Kitabı oku: «Ein Bruder lebenslänglich», sayfa 4

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Ein anderer Bruder

Inzwischen war ich in der ersten Klasse. Ich lernte Lesen und Schreiben und entwickelte eine rege Schreibtätigkeit. Was ich früher zeichnend verarbeitete, tat ich nun schreibend. Ich verlangte bei der Lehre­rin nach Papier und blieb freiwillig länger in der Schule, um meine kleinen Aufsätze zu schreiben. Die Lehrerin nannte mich «Blättli­schluckerin». Sie korrigierte jeweils meine Texte und strich die Fehler mit roter Tinte an. Als nun fast das ganze Blatt rot angestrichen war, befand sie, ich würde besser etwas abschreiben, als eigene Geschichten voller Fehler zu schreiben. So wurde meiner Schreib- und Fabulierlust ein Ende gesetzt.

Ich war nun bald anderweitig beschäftigt, denn als ich eines ­Tages von der Schule heimkam, hatte die Mutter Matratze, Decken und Kissen zum Sonnen über die Teppichstange gehängt.

«Wir können am Sonntag den Bruder abholen.»

Die Sonne beschien das Bettzeug, als wollte sie meinem Bruder als Vorschuss etwas Wärme bringen.

«Kommt er nun für immer nach Hause?»

Wir beiden konnten damals nicht ahnen, wie oft der Bruder noch von zu Hause fortgehen musste.

Beim Austrittsgespräch sagte der Arzt meinen Eltern, ihr Sohn würde sehr viel Liebe benötigen. «Wohl wird es kaum einen Stu­dier­ten aus ihm geben, aber es müssen ja nicht alle studieren.» Das war alles, was meinen Eltern als Aufklärung über die durch die Krankheit hinterlassenen Schäden ihres Sohnes mit auf den Weg gegeben wurde. «Mach’ dass er brav studiert. Belohn damit sein Streben, dass einst berühmt er wird», dieser Geburtswunsch aus der Feder des Wiener Künstlers musste somit schon früh begraben werden.

Ich war voller Freude, dass der Bruder nun wieder bei uns war und ich einen Spielgefährten hatte. Das Schwesterchen war einfach noch zu klein für meine Spiele.

Mein Bruder machte jedoch wenig her als Spielpartner:

Ich hatte die Kiste mit den Bauklötzen auf den Boden geleert und wollte mit meinem Bruder zusammen etwas bauen. Er war jedoch nicht am Bauen interessiert, sondern nahm zwei Holzklötze und schlug sie einfach nur gegeneinander. Er wusste wohl nichts Besseres damit anzufangen. Ich nahm ihm die Klötzchen aus der Hand und wollte ihm zeigen, was man alles damit machen konnte. Sogleich fiel er über mich her. Seine Finger griffen nach meinen Haaren und zerrten so fest, dass ich zu weinen begann. Mama eilte herbei, um mich zu befreien. Das war nicht einfach, denn seine Finger waren so fest in meine Haare verkrallt! Voll Entsetzten sah ich, wie er ganze Haar­büschel in seinen Händen hielt, meine Haare! Ich konnte nicht verste­hen, warum er denn so böse wurde. Ich wollte ihm ja nur helfen.

Solche Anfälle traten immer wieder auf. Oft wusste ich kaum, wie ich mich nachts hinlegen sollte, da mich der Kopf so schmerzte, wenn der Bruder sich wieder an meinen Haaren vergriffen hatte.

Auch das kleine Schwesterchen bekam seinen Teil ab. Für den Bruder gehörte es nicht in diese Familie. Er hatte es ja vorher noch nie gesehen. Als er nach Hause zurückkam, hatte die kleine Schwester gerade Gehen gelernt und war noch unsicher auf den Beinen. Immer wieder stupste er sie um, wenn sie in seine Nähe kam. Glück­licherweise hatte sie damals noch fast keine Haare, und so konnte er sie nicht an den Haaren reissen. Später, als ihre Haare gewachsen waren, fielen auch ihre goldblonden Locken den Wutanfällen des Bruders zum Opfer.

Ich hatte mich mächtig auf meinen Bruder gefreut, so wie ich ihn in Erinnerung hatte, bevor er krank wurde. Doch dieser Bruder hier war ein Anderer. Er war unberechenbar in seinen Reaktionen. Er konnte lieb und fröhlich sein, doch urplötzlich begann er zu toben oder über uns herzufallen. Oft war es schwer nachvollziehbar, was ihn derart in Rage versetzte.

Einmal war der Bruder wieder krank. Er war unruhig und weinte die ganze Nacht. Ich musste mit ihm das Zimmer teilen und hatte deswegen kaum ein Auge zugetan. Am andern Tag in der Schule war ich sehr müde. Die Augen wollten mir zufallen. Bereits mehrmals wurde ich von der Lehrerin ermahnt, ich sollte mich anständig hinsetzen und nicht so in der Bank herumhängen. Nun verlor sie die Geduld. Ich musste mich zur Strafe in die Ecke stellen. In diesem Moment trat der Schulinspektor ein. Wie schämte ich mich, hier in der Ecke zu stehen. Wie ungerecht fand ich die Strafe, doch ich konnte nicht erzählen, warum ich so müde war.

Warum denn eigentlich nicht? Die Lehrerin kannte unsere Familie gut. Sie war auch schon bei uns zu Hause, weil meine älteste Schwester bei ihr im Sommerlager war. Warum war denn mein behin­derter Bruder nie ein Thema? Heute frage ich mich, warum ich mich nicht erklären konnte, wenn mein Bruder mir das Zeichnungsblatt zerriss oder wenn durch seine Schuld Tintenkleckse mein Heft verunstalteten? Ich kassierte Schelte und musste mich damit abfinden, dass ich einen besonderen Bruder hatte, dass unsere Familie anders war. Deswegen schämte ich mich auch immer wieder.

Erst viel später erfuhr ich, dass einer meiner Mitschüler einen schwerstbehinderten Bruder hatte. Der Mitschüler stammte aus einer alteingesessenen Arztfamilie. Es hätte mir sehr geholfen, wenn ich von diesem Bruder gewusst hätte.

Kur auf der Alp

Es war Spätherbst, und diesmal war ich es, die stark hustete. Die Grosse Tante starb. Ich durfte wegen meines Hustens nicht einmal an ihre Beerdigung gehen. Ich versuchte, den Husten zu unterdrücken und weinte nachts leise in das Kissen. Eigentlich war ich ja nicht besonders gerne bei dieser Grosstante gewesen. Doch meine Mutter sagte mir damals, dass ich es später bereuen würde, wenn ich nicht mehr zu ihr gehen könne. Ich konnte mir das nicht vorstellen, doch nun war ich traurig und mein Gesicht von Tränen nass.

Der Husten wurde stärker und ich musste um Luft ringen. Der Kinderarzt diagnostizierte nun bei mir ebenfalls «Keuchhusten». Wenn ich damals verschont blieb, als unser Bruder daran erkrankte, so hatte es mich diesmal wie aus heiterem Himmel erwischt. Ich weiss nicht, wo ich mich angesteckt hatte. Meine Mutter meinte, es sei im Gedränge der Herbstmesse geschehen. Ich hustete die Nächte durch und durfte nicht zur Schule gehen wegen der An­steckungsgefahr für die anderen Kinder. Da beschloss die Mutter, mich auch zur Kur auf die Alp zu Sophie und Gusti zu schicken, wie damals den Bruder. Offenbar hatte sie immer noch Vertrauen in die heilende Höhenluft, obwohl dort oben diese heimtückische Krankheit bei meinem Bruder ausbrach.

Es gab aber noch einen ganz praktischen Grund, mich nach Grattigen zu schicken. Der Bruder war bereits dort. Wegen seiner durchgemachten Lungentuberkulose verordnete ihm der Arzt immer ­wieder Kuraufenthalte. Ich sollte ihm nun auf der Alp Gesellschaft leisten und dabei auch als Kindermädchen die Sophie entlasten.

Es war ein nebliger Novembermorgen und noch stockdunkel, als meine Mutter sich mit mir auf die Reise machte. Nach einer längeren Zugfahrt warteten wir an einem Bahnhof auf das Postauto. Ein kalter Wind pfiff uns um die Ohren. «Hier bin ich geboren», sagte Mama. Ich schaute mich ungläubig um. Es gab kein Gebäude in der Umgebung, welches wie ein Spital aussah, und ich wusste inzwischen, wo die Kinder zur Welt kamen. Doch Mama erzählte mir, dass ihr Vater hier früher einmal Stationsvorstand war. Die Familie logier­te deshalb in der Dienstwohnung im Bahnhof, und damals waren Hausgeburten üblich. Von da an prahlte ich vor den anderen Kindern damit, dass meine Mutter in einem Bahnhof geboren wurde. Ich ernte­te immer ungläubiges Staunen.

Nun fuhren wir mit dem Postauto hinauf ins Bergtal. Die Strasse war sehr eng und kurvenreich. Auf der einen Seite fiel sie steil ab, man konnte unten den See sehen. Auf der anderen Seite erhoben sich hohe Felswände. Vor den Kurven liess der Fahrer jeweils das Posthorn erklingen, um die talwärts fahrenden Fahrzeuge zu warnen. Obwohl Mama diese Strecke schon lange kannte, spürte ich, wie sie immer wieder zusammenzuckte, wenn das Postauto um eine enge Kurve fuhr.

Oben im Dorf meldeten wir uns in der Bäckerei. Meine Mutter kannte die Besitzerfamilie von früher, als sie im Tal ihre Ferienlager durchführte. Bis zur Seilbahn nach der Alp Grattigen hätten wir noch einen einstündigen Fussmarsch zurücklegen müssen. So hatte die Mutter arrangiert, dass wir mit dem Bäcker mitfahren konnten. Er versorgte zweimal wöchentlich das ganze Tal mit Lebensmitteln. Hinten im Tal wohnte die Schwester von Sophie, das Griti. Griti war eine weisshaarige Frau, etwas grösser und nicht so rundlich, jedoch gleich resolut und mit dem gleichen Humor ausgestattet wie ihre Schwester oben auf der Alp. Bei Griti musste man sich melden, wenn man mit der Seilbahn hinauffahren wollte. Dann telefonierte sie mit dem Seilwart. Der musste jeweils seine Arbeit liegen lassen und zur Bergstation hinabsteigen.

Wir warteten in Gritis Küche. Auf dem Feuerherd brodelte Wasser in einer von Russ geschwärzten Pfanne. Griti nahm fein gemah­le­nes dunkles Pulver aus einer Büchse und rührte es direkt in die Pfanne. Mit einer Schöpfkelle goss sie ein wenig kaltes Wasser nach. Es spritzte und zischte. Man müsse den Kaffee «verchlipfe», erklärte mir Griti, damit sich das Kaffeepulver auf den Pfannenboden setze. Ich nippte genüsslich an dieser mit viel Zucker gesüssten braunen Brühe. Kaffeetrinken war uns Kindern sonst nicht erlaubt. «Nicht für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven, macht dich blass und krank …», sangen wir in der Schule im Kanon. Von dem dazu gereichten – im Kamin getrockneten – Ziegenfleisch konnte ich kaum genug bekommen. Doch Mama sagte mir, dass es nicht anständig sei, so viel davon zu nehmen.

Die offene Seilbahn, welche uns auf die Alp bringen sollte, sah sehr abenteuerlich aus. Als halsbrecherisch und lebensgefährlich fand ich sie später in der Presse beschrieben. Sie bestand aus zwei mit Rollen an Drahtseilen aufgehängten Lattenverschlägen, die sich gegenseitig hochzogen. Hinten war ein Tank angebracht. Oben wurde dieser jeweils mit Wasser aufgefüllt. Der mit Wasser gefüllte Tank gab das Gegengewicht für den Antrieb des unteren Gefährtes. Beim Einlaufen in die Talstation entleerte er sich automatisch. Dieses Bähnchen funktionierte ganz ohne Strom, nur mithilfe der Schwerkraft. Das konnte in trockenen Sommern problematisch sein. Es kam vor, dass die Seilbahn stecken blieb, weil der Wassertank zu wenig gefüllt oder die Fracht zu schwer war. Dann musste der Seilwart das Bähnchen von Hand heraufkurbeln.

Wir hatten nun das Gepäck aufgeladen und uns in der schaukelnden Kiste eingenistet. Dann schlug Griti mit einer rostigen Stange auf das Seil. Das Seil begann zu schwingen und das war das Abfahrtssignal für den Seilwart, das Bähnchen setzte sich in Bewegung. Langsam glitten wir nach oben. Mama sagte mir, ich solle die Augen schliessen, als wir über eine tiefe Schlucht pendelten.

Es waren erst drei Jahre vergangen, seit die Mutter an einem kühlen Herbstabend mit dieser Seilbahnkiste talwärts fuhr, ihr fieberndes Söhnchen in eine Wolldecke gewickelt. Onkel Emil wartete an der Talstation auf die beiden. Er fuhr die Mutter mit dem schwerkranken Bruder zuerst zu unserem Kinderarzt und anschliessend in das Kinderspital der nächstgelegenen Grossstadt. Es war eine lange abenteuerliche Fahrt. Spät in der Nacht erfuhr die Mutter von den Ärzten in der Klinik die vernichtende Diagnose.

Was mag ihr damals auf dieser Reise alles durch den Kopf gegan­gen sein? Die Mutter sprach nie darüber.

Heil auf der Alp angekommen, mussten wir noch zwanzig Minu­ten den Berg hinaufsteigen, bis wir auf der Vorderen Egg bei Sophie und Gusti waren. Dort sprang uns der Bruder entgegen. Er roch nach Stall. Mama übernachtete mit uns oben auf der Alp, da es zu spät war, um am gleichen Tag wieder zurückzureisen. Als am andern Morgen mein Bruder und ich aufwachten, war sie bereits weg. Sie hatte sich wohl davongeschlichen, um uns allen den Abschied zu erleichtern. Am Vorabend gab mir Mama ein Päckchen mit roten Plastikperlen, die man nach verschiedenen Mustern zusammenstecken konnte. Solche Ketten waren bei den Mädchen gerade in Mode. Wie sehr hatte ich mir auch eine solche Kette gewünscht und immer wieder darum gebettelt! Mama wollte mich wohl über das Heimweh hinwegtrösten.

Mein Bruder und ich sassen in der Küche beim Frühstück. Sophie schenkte uns aus dem grossen Milchkrug mit den blauen Tupfen Ziegenmilch ein, röstete Brotschnitten am offenen Herdfeuer und bestrich sie dann mit frischer Butter. Dann schnitt sie uns ein grosses Stück vom Käse ab. Wir sollten hier wieder zu Kräften kommen. Es war ein wenig wie beim Alpöhi. Der Bruder schaute nachdenk­lich zur Bergkette hinauf, welche in der Morgensonne rötlich leuchtete. Dann sagte er: «En Isebahn – was macht de Ma det obe?»

Sophie freute sich über diese kreative Beobachtung. Ich erzählte ihr voll Stolz, was mein Bruder sonst noch alles wisse. Mit meinen acht Jahren sprach ich schon wie eine Expertin.

«Du darfst nicht heiraten, denn du musst später einmal zu deinem Bruder schauen, wenn eure Mutter nicht mehr da ist.»

Diese Worte von Sophie blieben an mir haften. Warum durfte ich nicht über mein eigenes Leben bestimmen? Obwohl ich bis anhin nicht ans Heiraten dachte, so sammelten wir Schwestern eifrig für unsere Aussteuer. Es waren hübsche Porzellantässchen mit kleinen Fehlern, welche uns die alte Frau Heggli aus ihrem Geschirrladen für unsere Sammlung überliess. Ich stellte mir immer vor, Kinder zu ­haben. Aber ich dachte mir, dass ich diese adoptieren würde. Das schien mir einfacher, als selbst Kinder auf die Welt zu bringen. Dass das Kinderkriegen nicht so einfach und gefahrenlos war, hatte ich ja bei unserer Mutter erlebt. Und wozu brauchte es denn einen Mann?

Vermutlich hatte ich durch die Erfahrungen mit meinem einzigen Bruder ein etwas – sagen wir einmal – besonderes Verhältnis zu Buben oder Jungen. So war es dann auch, als ein paar Tage später Wisi auf der Egg auftauchte. Wisi kam von unten aus dem Tal. Er war gerade aus der Schulpflicht entlassen worden. Nun sollte er den Winter über Gusti im Stall helfen, denn die Tiere waren von der Sömmerung zurück. Wisi war ein braver, arbeitsamer Bursche. Vielleicht war es, weil ich keinen Bruder zum Streiten hatte und ich mich vor den fremden Buben fürchtete, dass ich es nun nicht lassen konnte, Wisi zu necken und ihm Streiche zu spielen.

Es war ein sternenklarer, aber eisig kalter Abend. Die Hemden, welche Sophie draussen zum Trocknen aufgehängt hatte, waren so steif gefroren, dass man sie auf den Boden stellen konnte. Sophie schimpfte beim Einsammeln der Wäsche unablässig über das «Mannevolch», welches zu nichts nutze sei. Die Wettervorhersage von Gusti hatte sich als falsch erwiesen.

Am andern Morgen glitzerten die Berge in weisser Pracht. Über Nacht war der Winter eingebrochen und brachte mehr als einen halben Meter Neuschnee.

Mein Bruder und ich tummelten uns im Schnee vor dem Haus. Auf einmal liess sich der Bruder den Abhang hinunterrollen. Er rollte und rollte. Ich sah die Gefahr. Doch wie verzweifelt ich ihm auch zurief, er liess sich nicht aufhalten und rollte weiter und weiter, bis er endlich von einem kleinen Tännchen gestoppt wurde. Sein Gesicht war mit Schnee verklebt. Handschuhe und Mütze hatte er verloren. Er war völlig aufgelöst und heulte. Mühsam stapfte ich durch den tiefen Schnee. Ich kam aber nur langsam vorwärts, weil ich immer wieder einsank. Endlich konnte ich dem Bruder meine Hand reichen. Seine war eiskalt. Doch wir schafften es nicht, den Berg wieder hinaufzuklettern. Der Schnee war zu tief, und der Bruder lamentierte und schlug um sich.

Da trat Wisi aus dem Stall. Er erkannte gleich unsere prekäre ­Situation. Trittsicher stieg der Bauernbub zu uns hinab, und gemeinsam brachten wir den Bruder den Hang hinauf.

Von oben war das Gezänk von Sophie zu hören, da ihr Mann keine Anstalten machte, uns zu Hilfe zu eilen. Gusti schwieg beharrlich und rührte sich nicht. Gebannt schaute er den Hügel hinunter und behielt die Situation im Auge, damit er im Notfall hätte Alarm schlagen können, wie er uns später gestand. Er hatte nämlich befürchtet, dass der ganze Hang ins Rutschen komme und uns unter dem Schnee begraben würde.

Die Jacke des Bruders war voll von Schnee, der inzwischen gefro­ren war. Seine Stiefel konnte Sophie erst ausziehen, nachdem sie warmes Wasser hineingeschüttet hatte. Der Bruder wurde mit einer Wärmeflasche ins Bett geschickt. Ich blieb bei ihm. Ich fühlte mich schuldig, da ich auf ihn zu wenig aufgepasst hatte.

Kürzlich las ich in der Zeitung einen Nachruf über den «Tannli­wisi». Ich bemerkte sogleich, dass es sich um den Wisi von damals handelte. Er war der älteste Sohn einer armen kinderreichen Familie und musste gleich nach dem Schulabschluss arbeiten gehen, um die Familie ernähren zu helfen. So kam er als vierzehnjähriger Junge auf die Egg. Er blieb sein Leben lang Knecht. Wisi heiratete nie. Später wurde er wegen seines Hobbys, der Aufzucht von Christbäumen, als «Tannliwisi» bekannt. Wie bin ich ihm dankbar, dass er uns damals gerettet hat.

Anfang Dezember wurden mein Bruder und ich von der Alp geholt. Ich drängte darauf, wieder in die Schule zu gehen. Als ich am ersten Schultag nochmals einen starken Hustenanfall hatte, wollte mich die Lehrerin sogleich nach Hause schicken. Ich hatte in der Schule einiges verpasst. Im Schlusszeugnis stand, dass ich im zweiten Schuljahr neunundsechzig Halbtage gefehlt hatte.

Ich war immer gut im Auswendiglernen und Aufsagen von Gedichten. Darum versprach mir unsere Lehrerin bereits in der ersten Klasse eine grosse Rolle, wenn sie mit uns in der zweiten Klasse ein Krippenspiel aufführen würde. Als ich nun wieder zurück in die Schule kam, waren alle Rollen bereits vergeben. Ich musste die Hefte nachführen und seitenweise Texte abschreiben, während die andern probten. Bei der Aufführung war ich die Einzige, die keine Aufgabe hatte. Die Lehrerin hatte ihr Versprechen nicht gehalten und mich einfach vergessen.

Von uns Schwestern umsorgt
Mit dem Bruder unterwegs

Unsere Aufgabe als Kindermädchen unseres Bruders wurde ja bereits in den Gratulationsschreiben zu seiner Geburt bestimmt. Nun kam noch das kleine Schwesterchen dazu. Da die Mutter mit der grossen Familie sehr beschäftigt war, so war es die Aufgabe der älteren Mädchen, in der Freizeit zu den beiden jüngsten Geschwistern zu schauen. Wir durften nur irgendwo hingehen, wenn wir die beiden Geschwister mitnahmen, sei es in die Badeanstalt, zum Schlitten- oder Skifahren oder – etwas ganz Besonderes für damals – einen Filmnachmittag besuchen, Hauptsache, es schaute jemand zu den Kleinen. So habe ich es in Erinnerung.

Vielleicht war es auch umgekehrt, und wir erstritten uns un­sere Teilnahme an bestimmten Freizeitaktivitäten damit, dass wir anerboten, unsere kleinen Geschwister mitzunehmen. Ich erinnere mich an einen vorweihnachtlichen Filmnachmittag des Kaufmännischen Vereins. In der Pause gab es warme Schokolade in einem Fläschchen mit Trinkhalm, so wie damals die «Pausenmilch», die im Winter in der Schule bestellt werden konnte. Wir durften in der Schule nie ­solche Milch bestellen, da diese zu viel Geld kostete und wir zu Hause genug Milch bekamen, wie die Mutter sagte. Wir konnten aber manchmal davon profitieren, dass ein Kind aus der Klasse krank war und uns der Lehrer die überzählige Milch zusteckte. Für uns war diese warme Schokolade deshalb ein besonderer Genuss.

Jetzt mühten wir uns jedoch die ganze Pause damit ab, unserem Bruder beizubringen, wie man mit einem Strohhalm trinkt, d. h. wie man durch den Trinkhalm einsaugt, ohne alles auf dem Boden zu verschütten.

Wie oft schämten wir uns und versuchten heimlich, das durch unseren Bruder entstandene Malheur zu vertuschen! Bei allen Akti­vitäten mussten wir zudem auf der Hut sein, dass der Bruder nicht einen seiner Wutanfälle kriegte.

Da waren noch die Missionsfilmnachmittage. An diesen Nachmittagen wurden Filme von den Missionen in Afrika, Indien und auf Formosa, dem heutigen Taiwan, gezeigt. Diese waren oft nicht sehr zimperlich und nach heutigem Ermessen nicht für Kinder geeignet. Ich weiss noch genau, wie mich die Darstellung erschütterte, als während einer indischen Hochzeitszeremonie der Bräutigam von einer Schlange gebissen wurde und starb und die junge Witwe bei lebendigem Leibe mit dem Leichnam mitverbrannt wurde. Die Szene, wie der afrikanische Vater dem Sohn mit dem Hammer nachrannte, als er erfuhr, dass dieser in die Katechetenschule ging, löste bei unserem Bruder einen aggressiven Anfall aus, und es war schwierig, ihn nach Hause zu bringen.

Das Baden im See war nicht ohne. Aber vermutlich hatten wir so lange gequengelt, dass wir die kleinen Geschwister mit zum Baden nehmen durften. Wir hätten ja sonst bei diesem heissen Sommerwetter zu Hause bleiben müssen. So gingen meine um drei Jahre ­ältere Schwester und ich mit dem Bruder und der jüngeren Schwester in das Seebad. Ich bin mir nicht sicher, ob wir beide wirklich schwimmen konnten, sicher aber waren wir keine guten Schwimme­rinnen. Meine jüngste Schwester sagt mir heute, wie ich ihr das Leben gerettet habe, als sie jemand ins tiefe Bassin schubste und ihr der Schwimmring wegrutschte. Alle hätten gelacht, wie sie im Wasser zappelte, bis ich die Situation begriff und sie herauszog.

Bei unserer grossen Familie gab es immer durchgelaufene Schuhsohlen, die zum Flicken gebracht werden mussten. Der Besuch in der Werkstatt des Schuhmachers ganz in der Nähe war für uns Kinder ein besonderes Erlebnis. Beim Eintreten in das ebenerdige Lokal mussten sich die Augen zuerst an die Dunkelheit gewöhnen. Der Schuhmacher, ein älterer bärtiger Mann, sass auf einem kleinen Stühlchen auf einem etwas erhöhten Podest vorne am einzigen Fenster, durch welches ein wenig Tageslicht in den Raum gelangte. Über seinem Arbeitstisch brannte immer eine lose Glühbirne. Es roch nach Leim und Leder und überall am Boden lagen kleine Leder- und Gummireste herum. Wenn der Schuhmacher gerade an einer kniffeligen Arbeit war, die er nicht unterbrechen konnte, so vergnügten wir uns in der Werkstatt. Wir sammelten Leder- und Gummi­reste ein, die wir dann «heimlich» in unsere Taschen steckten. Der Schuhmacher liess uns gewähren. Er sprach kaum ein Wort mit uns. Es schien mir aber, dass er uns Kinder nicht ungern um sich hatte. Wenn er mit seiner Arbeit fertig war, so stemmte er sich mühsam von seinem kleinen Hocker hoch, holte mit schlurfenden Schritten unsere Schuhe von dem Gestell und erklärte uns dann, dass es leider nicht mehr möglich war, nur ein Schuheisen einzuschlagen, sondern dass der Absatz oder die ganze Sohle ersetzt werden musste. Ich habe den Eindruck, dass er von uns dafür einen sehr moderaten Preis verlangte. Besonders freundlich zeigte er sich immer unserem Bruder gegenüber. Später erfuhr ich, dass der Schuhmacher gerade über der Werkstatt seine Wohnung hatte und dort sein inzwischen erwachsener schwerstbehinderter Sohn tagein und tagaus in seinem Gitterbett dahinvegetierte.

Wieder einmal war ich mit meinem Bruder unterwegs, als mich eine Frau ansprach und sich erkundigte, was mit ihm denn los war. Ich erzählte freimütig von seiner schweren Krankheit und den Schwierigkeiten rund um ihn und mit ihm. «Es wäre besser, er wäre gestorben», war ihr Kommentar. Ich war entsetzt. Es war doch mein Bruder. Warum sollte er nicht mehr leben? Und doch, hatte das damals nicht auch schon die Grosse Tante angedeutet …?

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