Ein Bruder lebenslänglich

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Ein Bruder lebenslänglich
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Über dieses Buch

Im Jahr 1952 erkrankte der Bruder von Margrith Lin an einer tuberkulösen Meningitis, er war zweieinhalb Jahre alt. Bereits totgesagt, überlebte er seine schwere Krankheit, und nach zwei Jahren Spital- und Kuraufenthalt ­kehrte der Bruder wieder nach Hause zurück: «körperlich ­geheilt dank neuzeitlichen Heil­mitteln», wie es im Aus­tritts­bericht des Arztes hiess. Über seine geistigen und seelischen Schädigungen wurden die Eltern nicht informiert.

Margrith Lin erzählt die Lebensgeschichte ihres Bruders und gleichzeitig ihre eigene Geschichte als Schwester dieses Bruders. Sie erzählt von der Kindheit in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, vom Familienalltag, von Prägungen auch für den eigenen Werdegang, von der Verantwortung, die den Angehörigen ein Leben lang bleibt. Margrith Lin erzählt aber auch von den Erfahrungen mit Behörden und Institutionen und damit vom Wandel in der Einstellung gegenüber Menschen mit einer Behinderung während der letzten siebzig Jahre.

«Ein Bruder lebenslänglich» ist ein zärtlicher Erfahrungs­bericht und ein wichtiges sozialgeschichtliches Dokument zugleich.

«Das Buch stellt für professionell Tätige und sozial­­historisch Interessierte eine wichtige Dokumentation dar.» Dr. Hedwig Stauffer-Stiftung


Foto Luzius Wespe, Voltafilm

Prof. em. Dr. Margrith Lin, geboren 1947, Primarlehrerin, Heil­pä­da­gogin / Logopädin und Psychologin, verschiedene Weiterbildungen in Individual- sowie Systemtherapie. Lehrtätigkeit in Ausbildungsstätten für soziale, pädagogische und therapeutische Berufe, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Heilpädagogischen ­Institut (HPI) der Universität Fribourg und Professorin im Fach­bereich «Heteroge­ni­tät und Heilpädagogik» an der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz (PHZ). Aus ihrer langjährigen Beratungstätigkeit in einem Heilpädagogischen Dienst entstanden verschiedene Publikationen zur Beratung von Familien aus unterschied­lichen Lebenswelten und zur sprachlichen Sozialisation.

Margrith Lin

Ein Bruder lebenslänglich

Vom Leben mit einem behinderten Geschwister

Limmat Verlag

Zürich

Diesem Buch geht es nicht um persönliche Anklagen, sondern um Anre­gungen zur kritischen Reflexion im Umgang mit Menschen mit einer ­Behinderung und deren Angehörigen. Deshalb sind alle Personen, Orte und ­Institutionen ­anonymisiert. Diesbezügliche Dokumente und persönliche ­Zitate sind entsprechend formal verändert.

Die zitierten Gutachten, Berichte, Zeitungsausschnitte, Broschüren, ­Briefe und E-Mails stammen aus dem Dossier, welches die Eltern von ihrem Sohn angelegt hatten und das später von der ältesten Schwester in ihrer ­Funktion als Beiständin weitergeführt worden ist.

Auf steiler Strasse traf ich jüngst ein Mädchen, ­

das seinen ­kleinen Bruder auf dem Rücken trug.

«O weh», sagte ich, «du armes Kind,

da trägst du aber eine schwere Last!»

Darauf sah mich das Mädchen

verwundert an und sprach: «Ich trage

keine Last, ich trage meinen Bruder.»

Unbekannter Autor

«Ich habe das nicht gesucht, nehme bloss

­meine ­Verantwortung als Schwester

wahr, und ich will es ­nochmals ­sagen:

Ich trug ­zuweilen schwer daran.»

Erica Brühlmann-Jecklin,

Brief an meinen Bruder Walter

Prolog
Diesmal ist es anders

Die Barockkirche ist nicht von feierlicher Orgelmusik erfüllt, sondern vorne im Chor bringen zwei volkstümlich gekleidete Akkordeonisten Leben in die heiligen Hallen. Auffällig die knallrot lackierten Fingernägel der klein gewachsenen Frau, welche sich von den lüpfigen Klängen mitreissen lässt. Sie zwängt sich durch die Bankreihen und schreitet im Rhythmus der Musik das Kirchenschiff ab, pausenlos auf und ab. Nebenan wirft eine Greisin ihre Puppe zum hundertsten Mal zu Boden. Diese wird von hilfreichen Händen immer wieder aufgehoben und ihr in den Schoss gelegt. Ein endloses Spiel.

Ein behelmter Junge richtet sich kreischend in seinem Rollstuhl auf und klatscht lautstark in die Hände. Ein Ausdruck ungezähmter Freude? Gilt das wohl auch für den Mann, der fortwährend seinen Pullover hochzieht, seinen nackten Bauch zur Schau stellt und dazu grunzende Laute von sich gibt? Eine Gestalt mit einem riesigen Kropf, fast so gross wie ihr Kopf, hastet am Altar vorbei.

Diese hier versammelten Geschöpfe beelenden mich, schnüren mir das Herz zusammen. Ich bin als Angehörige eingeladen. Neben mir ist mein Bruder, auch er rastlos, im Sekundentakt wiederholt er die gleichen Fragen. Er ist neu und kennt dieses Fest noch nicht.

Tränen schiessen mir in die Augen. Doch die fröhliche Stimmung rundherum nimmt mich mit und lullt mich ein, ein calderonisches Welttheater, alle hier Versammelten spielen ihre Lebensrolle, und ich bin mittendrin in diesem grossen Spektakel. Dazu passt die barocke Kulisse der Klosterkirche vortrefflich. Wir sind alle in diesem Spiel gefangen, spielen die uns vom Schöpfer und Meister zugeteilten Rollen so, wie es unsere Lebensumstände bedingen.

«Ich selbst verteile die Rollen

Nach eines jeglichen Natur und Richtung. (…)

Und nun ans Werk! Derweilen ich dirigiere,

Sei du die Bühne und der Mensch agiere.»

Pedro Calderon, Das grosse Welttheater

«Ich habe das nicht gesucht, nehme nur ­meine Verantwortung als Schwester wahr …»

Auch ich könnte mit diesen Worten ­meine Geschichte als Schwester eines behinderten Bruders beginnen.

Frühe Kindheit 1950–1959

Meine frühesten Erinnerungen
Die Pilgerreise nach Rom

Ein Sonnenstrahl fällt durch das vergitterte Fenster. Moosgrüne Wände, ein säuerlich muffiger Geruch, das Ablaufrohr entlang krabbelt eine dünnbeinige Spinne. Ängstlich kauere ich auf dem feuchtklebrigen Linoleumboden. Ich habe aufgehört zu weinen. Es ist plötzlich ganz still, nur die Wasserspülung plätschert leise. Da dreht sich der Schlüssel, und Tante Gret steckt ihren Kopf durch den Türspalt: «Willst du nun brav sein?» Sie öffnet die Toilettentür und schickt mich nach oben, meine inzwischen kalt gewordene Milch auszutrinken.

Ich klammere mich an das Treppengeländer und klettere leise schluchzend die knarrenden Stufen hoch. Oben erwartet mich Maria. Die abgestandene Milch hat eine dünne Haut gebildet, die eklig am Tassenrand klebt. Maria wäscht mir das tränenverschmierte Gesicht, putzt mir die Milchpelle von den Mundwinkeln, kämmt mir die zerzausten Haarsträhnen aus dem Gesicht. «Und kämmt sie mir das Haar, so rupft sie mir ein paar – aber du lieb Mütterlein du, bandest noch bunte Schleifen dazu …»

Ich mag Marias Lied, seinen Inhalt begreife ich erst später. Es ist das Lied eines kleinen Mädchens, welches am Grab seiner Mutter über seine Stiefmutter klagt.

Ich schlucke meine Tränen runter, damit ich nicht wieder zu weinen beginne. Mama und Papa sind weg. Mich haben sie hiergelassen. Meine beiden älteren Schwestern sind auch nicht da. Sie sind in die Schule verschwunden.

Ich sehe diese Bilder deutlich vor mir, spüre die Wut im Bauch aufsteigen und ein dumpfes Gefühl von Hilflosigkeit und Traurigkeit beschleicht mich noch immer. Ob ich mich wirklich noch erinnern kann? Ich war damals zwei Jahre alt. Glaube ich nur, mich daran zu erinnern, da man mir das später so erzählt hat? Autobiografische Erinnerungen setzen erst ab dem dritten Lebensjahr oder noch später ein, sagt die Forschung.

Es ist Sonntagnachmittag. Ich schiebe Tante Gret im Rollstuhl durch den Park des Pflegeheims. Sie ist inzwischen hundertzwei Jahre alt.

«Wenn man auch früher strenger war mit den Kindern, so hat das ihnen nicht geschadet», ist sie der festen Überzeugung. «Als deine Eltern damals nach Rom verreisten, bist du ihnen nachgelaufen und hast so gezwängelt, dass ich dich packte und in die Toilette einschloss. Ich sagte dir, dass du erst wieder rauskommen dürftest, wenn du aufgehört hast zu heulen. – Du hast nachher nie mehr nach deiner Mutter gefragt.» Es scheint mir, als ob ich einen kleinen Triumph in ihrer Stimme höre – ein Triumph, dass ich nicht mehr nach meiner Mutter fragte?

Ich musste mit ansehen, wie meine Eltern weggingen. Mein Einwand, dass ich darüber wohl verzweifelt war, macht sie ratlos. «Was hätte ich denn sonst tun können? – In der Ausbildung wurde uns verboten, Kinder zu schlagen, Freiheitsberaubung hingegen war erlaubt.»

Tante Gret ist die einzige Schwester des Vaters. Sie war in der prestigeträchtigen Pouponnière in Genf als Nurse zur Kinderbetreuung in vornehmen Familien ausgebildet worden. Solche Stellen gab es aber vor allem im Ausland. So wurde sie von ihrer Ausbildungsstätte nach Frankreich an adlige Familien vermittelt. Es war ihre Aufgabe, kleine «Prinzen» aufzuziehen und zu erziehen. Ich erinnere mich an Erzählungen von alten Schlössern mit gigantischen Waffensälen und furchteinflössenden Fledermäusen. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, kehrte Tante Gret in die Schweiz zurück.

Plötzlich waren die Eltern wieder da. Sie waren in Rom gewesen und hatten den Papst besucht. So hatte man es mir erzählt. Das musste etwas ganz Besonderes gewesen sein, das war augenscheinlich. Im Elternschlafzimmer hing von nun an ein grosses Foto mit einem streng dreinblickenden Mann an der Wand. Es war Pius XII. Es gibt von damals auch ein Foto einer grossen Reisegruppe vor dem Petersdom. Wenn man ganz genau hinschaut, sind auch Mama und Papa darauf zu sehen, Mama in der Landestracht, daneben ein freundlich dreinblickender älterer Mann mit Bart und Glatze, Mamas Vater. Er war früher Chefbeamter bei der Bahn und organisierte nach seiner Pensionierung Pilgerzüge nach Rom und auch nach Lourdes. Nach Lourdes wollte die Mutter ihn nie begleiten. Diese Art von Frömmigkeit mochte sie nicht, vor allem das Rosenkranzbeten war ihr zu langweilig.

 

Nach ihrer Heimkehr war Mama oft müde und musste viel liegen. Unter dem Bild des Papstes im Elternschlafzimmer stand auf einmal mein Kinderbettchen. Wir Mädchen schliefen zu dritt in einem Zimmer. Für mich wurde dort nun ein anderes Bett hineingestellt. Es stammte aus Mutters Familie und hatte bereits Kinder mehrerer Generationen in ihre Traumwelten begleitet.

Wenn wir abends schnell im Bett waren, so setzte sich Mama zu uns und las noch etwas vor. Wie liebten wir die Geschichte von Heidi und dem Alpöhi! Bis heute gilt für mich das kleine Mädchen mit dem schwarzen Kraushaar aus dem damals bekannten Silva-Band, den man durch Punktesammeln erwerben konnte, als das richtige Heidi. Spätere Bilder und Filme konnten nicht an diesem Bild des Ur-Heidis rütteln.

Das Leben auf der Alp war uns Kindern vertraut, verbrachten wir doch manchen Sommer in den Bergen. Wir amüsierten uns köstlich, wie dämlich sich die gestrenge Erzieherin Rottenmeier aus Frankfurt auf der Alp anstellte.

Die Bilder von den finster dreinblickenden «Hottentotten» – imaginären Gestalten aus der Zeit der schwarzen Pädagogik, welche den Geissenpeter zum Lesenlernen anspornen sollten – verfolgten mich bis in die Träume.

Auch Madam Rottenmeier liess mich nicht mehr los – sie, die davon überzeugt war, dass man bei Heidi «in jedem Punkt der menschlichen Erziehung mit dem Uranfang beginnen müsse», war selbst jedoch vom Alltag in Heidis Bergen total überfordert. So kam es, dass ich später als Erwachsene den Begriff «Madam-Rottenmeier-Syndrom» kreierte. Er meint die hehren Bemühungen einer Erziehungsperson, Kindern aus ihr fremden Lebenswelten das «richtige Verhalten» beizubringen, ohne dabei zu erkennen, welch reichen Erfahrungsschatz diese Kinder aus ihrem früheren Leben mitbringen.

Vor allem aber erinnere ich mich an die Geschichte von der «Familie Pfäffling», eine tugendhafte, kinderreiche, deutsche Familie. Die Geldsorgen: Es mussten sieben Mäuler gestopft werden, Krankheiten: Eines der Kinder drohte durch eine Ohrenentzündung taub zu werden – aber auch, wie die Festtage wie Weihnachten gefeiert wurden, all das kam mir aus unserem Leben so bekannt vor. Mit dieser Familie konnte ich mich identifizieren. Insbesondere dem kleinen Elschen fühlte ich mich verbunden, welches für viele Aktivi­täten der älteren Geschwister noch zu klein war und stillhalten musste, während diese ihre Hausaufgaben machten.

Später las uns die Mutter keine Geschichten mehr vor. Es blieb keine Zeit mehr dazu.

Unsere Grossfamilie

Wir lebten in einem alten Haus, das Platz für mehrere Familien bot. Das Haus lag am Stadtrand neben einem kleinen Wald. Unser Grossvater väterlicherseits kaufte dieses Haus in den Zwanzigerjahren. Grossmutter erfuhr erst davon, als der Handel perfekt war. Dann zog Grossvater mit seiner Familie dort ein. Zur Familie gehörten neben der Grossmutter fünf Kinder, vier Buben und ein Mädchen, die Tante Gret.

Unser Vater war der älteste Sohn. Er wurde nach seinem Vater getauft und trug seinen Vornamen bereits in der dritten Generation.

Der zweite Sohn, Josef, verstarb schon im Jugendalter an der Spanischen Grippe. Er klagte über Unwohlsein und war einige Tage bettlägerig. Dann habe er sich plötzlich an den Kopf zu schlagen ­begonnen und vor Schmerzen aufgeschrien, erzählte mir die Tante. Als der Doktor kam, war der Junge bereits tot. Später erfuhr ich von meinem Vater, dass sein Bruder einige Tage zuvor beim Schlittschuhlaufen auf den Hinterkopf gestürzt sei und für kurze Zeit bewusstlos war. Die Geschwister hatten sich jedoch nicht getraut, zu Hause etwas davon zu erzählen. War es vielleicht gar nicht die Spanische Grippe, sondern eine Gehirnblutung, welche den Bruder umbrachte? Ich frage mich, wie die Brüder – vor allem mein Vater als Ältester – dieses Wissen und vielleicht auch die Schuldgefühle so viele Jahre mit sich herumtragen konnten. Der verstorbene Bruder hätte Missionar werden wollen. Die beiden jüngeren Brüder wurden später zu katholischen Priestern geweiht.

Grossmutter trug seit dieser Zeit nur noch Schwarz. Wenn sie von ihrem verstorbenen Sohn sprach, so sagte sie immer Josefli «selig». Da sie auch von ihrer früh verstorbenen Schwester vom Bethli ­«selig» sprach, meinte ich, «Selig» sei ein Familienname und die «Seligs» eine befreundete Familie.

Seit dem Tod von Josefli war Grossmutter ängstlich um die Gesundheit ihrer drei anderen Söhne besorgt, wohl nicht ganz unbegründet, wie sich später herausstellte.

Tante Gret nahm als einziges Mädchen unter vier Brüdern eine besondere Stellung ein – jedoch nicht etwa eine bevorzugte, ganz im Gegenteil –, wie sie mir einmal erzählte. Obwohl das wildeste der Kinder, wurde sie von der Mutter angehalten, im Haushalt zu helfen oder Handarbeiten zu machen, so wie es sich für ein Mädchen gehörte. Währenddessen konnten ihre Brüder draussen herumtollen. Von diesen bekam sie immer wieder zu spüren, dass Mädchen minderwertig seien. Frauen würden nicht in den Himmel kommen, prophezeiten sie ihr. Später relativierten sie, die Frauen müssten sich jedoch sehr anstrengen, um dorthin zu gelangen. Es war der Kaplan, der den Jungen im geschwisterlichen Streit Schützenhilfe bot, wenn er sich von der Kanzel herab über die immer heulenden Mädchen lustig machte und sich theatralisch mit dem Zipfel seines Chorrocks über die Augen fuhr. Diese Erfahrungen mögen mit ein Grund gewesen sein, dass Tante Gret nie heiratete.

Kurz vor meiner Geburt übersiedelten unsere Eltern ins väterliche Elternhaus. Das war nicht so geplant gewesen. Nach ihrer Hochzeit beabsichtigte das junge Paar, eigenständig zu leben. Es mietete seine erste Wohnung in sicherer Distanz zu den beiden Herkunfts­familien. Hier kamen meine beiden älteren Schwestern zur Welt. Es war aber damals in den Kriegsjahren schwierig, eine passende und zahlbare Wohnung für die grösser werdende Familie zu finden. Dazu gab es Probleme mit dem Vermieter. So waren die Eltern schlussendlich doch froh, dass ihnen im väterlichen Haus Unterschlupf ­gewährt wurde. Ich war ein Jahr alt, als der Grossvater starb. Unsere Grossmutter lebte danach allein im Erdgeschoss. Als Tante Gret für einige Zeit krank war, wohnte sie wieder bei der Grossmutter. Wohl, weil Tante Gret keine eigenen Kinder hatte, betrachtete sie uns auch ein wenig als die ihren, für deren Erziehung sie sich mitverantwortlich fühlte. Als ausgebildete Kinderschwester war sie dafür geradezu prädestiniert. So kam es, dass sie gelegentlich erzieherisch übergriffig wurde, was meine Mutter stillschweigend hinnahm, obwohl sie sehr darunter litt.

Im Untergeschoss des Hauses wohnte Onkel Emil, der Stiefbruder des Grossvaters, mit seiner Familie. Er war um einige Jahre jünger als Grossvater. Der Grossvater nahm seinen Stiefbruder in sein Haus auf, als dessen Frau an Krebs erkrankt war. Sie verstarb bald nach der Geburt des jüngsten Sohnes. Der Onkel musste nun allein mit vier kleinen Buben zurechtkommen. In dem Betrieb, wo er als Magaziner und Chauffeur arbeitete, fand er eine um zwanzig Jahre ältere Kollegin, welche ihm eine gute Ehefrau und den vier Waisenknaben eine hingebende Mutter wurde. Auch wir liebten diese Tante wegen ihres herzlichen Lachens, vor allem aber, weil sie für uns immer die geblümte Blechbüchse mit den Keksen bereithielt, wenn wir ihr etwas ausrichten kamen. Wir waren damals die Einzigen im Haus, die ein Telefon besassen. Oft hatte die Tante wässrige Augen in Sorge um ihren Mann, wenn er sich unterwegs verspätete. Doch wenn wir mit der ersehnten guten Nachricht bei ihr aufwarteten, strahlte sie wieder über ihr ganzes liebes Vollmondgesicht.

So lebten wir als Grossfamilie unter einem Dach. Obwohl unsere Eltern eigentlich lieber allein für sich gewohnt hätten, so wurde die Unterstützung durch die Verwandten für unsere Familie doch sehr wichtig.

Meine wichtigste Bezugsperson damals aber war unser Dienstmädchen Maria. Maria kam als junges Mädchen von vierzehn Jahren direkt nach Schulaustritt zu uns. Ihr Vater war kurz davor ganz plötzlich verstorben, und so musste Maria für die Familie mitverdienen. Während der Abwesenheit der Eltern schaute sie jeweils zu uns.

Wir haben ein Brüderchen bekommen
Der Stammhalter

Eines Morgens war Mama wieder weg. Am Mittag brachte Papa die freudige Botschaft nach Hause, dass uns der liebe Gott ein Brüderchen geschenkt habe. Ich verstand nicht, warum Mama deshalb im Spital bleiben musste. Auf meine Fragen erfuhr ich von meinen ­beiden älteren Schwestern, dass der liebe Gott die Kinder ganz nackt auf die Welt schicke. Das konnte doch nicht wahr sein! Nacktheit war verpönt, war sündhaft. So wurde es mir von meinen älteren Schwestern beigebracht, wenn ich mich beim Zubettgehen splitternackt auszog und es auch noch genoss.

Am Sonntag durften wir Mama im Spital besuchen. Sie hielt das Brüderchen in den Armen. Es war nun in ein Wolljäckchen gehüllt und in ein hellblaues Flanelltuch eingewickelt. Es sah sehr zart aus mit seinen rötlichblonden Haaren, den himmelblauen Augen und der hellen Haut, so anders als wir drei Schwestern. Ausser der Grossmutter väterlicherseits hatte niemand von uns solche Augen, und als wir den Bruder später fragten, woher er denn die schönen blauen Augen hatte, antwortete er: «Vom lieben Gott.» Wenn er lachte, hatte er zwei kleine herzige Grübchen in den Wangen, genau wie sein Patenonkel, ein jüngerer Bruder des Vaters. Wir Schwestern ­waren ganz anders, dunkelhaarig und braunäugig. Meine Haut wurde ­zudem sehr schnell dunkel, wenn ich nur ein wenig an der Sonne war. Und da ich noch einen Sprachfehler hatte und nur schwer verständlich sprach, wurde ich oft «Tschinggeli» gerufen.

Nach drei Mädchen wurde endlich der Sohn geboren. «Als glück­liche Eltern melden wir neuen Familienzuwachs», stand in der Geburtsanzeige. Ausser dem Namen liess nichts darauf schliessen, dass es nun endlich ein Junge war. Unsere Eltern wollten von der Geburt ihres Sohnes nicht so viel Aufhebens machen. Sie versicherten uns, dass es ihnen nicht drauf ankomme, ob Bub oder Mädchen: Hauptsache das Kind sei gesund.

Doch der Pöstler brachte dreimal täglich – so oft kam die Post da­­mals – eine bunte Menge von Gratulationskarten mit Sprüchen und Segenswünschen für den Stammhalter, der sich nach drei Mädchen nun endlich eingestellt hatte. «Es haben es natürlich nicht alle so schön, dass der Kronprinz gleich drei fertige Kindermädchen vorfin­det», stand auf der Karte eines Grossonkels. So war die Aufgabe von uns drei älteren Schwestern bereits vorgegeben.

Vom Glückwunsch eines Künstlers aus Wien, den die Eltern in der Nachkriegszeit mit «Liebesgaben-Paketen» unterstützten, ist mir vor allem das Bild der «Huldigung» in Erinnerung geblieben, ein fettes, in der Mitte thronendes Baby wird von den drei Schwestern und den glücklichen Eltern umtanzt. Da unser Vater der Einzige seiner Familie war, der selbst eine Familie gegründet hatte, so war unser Bruder nun der einzige männliche Nachkomme, der den Familienstamm weiterführen konnte. Er erhielt den gleichen Vornamen wie der Vater und war nun bereits in der vierten Generation Träger dieses Namens.

Bei meiner Geburt gratulierten die Leute meinen Eltern zum «Dreimädelhaus», wohl um etwas davon abzulenken, dass es wieder nur ein Mädchen war. Bereits meine Geburtsanzeige wies darauf hin, dass es nach zwei Mädchen eigentlich nun Zeit für einen Buben war. Der Vater entwarf die Anzeigen jeweils selbst nach Vorlagen, die er den beliebten Zeichenbüchlein von Hans Witzig entnahm. Auf meiner Anzeige waren zwei grössere Mädchen zu sehen, welche das jüngste Geschwister hinter sich herzogen. Es war nicht zu über­sehen, dass das jüngste Geschwister eigentlich kurze Hosen trug. Der Vater hatte diese kurzfristig in einen Rock retouchiert. Auch die Mutter war offenbar überzeugt, dass es nun ein Bub werden würde. Sie wollte mit dem Kauf der Taufkerze nicht bis zu meiner Geburt im Mai zuwarten, da sie sie unbedingt zu Maria-Lichtmess in der Kirche segnen lassen wollte. Meine Taufkerze hatte rote Verzie­rungen. So sahen damals die Kerzen für die Buben aus. Wie habe ich mich geschämt, als ich am Weissen Sonntag bei der Taufgelübde-Erneuerung – wie es von den Erstkommunionkindern verlangt wurde – eine rote Kerze hatte, eine Bubenkerze. Meine Gspänli hatten silbrige oder goldene Kerzen oder dann eine blaue Mädchenkerze.

 

Wir Kinder waren von nun an in zwei Kategorien aufgeteilt, der Bub und die Mädchen. Dass unsere Mutter uns Mädchen immer im Kollektiv ansprach, hatte wohl auch den Grund, dass sie in ihren jungen Jahren Ferienlager geleitet hatte und die Familie wie ihr privates ­Ferienlager führte.

Die Säuglingsschwester hatte unserer Mutter eingebläut, man solle den kleinen Kronprinzen ja nicht verwöhnen. Die Eltern hätten es in der Hand, ob aus einem kleinen Jungen später ein Tyrann werde. Die Mutter solle den Jungen nachts schreien lassen. Das sei gut für seine Lungen und mache stark. Und so schrie der kleine Bruder die Nächte durch. Die Mutter stellte das Kinderbettchen in die ­Stube, damit der Vater nicht gestört wurde. Er hatte ja tagsüber seinem anspruchsvollen Beruf als Revisor nachzugehen. Aber jetzt konnte die Mutter gar nicht mehr schlafen, weil sie nichts mehr von ihrem Söhnchen hörte. Ob es wohl noch atmete? Immer wieder musste sie sich vergewissern, ob es noch lebte. Sie beschloss, das Ehegemach zu verlassen und zum kleinen Schreihals in die Stube zu ziehen. Irgendeinmal hörte dann das nächtliche Schreien auf. Unser Bruder hatte sich wohl an sein neues Erdendasein gewöhnt. Davon gingen wir aus.