denen sie nur vorgedruckte Sätze ankreuzen durften. Um hin- und herzureisen, brauchte man eine Genehmigung. Die Vichy-Franzosen erließen im Eiltempo antijüdische Gesetze, um es den Nazis gleichzutun. Als Papa eine Möglichkeit sah, sie in die Vereinigten Staaten zu schicken, beschloss er, sie in Sicherheit zu bringen.

Also war Papa in Südfrankreich geblieben, während sie ganz allein nach New York flog, wo sie von einer Frau vom Joint, dem American Jewish Joint Distribution Committee, abgeholt und in den Zug nach Detroit gesetzt wurde. Sie war noch nie in ihrem Leben so unglücklich gewesen wie in den fünf Tagen in dem Flugzeug, das von Flughafen zu Flughafen flog, nach Casablanca und dann nach Martinique und dann nach New York, in dem Flugzeug, dessen Dröhnen noch zwei Tage hinterher ihren Kopf füllte. Ihr Englisch war doch nicht so gut, wie sie immer gedacht hatte, und sehr oft begriff sie nicht, was man ihr für Anweisungen gab, was man von ihr wollte.

Manchmal fühlte sie sich von ihrer Familie verstoßen. Warum musste sie es sein, von der sie sich trennten? Seit Beginn des neuen Krieges hatte sie keine Briefe mehr von Rivka und Maman bekommen. Sie hatte nur jene Augenblicke, die sie nicht heraufbeschwören, sondern nur hinnehmen konnte, in denen sie ihre Zwillingsschwester deutlich in sich spürte.

Tante Rose kam herein und gab ihr einen Kuss. »Ist gut, du bekommst von mir also keine Schläge, Ruthie verlangt von mir, dass ich modern und amerikanisch bin. Aber sei du jetzt ein gutes Mädchen.« Rose kniff ihr in die Wangen mit ihren schwieligen, vom Wasser verquollenen Händen, die nach Zwiebeln rochen. »Sei ein gutes Mädchen, uns zuliebe und deiner Mutter zuliebe, meiner lieben Schwester Chava, die immer an dich denkt, das weiß ich.«

Naomi nickte verlegen. Was sollte all das heftige Gewünsche, sie möge ein gutes Mädchen sein? Fing G-tt an zu zählen, wenn du deine erste Regel hattest? Vielleicht nahm G-tt dir ja alles, was du bis dahin getan hattest, nicht übel, aber von da an zählte es, jeder Gedanke und jede Tat und jede ausgeübte oder unterlassene mizwe. Sie empfand Bestürzung angesichts der Aussicht, wirklich gut sein zu müssen. Sie wechselte absichtlich das Thema. »Hat meine Mutter Chava im gleichen Alter angefangen wie ich?«

»Du bist zwölf, richtig? Ja, im gleichen Alter. Chava war da schon hübsch und ein helles Köpfchen. Ich war die Vernünftige, ich musste auf die Kleinen aufpassen. Deine Tante Batya war die Verdrehteste, am meisten hinter den Jungens her. Esther, die war noch ein kleines Kind, als ich fortging. Sie ist die, die sich gut verheiratet hat. Esther und Batya haben beide Balabans geheiratet, auch aus Kozienice, aber Batya hat den hübschen Jungen ohne Verstand geheiratet und Esther den mit der Mühle, und sie führt ihm die Bücher.«

Naomi liebte es, wenn Tante Rose von den Schwestern erzählte. Das machte die Familienbande lebendig, ließ Naomi spüren, dass sie immer noch in der gleichen Familie lebte, so verstreut über Europa und Amerika sie auch war.

Beim Abendessen, als sie sich an den Tisch setzte zu der Suppe aus Zwiebeln und Kartoffeln, zu der es das dunkle Brot gab, nach dem Tante Rose sie zum Bäcker geschickt hatte, schaute Onkel Morris sie mit solch einem Gesicht aus Wehmut und Sorge und verschmitztem Grienen an, dass sie sofort wusste, Tante Rose hatte es ihm gesagt. Am liebsten hätte sie den Löffel hingeworfen und wäre aus dem Zimmer gerannt. Was sie zurückhielt, war die Erinnerung an die vielen blöden Auftritte, die Jacqueline hingelegt hatte, wo sie meistens Maman, aber manchmal auch Papa vorwarf, gefühllos zu sein, sie nicht zu achten, sich über ihre Gedanken lustig zu machen. Rums ging der Löffel und racks ging der Stuhl, und Jacqueline rannte raus und schloss sich in die salle de bains ein. Was sie da drin trieb, blieb ihr Geheimnis. Man hörte nur heftig das Wasser laufen. Wenn sie rauskam, sah sie aus, als hätte sie eine geheime Botschaft empfangen; dann war sie sehr von sich angetan, sehr abweisend und von oben herab. Sie warf allen Blicke aus den Augenwinkeln zu, als wollte sie sagen: Ihr wisst gar nicht, wer ich bin, aber eines Tages, wenn ich Großes vollbracht habe, werdet ihr es erkennen!

Naomi beschloss, nicht so blöd zu werden wie Jacqueline. Ohne sich um die andern zu kümmern, aß sie ihre Suppe. Das Blut war nicht sonderlich beeindruckend. Sie hatte weit stärker aus der Nase geblutet, oder auch Rivka, als sie ihre Namen in eine Kastanie einritzten und das Messer abrutschte. Doch da alle ihr immer wieder verstohlene Blicke zuwarfen, sagte sie schließlich: »Ich möchte gern etwas wissen.«

»Was denn?«, fragte Ruthie im selben Moment, in dem Onkel Morris sagte: »Bist du sicher, dass du nicht bis nach dem Abendbrot warten und deine Tante fragen willst?«

»Warum finden es alle komisch oder falsch, wenn ich mit einem farbigen Mädchen befreundet sein will? Was geht das die andern an?«

Alle in ihrer neuen Familie sahen bestürzt aus, als hätte sie nach etwas noch Peinlicherem als der Regel gefragt. »Dein Onkel Morris wird es dir erklären«, sagte Tante Rose, während Arty und Sharon Gesichter zogen, als schmeckte die Suppe nicht gut. Naomi sah schon, sie würde es nie fertigbringen, wie eine Erwachsene zu sein, auch wenn sie jetzt blutete. Onkel Morris sagte, nach dem Abendbrot würde er mit ihr reden, als hätte sie etwas Unanständiges gefragt. Sie gab auf und aß ihre Suppe. Ihr fiel ein, wenn sie in letzter Zeit Rivka fühlte, dann hatte Rivka immer Hunger.

Daniel 2
Das große purpurne Kreuzworträtsel

Daniel war immer ein begeisterter Rater des Kreuzworträtsels der New York Times gewesen. Während seiner Jahre am City College hatte er genüsslich mit seinem Vetter Seymour gewetteifert, wer es schneller löste. Der, der es zuerst heraushatte, rief den anderen an und brüstete sich. Er hatte sich jedoch nie träumen lassen, dass er sich eines Tages unter enormem Druck und mit einem Gefühl drohenden, furchtbaren Versagens Tag und Nacht mit einem gigantischen Kreuzworträtsel abmühen würde.

Natürlich war die Kryptologie – in seinem Fall die Entschlüsselung japanischer Codes – nicht das Gleiche wie das Lösen eines Kreuzworträtsels, doch manchmal fühlte es sich so an, denn alles an dem Gebäude, das sie errichteten, stand zueinander in Beziehung; wenn sie ein Partikelchen entschlüsselten, änderten sich dadurch andere, schon erratene Bausteine und wurden zu Gewissheiten oder Fehlern.

Im Frühjahr, als einige aus seinem Japanischkurs nach Washington abkommandiert wurden, stellte sich Daniel die Frage, was man wohl mit ihm anfangen würde. Er malte sich aus, auf einem Tropeneiland Kriegsgefangene zu verhören. Ob man ihn direkt nach Übersee schickte? Er gehörte zum zweiten Trupp der Dienstverpflichteten. Am College hatte er befriedigende Noten gehabt und sich selten zu Höchstleistungen angestachelt gefühlt. Hier dagegen hatte er Lehrgangskameraden überflügelt, die seit Jahren Japanisch lernten. Er hatte sich nie für dumm gehalten, aber auch nicht für hochbegabt. Sein Vetter Seymour war der Intellektuelle und sein Bruder Haskel der Einser-Student. Nun begegnete er sich selbst mit neuem Respekt vor seiner Intelligenz.

Dann kam plötzlich aus heiterem Himmel der Marschbefehl zur Sektion 20-G, wo er eiligst und mit wütendem Druck von oben auf die Kryptologie angesetzt wurde. Das erinnerte ihn daran, wie Haskel ihm das Schwimmen beibringen wollte, indem er ihn im YMCA vom Rand des Beckens schubste. Er wurde in tiefes und kabbeliges Wasser geworfen, inmitten eines tosenden Sturms unbegreiflicher Direktiven. Doch irgendwie lernte er. Wochenlang begriff er den Zweck dieser fieberhaften Aktivitäten nicht, doch er versuchte, sich seinen Weg zu bahnen.

Anfangs fühlte sich Daniel bei Sektion 20-G in Washington fehl am Platz. Die Hälfte des Personals bestand aus Marinestabsoffizieren, den Annapolis-Absolventen, die als Teil ihrer Ausbildung einige Zeit in Japan verbracht hatten. Die andere Hälfte bestand aus Zivilisten, Männern und Frauen, deren Herkunft und Werdegang sie mit der japanischen Sprache und Kultur verband. Mehrere von ihnen waren Nisei, in den USA geborene Japaner, andere waren teilweise japanischer Abstammung oder hatten japanische Ehepartner. Daniel brachte ihnen nicht das Misstrauen gegen alles Japano-Amerikanische entgegen, das typisch für die meisten Amerikaner und sogar offizielle Regierungshaltung war. Nach der Verhaftung und Internierung von Japano-Amerikanern hatte die Marine ihre eigenen Nisei von der Westküste nach Colorado verlegen müssen, um sie zu schützen. Ohne sie wäre das Programm lahmgelegt gewesen.

Er zog in das erste Zimmer, das er in der überfüllten Stadt finden konnte, bei einer lautstarken Familie aus Kentucky, die ihm fürchterlich auf die Nerven ging. Schließlich fragte ihn ein Kollege aus seiner Abteilung, ob er sich eine winzige Wohnung draußen unweit Maryland, im dritten Straßenalphabet, mit ihm teilen wollte, weit vom Capitol und von ihrer Arbeitsstätte entfernt, aber eine Wohnung nur für ihn und Rodney. Er sagte zu, ohne sie gesehen zu haben. Das war auch gut so, denn sie war dunkel, eng und heiß, im zweiten Stock direkt unter dem Dach, ohne Fahrstuhl und mit einer Aussicht aufs nächste Dach, die reichliches Anschauungsmaterial zum Paarungsverhalten von Tauben lieferte.

Sie hatten nur zwei Zimmer und eine winzige Küche. Rodney, der die Wohnung aufgetrieben hatte, beanspruchte das Schlafzimmer. Daniel bekam das Schrankbett im Wohnzimmer. Er fühlte sich wie zu Hause, denn sein Bett in der Bronx war genauso eine Zumutung gewesen. Er beschloss, das Bett in seinem Schrank zu lassen und auf einer Matratze auf dem Fußboden zu schlafen. So bestand eine Ecke ihres Wohnzimmers aus seiner Matratze mit einem Haufen zusammengewürfelter Kissen, darunter auch seine Kopfstütze aus geflochtenem Bambus in Form eines Löwen, die er seit Schanghai immer auf seinem Bett gehabt hatte. Darüber hängte er die Schriftrolle, die er mit Hilfe eines Freundes in Soochow erhandelt hatte. »Wie eine Künstlerbude«, grummelte Rodney, aber da er das Schlafzimmer nicht abtreten mochte, blieb es bei diesem Patt. Rodney sprach kaum mit Daniel außer in betrunkenem Zustand, dann schwafelte er endlos über seine Probleme beim Verführen von Frauen.

Washington war kein gigantisches, kosmopolitisches Bienenhaus wie New York und Schanghai, kein Zentrum intellektuellen Lebens wie Boston. Es war eine wuchernde Südstaatenstadt, die sich im halben Tempo von New York bewegte. Viele der jüngeren Männer und Frauen gingen barhäuptig, wohingegen in New York alle Hüte trugen. Es gab in der ganzen Stadt nicht einen Wolkenkratzer. Alles war nach Rassen getrennt und für Farbige und Weiße gekennzeichnet. Ihm kam das nicht nur rüde, sondern töricht vor, dicht an hysterischem Verhalten. Die farbige Bevölkerung von Washington war groß und schien recht heterogen, obwohl nahezu durchgängig in elenden Wohnverhältnissen lebend, viele in sogenannten Hinterhofhäusern, die hinter den eigentlichen Häusern in wimmelnden Pferchen standen und ihn an die zwielichtigen Viertel von Schanghai erinnerten.

Jeden Tag fuhr er mit der Straßenbahn zum Marinegebäude an der Achtzehnten Straße Ecke Constitution Avenue, ging an den Marinewachen vorbei hinauf zum dritten Deck – als Erstes hatte er hier lernen müssen, Stockwerke Decks zu nennen, Wände Schotten und anderen Marineunsinn – und begab sich in die Abteilung für feindliche Funksprüche. Sektion 20-G war kein stiller Winkel intensiven Studiums, keine glückliche Familie, kein Ort, an dem man willkommen geheißen wurde und als fröhliches Rädchen im großen Getriebe seinen Platz angewiesen bekam. Es war ein Irrenhaus. Mitarbeiter, die schon vor dem Krieg dabei gewesen waren, schienen von dem Schuldbewusstsein geplagt, dass Pearl Harbour zum großen Teil eine Marinepanne und somit eine Panne der Marineabwehr gewesen sei. Sie arbeiteten wie besessen. Ihr Chef brüllte, tobte, trieb sie an und wachte ständig darüber, dass jedes Gespräch sich auf die Arbeit bezog und nur auf die Arbeit. In einer Ecke saß der frühere Sektionsleiter, und Pearl Harbour hing ihm am Hals wie der tote Albatros dem Alten Seemann. Niemand würdigte ihn eines Blickes, und er schien wenig zu tun zu haben außer einem endlosen Autopsiebericht.

Daniel hatte keine Ahnung, wie er dazu kam, Verbindungsmann, ein vornehmeres Wort für Botenjunge, zu William Friedman zu werden, aber die vorige Kontaktperson war zum Marinenachrichtendienst in Pearl Harbour versetzt worden, wo es eine weitere Kryptologieabteilung gab. Niemand erklärte ihm das. Und niemand erklärte ihm, woran sie arbeiteten, nämlich an japanischen Geheimcodes. Die Sektion schien nach den gleichen Grundsätzen zu arbeiten, nach denen in Boston Straßenschilder errichtet wurden: als Zeichen für die, die sich schon auskannten, und mit deutlichem Misstrauen Fremden gegenüber, mit der eingefleischten Überzeugung, wer nicht schon wusste, wo er war, hatte dort auch nichts zu suchen.

William Friedman stand dem Sicherheitsamt der Fernmeldetruppe vor, gleich nebenan auf der Mall in einem weiteren Labyrinth namens Zeughaus oben im dritten Stock – wo Stockwerke Stockwerke waren. Daniel ging gern hinüber. Friedman war eine Vaterfigur, nicht nur für ihn, sondern auch für seinen eigenen Stab. Er war kein gemütvoller Vater, sondern ein kühler, unnahbarer, allwissender Vater, der sorgfältig auf die Schulung seines Personals achtete. Sein Schreibtisch und sein Kopf schienen stets aufgeräumt. Daniel fand die Atmosphäre in seinem Amt erfrischend und beruhigend zugleich. Hier wurde genauso hart gearbeitet wie bei der Marine, aber die Atmosphäre war klar, vernünftig und freundlich.

Friedman war ein kleiner, gepflegter, adretter Mann, Träger von Gamaschen, eleganten dreiteiligen Maßanzügen, von Schuhen, die nicht blankpoliert blitzten, denn dafür war das Leder zu weich und zu fein, sondern von innen heraus warm schimmerten wie altes Geld. Doch Friedman war Jude. Er war in Kischinjow, nun Sowjetunion, geboren worden und als Kleinkind ausgewandert. Er sprach ohne Akzent bis auf eine bestimmte O-Färbung, die Daniel mit Pittsburgh verband. Friedman war ein Genie. Das Vokabular, in dem Daniels neuer Beruf sich ausdrückte, war von Friedman persönlich geprägt worden, bis hinunter zu der Bezeichnung, die seine Tätigkeit beschrieb: Kryptologe.

Friedman hatte eine Frau, Elizebeth, die in dem Metier, das diese beiden zu großen Teilen erfunden hatten, fast den gleichen Ruf genoss wie er. Beide waren seit den zwanziger Jahren in Washington und ersannen Codes für die meisten Regierungsinstitutionen, die welche benötigten, von der Armee bis zum Finanzministerium, von der Küstenwache bis zu Oberst Donovans verwegenem Geheimdienstunternehmen. Sie hatten auch Codes entschlüsselt und waren als Sachverständige in zahlreichen Prozessen aufgetreten. Es hieß, Friedman sei seiner Frau innig verbunden, regelrecht verrückt nach ihr. Kein Hauch von Skandal hatte je ihre Beziehung getrübt. Aber Friedman war vor Pearl Harbour aus der Armee entlassen worden und nun Zivilist. Es hieß, die Anstrengung, den diplomatischen Code der Japaner, genannt Purpur, zu knacken, habe bei ihm zu einem Nervenzusammenbruch geführt, und die Armee hätte diesen Augenblick gewählt, um ihn für seine Extravaganz zu bestrafen. Was es auch war, Friedman umwehte ein Hauch von Trauer, dachte Daniel, als hätte er zu viel gesehen – eine philosophische Traurigkeit unter der strengen und nie versiegenden Brillanz des Intellekts.

Friedman hatte ihn bei seinem ersten Botengang scharf gemustert, ein wissender Blick, der, wie Daniel vermutete, damit zu tun hatte, dass die Marine einen der wenigen verfügbaren Juden zu ihm geschickt hatte. Dann schien Friedman im Geiste mehrere Schritte rückwärts gemacht zu haben und Daniel bei den nächsten Begegnungen unvoreingenommen zu betrachten. Schließlich brachte er ihm Interesse entgegen: nicht unbedingt ein freundliches, obwohl schon in dieser Beachtung eine Art Freundlichkeit lag. Friedman war ein Mann, der Förmlichkeit als Waffe benutzte, da er sich in diesem militärischen Milieu oft schützen musste. Judenverhöhnung und Antisemitismus grassierten in Washington. Daniel fragte sich manchmal, ob nur die geringe Zahl der ortsansässigen Juden die Stadt davon abhielt, eine dritte Kategorie von Toiletten und Schulen einzurichten.

Es wurde Ende April, bis er zu verstehen begann, was sie da eigentlich taten, auch wenn ihm schon aufgefallen war, wie Washington sich um ihn herum veränderte, vor Uniformen starrte, das Gewusel auf den Straßen plötzlich um Jahre verjüngt. Niemand setzte ihn ins Bild; es schien zur Politik des Hauses zu gehören, ihn im Dunkeln tappen zu lassen. Er musste sich die Bedeutung seiner Arbeit ganz allein zusammenbuchstabieren, so wie er die Bedeutung der teilweise entzifferten Funksprüche vollständig entschlüsseln und übersetzen musste.

Die Japaner benutzten eine Maschine für ihre Codierung, eine Maschine mit vielen Läufern oder Rotoren. Niemand von ihnen hatte diese Maschine je gesehen. Die Arbeit der Feindnachrichtenabteilung bestand darin, Radiosignale aus dem Äther zu pflücken und niederzuschreiben. Friedmans Gruppe war es gelungen, Ende des Sommers 1940 eine funktionierende Nachbildung der Purpur-Maschine zu konstruieren und den Code teilweise zu entschlüsseln. Purpur war nur einer von vielen Codes. Japans Armee und Marine benutzten eine Vielzahl weiterer Codes, die ebenfalls entschlüsselt werden mussten. Purpur jedoch war der Code aller diplomatischen Vertretungen, eine Fundgrube an Informationen über Japans Ziele und Gedankengänge und Beobachtungen weltweit. Die Marine und die Armee hatten in täglichem Wechsel an der Purpurentzifferung gearbeitet und dann ihre Ergebnisse abgeglichen. Daniel verbrachte seine Arbeitstage damit, Buchstabenklumpen wie diese anzustarren:

Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
1360 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783867548724
Telif hakkı:
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