Kitabı oku: «Ein Bruder lebenslänglich», sayfa 3

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Der Grosshaushalt

Nun war ich also wieder hier in diesem Haus, doch Onkel Gottlieb war nicht mehr da. Er war bereits verstorben, wann und woran, habe ich nicht erfahren. Es wohnten jedoch viele andere Menschen hier. Sie waren alle etwas speziell in ihrer Art. Teils gehörten sie zur Familie, teilweise waren sie Angestellte. Es gab jedoch auch fremde Personen, die nur zur Miete hier wohnten, und im Sommer ­kamen noch Feriengäste dazu. Es gab auch Haustiere, vor allem Katzen.

Es war ein kinderloses Haus, deshalb hatte ich als kleines Mädchen eine besondere Stellung. Als Plaudertasche brachte ich etwas Abwechslung in den Alltag der Menschen, die hier lebten.

Johanna war für die Verpflegung zuständig. Neben ihrer Tätigkeit als Köchin oblag ihr die Sorge um den Gemüsegarten. Im Waisenhaus aufgewachsen, kam Johanna als junges Mädchen in das Haus und war zeitlebens der hier ansässigen Herrschaft zu Diensten. Sie gehörte quasi zum Inventar. Johanna war klein und rundlich. Ihre langen Haare hatte sie zu einem Knoten zusammenge­bunden wie damals die meisten älteren Frauen. Ihr Markenzeichen waren jedoch ihre Sandalen, welche sie jahrein jahraus trug und für die meine Schwestern den Begriff «Johannasandalen» prägten. In Johanna fand ich eine geheime Verbündete, wenn es darum ging, mich vor den frommen und gestrengen Erziehungsprinzipien der Grosstanten in Schutz zu nehmen.

Das kleine Stübchen neben der Küche war für Onkel Xaver re­ser­viert, ein weisshaariger, knochiger Mann. Er war Junggeselle. Ich fürchtete mich vor ihm, obwohl er mir gegenüber nie unfreundlich, wenn auch sehr wortkarg war. Onkel Xaver wurde von den Frauen im Haus wie ein Gott behandelt. Das Essen wurde ihm durch ein ­Türchen aus der Küche in sein Stübchen gereicht. Ich durfte sein Essgeschirr erst abräumen, wenn er nach dem Mittagsschlaf seine Stube wieder verlassen hatte.

Während Gottlieb früher als Gutsverwalter amtete, war der Aufgabenbereich von Xaver der Stall gewesen.

Der jüngere Bruder Chasper war auch auf dem Hof tätig. Onkel Chasper wohnte zusammen mit seiner Frau Luise im oberen Stock. Chasper war von hagerer Gestalt mit einer imposanten Nase. Tante Luise hatte immer ein freundliches Lachen auf ihrem Gesicht. Die beiden erinnerten mich an Chasper und seine Frau aus dem Chasper­letheater. Mit einem aus Karton gebastelten Fotoapparat machte ich immer wieder Schnappschüsse von Tante Luise, wenn sie gerade vorbeiging. Meine selbst verfertigten «Fotografien» belohnte sie mit Süssigkeiten.

Ganz zuoberst unter dem Dach lebte Frau Coulin. Sie hatte ihr fei­nes schneeweisses Haar kunstvoll zusammengesteckt. Frau ­Coulin sprach Hochdeutsch, trotz ihres französischen Namens. Sie hatte einen sprechenden Papagei und zwei wunderschöne Angorakatzen. Das alles verlieh ihr etwas Exotisches. Sie nannte mich «ihre blauen Augen», warum verstand ich nicht, denn meine Augen waren ja nicht blau, sondern braun. Frau Coulin lud mich hin und wieder zum Tee ein. Ich sollte sie mit meinen Geschichten unterhalten. Bis heute habe ich die Karte von der «Katzenschule» aufbewahrt, welche sie mir zu meiner Einschulung sandte.

Dann gab es im Erdgeschoss noch das Ehepaar Knirps, zwei kleine kugelrunde Leute, welche einen kleinen Hund besassen, der auch so kugelrund war. Als ich mich einmal nicht wohlfühlte, liess mir Herr Knirps Trauben bringen und beschwor die Grosse Tante, doch einen Arzt kommen zu lassen.

Alle diese Menschen wohnten dauerhaft in diesem ehrwür­digen Haus.

Im Sommer kamen noch einige Gäste dazu. Die Grosstanten vermieteten Fremdenzimmer an die Kurgäste. Dann mussten wir zusammenrücken. Tante Fanny hatte nicht mehr ihr eigenes Zimmer und ich nicht mehr mein eigenes Bett, sondern schlief im Gräbchen zwischen den beiden Grosstanten. Die Leute, die da aus ganz Europa kamen, waren noch interessanter als die Dauergäste. Da war der Kapellmeister, der mit dem Metermass kam, um das Bett auszumessen, weil er so gross gewachsen war. Grosstante verfügte als Einzige im Dorf über ein Bett, welches ihm passte. Die Fremdenzimmer ­waren mit Wasserkrug, Waschbecken und einem Nachttopf ausgestattet. Wenn die Gäste enttäuscht nach dem fliessenden Wasser fragten, zeigte Tante Fanny aus dem Fenster auf den See hinaus.

Im Stiegenhaus war eine Toilette für die Gäste. Wir mussten nach draussen gehen. Die Toilettenhäuschen neben dem Haus sahen aus wie kleine Kapellen. Die Kapelle auf der rechten Seite des Hauses war für die Männer bestimmt, die links für die Frauen. Im Männerklo befand sich eine WC-Schüssel aus weissem Porzellan, im Frauen­häuschen waren zwei hölzerne Plumpsklos nebeneinander aufgestellt. Sie waren wohl für Mutter und Kind gedacht, denn der eine hölzerne Thron war bedeutend niedriger als der andere. Ich wollte nie allein dorthin gehen, da ich fürchtete, ins dunkle Loch hinunterzufallen. Immer wieder erkundigten sich Kurgäste, ob sie die kleinen Kapellen besichtigen dürften. Heute zieren diese beiden Kapellen die Gartenanlage und sind denkmalgeschützt. Es weiss wohl niemand mehr, wozu sie früher dienten.

Wenn an den warmen Sommertagen die Fremden in schulterfreien Tops und sehr kurzen Shorts – oder auch sonst viel nackte Haut zur Schau stellend – an dem Hause vorbeiflanierten, fühlten sich beide Grosstanten in ihrer «Schneiderinnenehre» – aber mehr noch in ihren sittlichen Gefühlen – verletzt. «Man sollte sie mit Weiderüt­chen zwicken», ereiferte sich die Grosse Tante. Wenn es dann mehrere Tage hintereinander regnete, sahen die Grosstanten darin eine himmlische Bestrafung für die unzüchtige Kleidung der fremden Gäste. Sie überzeugten mich davon, dass schlechtes Wetter eine Strafaktion des lieben Gottes war. Ich versuchte, ihn zu besänftigen, indem ich etwas Weihwasser im Garten verspritzte.

Unheimlich war es, wenn nachts ein heftiges Gewitter tobte, der Wind durch den Kamin pfiff und schwarzes Pech aus der Feuertüre des grossen Ofens floss. Dann verbrannte die Grosse Tante Stechpalmen, welche sie zuvor am Palmsonntag in der Kirche hatte segnen lassen, um den Sturm zu besänftigen. Ich hörte einmal sagen, dass in solchen Nächten der Geist einer jungen Frau durch das Haus irre. Die Unglückliche soll sich vor vielen Jahren aus dem Fenster gestürzt haben.

In der Schneiderei

Die meiste Zeit hielt ich mich im Schneideratelier auf, wo die beiden Grosstanten mit ihren Näharbeiten beschäftigt waren. Es war eine Fundgrube an Spielmaterial: alte Stoffresten, leere Fadenspulen, Knöpfe und sonst allerlei, was in einem Schneideratelier als ­Abfall anfiel. Die Grosstanten liessen mich an ihrem Arbeitstisch spielen. Ich schaute ihnen bei ihrer Arbeit zu und kopierte ihre grossen weissen Stiche für meine Näharbeiten. «Z’fadeschloh» nannten sie dies. Ich wusste nicht, dass diese grossen Stiche nur Heftnähte waren, die man nach Fertigstellung der Naht wieder auftrennen musste. Doch die Grosse Tante spendete mir Lob für meine Arbeit: «Aus dir wird sicher einmal etwas!» Obwohl sie sonst kaum Lob verteilte, war es ihr wichtig, mir das zu sagen. Ihre Patin, bei der sie nach dem Tod der Mutter für einige Zeit wohnen musste, hätte ihr immer gesagt, dass aus ihr nichts werden würde. Als die Grosse Tante dann ihre Ausbildung zur Schneiderin abgeschlossen hatte, war der lapidare Kommentar der Patin: «Ich hätte nie gedacht, dass aus dir einmal etwas wird.»

Ich sang gerne, was offenbar den beiden Tanten gefiel. Einmal während des Arbeitens wurde ich von der Grossen Tante aufgefordert, doch wieder dieses Lied zu singen, welches ich immer wieder vor mich hinträllerte. Voll Inbrunst sang ich Marias Lied vom kleinen Mädchen, welches sich am Grab seiner Mutter über die böse Stiefmutter beklagt. Offenbar hörte mir die Grosse Tante zum ersten Mal richtig zu. Sie wurde plötzlich ärgerlich und verbot mir, dieses Lied je wieder zu singen. Ich war verwirrt. Was hatte ich denn falsch ­gemacht? Erst später begriff ich: Grossmutter und die Grosse Tante waren ja selbst bei einer Stiefmutter aufgewachsen, ihre eigene Mutter lag eines Morgens tot neben ihnen im Bett. Aus Bemerkungen von Grossmutter und der Grossen Tante musste ich schliessen, dass sie sich von ihrer Stiefmutter sehr stiefmütterlich behandelt fühlten. Die Stiefmutter hatte noch zwei eigene Kinder. Eines davon war Tante Fanny, und Tante Fanny hob immer hervor, wie gut ihre Mutter zu allen Kindern war …

Josefli

Im kleinen Haus über der Strasse wohnte der Kaminfegermeister mit seiner Familie. Zwei Töchter waren schon fast erwachsen, doch die jüngste, die kleine Martha, war nur ein Jahr älter als ich. Ich bewunderte sie, da sie schon so viel wusste. Vor allem jedoch benei­dete ich sie um ihre langen blonden Zöpfe. Martha kam oft zu mir herüber, da auch sie niemanden zum Spielen hatte. Auf der langen Holzbank vor dem Haus bauten wir gemeinsam mit Steinen, Blättern und Ästen und allem, was wir sonst noch draussen fanden, ein Haus für unsere kleinen Püppchen. Die Püppchen hatte ich vorher aus dem Abfall des Schneiderateliers zusammengebastelt. Als Gerüst für die Püppchen verwendete ich die Haarnadeln, welche die Grosse Tante nicht brauchen konnte. Mit diesen Püppchen spielten wir nun selbsterfundene Geschichten.

Wenn wir etwas laut wurden, liess mich die Grosse Tante zum Zvieri rufen, und Martha musste nach Hause gehen. Dann war der Nachmittag gelaufen, denn ich wusste, nachher war das Rosenkranzgebet angesagt. Manchmal versuchten Martha und ich, uns wegzuschleichen, oder wir waren so ruhig, dass Grosstante uns vergass. Doch das gelang nur selten. Grosstante fand, es sei besser, wenn ich drinnen mit ihr und Tante Fanny beten würde, als draussen her­umzutoben und Lärm zu machen.

Die Grosse Tante betete vor, während sie sich weiter mit ihrer Näharbeit beschäftigte. Tante Fanny und ich sollten jeweils «abnehmen», das bedeutete, mit dem zweiten Teil des «Ave Maria» zu antworten. Weil Grosstante während des Arbeitens keinen Rosenkranz halten und die Perlen zählen konnte, behalf sie sich mit einem besonderen Zählsystem. Mit «erster Chor der Engel, zweiter Chor der Engel» usw. zählte sie sich bis zum zehnten Ave Maria durch, um dann mit dem «ganzen himmlischen Hofe» ins nächste «Gesätzchen» überzuwechseln. Ich musste still dasitzen; was für eine Qual für ein fünfjähriges Kind! So konzentrierte ich mich darauf, ob Grosstante richtig zählte. Wie war ich enttäuscht, wenn sie mehrmals das gleiche «Gesätzchen» wiederholte, ohne es zu merken, und wie freute ich mich, wenn sie einige Ave Marias übersprang. Auf diese Weise gestaltete ich mir das Beten etwas unterhaltsamer und lernte dabei erst noch zählen.

Eines Morgens stand die älteste Schwester von Martha mit verweinten Augen vor der Türe und sagte knapp: «Josefli ist gestorben.» Die Grosse Tante nähte schnell drei schwarze Ärmelschürzen für die Mädchen, welche diese zum Ärger der Grosstante später nur zum Teppichklopfen anzogen. Tante Fanny pflückte mit mir im Garten eine weisse Lilie. Dann gingen wir gemeinsam zum Kaminfegerhaus. Die älteste Schwester führte uns in ein Zimmer. Dort stand mittendrin ein kleiner weisser Sarg. Darin lag ein blasser Junge. Die Augen hatte er geschlossen. Es sah aus, als ob er schlafen würde. Ein Kranz von weissen Rosen lag auf seiner Brust. Ich sollte nun die weisse Lilie dazulegen, doch ich getraute mich nicht, näher zu treten, bis mir die Tante ungeduldig die Blume aus der Hand riss und selbst in den Sarg legte.

Ich hatte noch niemals zuvor einen Toten gesehen, und jetzt lag da ein kleiner Junge vor mir – ein wenig älter als mein Bruder – ohne sich zu regen. Das war Josefli? War das nun dieser Josefli «selig», von dem die Grossmutter immer sprach? Ich wusste damals noch nicht, dass «selig» verstorben hiess.

Niemand sagte mir, was mit diesem Jungen hier los war. Ich wusste bis anhin gar nicht, dass Martha auch einen kleinen Bruder hatte. Sie hatte mir nie von ihm erzählt. Warum war er gestorben? War er auch im Spital gewesen? Ich getraute mich nicht, Fragen zu stellen, und niemand sprach mit mir darüber. Von nun an schlossen wir auch den kleinen Josefli ins Rosenkranzgebet mit ein.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der Tod dieses kleinen Jungen in einer Verbindung zu meinem Bruder stand. Wenn mein Bruder auch sterben würde? Täuschte ich mich, spürte ich es, oder wurde es sogar laut ausgesprochen, dass es vielleicht doch besser wäre, wenn mein Bruder auch sterben könnte? Einmal erzählte meine Grosse Tante von einem jungen Mann, der als Kind auch sehr krank war. Seine Eltern bestürmten den lieben Gott so sehr, dass er ihn wieder gesund mache. Der Junge überlebte, kam jedoch später auf die schiefe Bahn und wurde zum Mörder der eigenen Mutter. Ich war verwirrt. Es hiess doch immer, wir sollten für unseren Bruder beten. War es nun plötzlich falsch, den lieben Gott eindringlich zu bitten, unseren kleinen Bruder wieder gesund zu machen?

Anfang Juni kam der lang ersehnte Bericht vom Kinderspital. Es gehe dem Bruder ausserordentlich gut. Die Tuberkulose sei zwar noch nicht ausgeheilt, der Bruder müsse noch in ein Sanatorium zur Kur. Die Grosse Tante brachte mich wieder zu meiner Familie zurück.

Mein kleiner Bruder war da, aber nur für wenige Tage. Er hatte grosse Freude, mich zu sehen und wollte mich packen und umarmen. Doch ich versuchte, ihm immer wieder zu entwischen. Ich hatte solche Angst, auch so krank zu werden wie er. Papa bemerkte meine Not und versicherte mir, dass mir die Krankheit des Bruders nichts mehr anhaben könne.

Noch eine Schwester

In all dieser Aufregung um meinen Bruder ging es Mama nicht gut, und sie musste wieder ins Spital. Wieder wurden wir aufgefordert, zu beten. Am Abend rief Papa an, um uns mitzuteilen, dass wir ein kleines Schwesterchen gekriegt hätten. Doch die Stimmung schien gedrückt. Später erfuhr ich, dass es eine sehr problematische Geburt war und es an ein Wunder grenzte, dass Mutter und Kind überlebt hatten.

Was war geschehen? Meine Mutter äusserte gegenüber dem Arzt die Befürchtung, dass es sich bei ihr wohl um einen «Plazentavorfall» handeln könnte, da das Kind nicht spontan auf die Welt kommen wollte. Bei ihrer Mutter war das jüngste Kind – ein Bübchen – aus diesem Grund im Mutterleib erstickt. Der Arzt ignorierte die Warnung der Mutter, packte mit der Zange zu und stach direkt in die Plazenta. Blut spritzte im grossen Bogen raus. «Und das ausgerechnet um die Mittagszeit, wenn es sonst schon so viel zu tun gibt,» dies waren die letzten Worte der Krankenschwester, an die sich die Mutter noch erinnern konnte, bevor sie das Bewusstsein verlor. ­Mutter und Kind waren in Gefahr. Plötzlich musste alles sehr schnell gehen. Der Arzt entschloss sich zu einem Kaiserschnitt. Es wurde sehr kritisch. Die Mutter hatte bereits viel Blut verloren und war sehr schwach. Sie brauchte viele Bluttransfusionen. Unsere ganze Verwandtschaft war an dieser Geburt mitbeteiligt, denn alle Erwach­senen wurden später zum Blutspenden aufgeboten, damit die Klinik ihre Blutkonserven wieder auffüllen konnte.

Von dieser schweren Geburt erholte sich unsere Mutter nie mehr richtig.

Und nun war Maria plötzlich wieder da. Die neue Stelle hatte ihr nicht gefallen. Im Winter musste sie frühmorgens bei jedem Wetter mit dem Fahrrad die Brote verteilen. Der ausbezahlte Lohn war auch nicht so hoch wie versprochen. Maria fühlte sich ausgenutzt und vermisste den «Familienanschluss», den sie bei uns sehr intensiv erlebt hatte. Sie fragte, ob sie wieder bei uns arbeiten dürfe. Maria kam wie gerufen, war sie doch in diesem Moment für die Mutter eine grosse Hilfe.

Ich kam nun in den Kindergarten. Die meisten Kinder waren bereits ein bis zwei Jahre dort, ich jedoch war neu in der Gruppe. Der Kindergarten wurde von Schwester Maria Leo, einer katholischen Nonne, geführt. Sie galt als eine sehr erfahrene Kindergärtnerin. Mehrere Generationen verschiedener Konfession besuchten bei ihr den Kindergarten. Sie konnte sich später noch an alle mit ihrem Namen erinnern. Der Kindergarten war im alten Casino untergebracht – einem ehrwürdigen Gebäude, welches früher einer ortsansässigen Aristokratenfamilie als Winterquartier diente.

Neben dem einfach gehaltenen Kindergartenraum lagen zwei barocke Ballsäle, wo gelegentlich noch gesellschaftliche Anlässe abge­halten wurden. Diese Räume waren für uns tabu. Schwester Maria Leo beheimatete in dem einen Raum den Sankt Nikolaus und im andern das Christkind. So standen wir das ganze Jahr unter himmlischer Beobachtung. Immer wieder hörten wir Flügel rascheln und wetteiferten untereinander, wer wohl schnell einen Blick auf das vorbeihuschende Christkind erhaschen oder die tiefe Stimme von Sankt Nikolaus vernehmen konnte. Während des ganzen Jahres waren wir bemüht, uns viele goldene Einträge und möglichst wenige schwarze Striche in Nikolaus’ grossem Buch zu verschaffen.

Im Advent dann kamen die hehren Gestalten leibhaftig – Sankt Nikolaus, begleitet von einem Tross von Engeln – bei uns zu Besuch, und dann wurde abgerechnet. Sankt Nikolaus mit seinem weissen langen Bart war zwar ein milder Mann, der uns glaubwürdig mit feuchten Augen vorspielen konnte, wie traurig ihn unsere Misse­taten stimmten. Er war ein alter Freund meines Grossvaters, wie ich später erfuhr, und er war Sankt Nikolaus aus «Berufung». «Rutscht mir doch alle den Buckel runter», soll er seinen Kollegen einmal zugerufen haben, als sie ihn ärgerten, «in zwei Monaten bin ich wieder der Sankt Nikolaus und der glücklichste Mensch!»

Die Rückkehr
Sanatorium

Der Brief vom Kinderspital mit der Überweisung in die Kinderheilstätte stammt vom 1. Juni 1953. Am 19. Juni wurde unsere kleine Schwester geboren. Einige Tage später, am 27. Juni, war der Eintrittstermin für unseren Bruder ins Sanatorium. Wie haben die Eltern das alles nur geschafft? Ich vermute, dass wieder die Verwandtschaft da war und half.

Die Kinderheilstätte trug den sinnigen Namen «Heimeli». Wenn ich die Fotos von damals anschaue, sehe ich unsern kleinen Bruder in einer Blumenwiese sitzen, umringt von anderen Buben und Mädchen. «Unsere Kinder reden noch immer von ihm», schrieb Schwester Alice später. Ich habe sie nie kennengelernt, da auch hier nur unsere älteste Schwester zu Besuch durfte. Schwester Alice muss da­mals eine wichtige Bezugsperson für unsern Bruder gewesen sein. Auch später erkundigte sie sich immer wieder nach seinem Wohlbefinden und wie er sich zu Hause wieder eingelebt habe!

Der Bruder hatte während seiner Krankheit das Sprechen verlernt und musste wieder neu gehen lernen. Die ärztlichen Berichte aus der Heilstätte, welche alle drei Monate zu Hause eintrafen, wurden von uns voll Spannung erwartet und die Bemühungen um den kleinen Sohn vom Vater herzlichst verdankt, erfreut über seine guten Fortschritte und in der Hoffnung, dass er bald gesund und munter in die Familie zurückkehren könne.

Sept. 53

Die allgemeine Erholung ist ordentlich. Der Knabe ist ziemlich lebhaft und gut gelaunt. Eine Fortsetzung der Kur für weitere 3 Mt. ist unbedingt angezeigt.

Dez. 53

Die «geistige» Entwicklung ist befriedigend, er beginnt zu ­sprechen, allerdings noch undeutlich. Aufgrund des Röntgen­befundes und mit Rücksicht auf die durchgemachte Meningitis und die Jahreszeit ist die Fortsetzung der Kur unbedingt ­angezeigt. Wir haben um eine Kurbewilligung von weiteren 3 Monaten ersucht.

März 54

Der linke Hilus (Lunge) ist noch deutlich verbreitert, partien­weise etwas dicht. In seinen «geistigen» Funktionen macht der Knabe befriedigende Fortschritte. Eine weitere Fortsetzung der Kur ist unbedingt angezeigt. Wir ersuchen um Kurbewilligung für weitere 3 Mt. …

Schlussendlich war der Bruder ein ganzes Jahr in der Heilstätte. Mit zweieinhalb Jahren wurde er krank. Mit viereinhalb Jahren kehrte er «körperlich geheilt zurück, dank neuzeitlichen Heilmitteln», wie es im Austrittsbericht heisst.

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