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Kitabı oku: «Hotel Amerika», sayfa 10

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Zwölftes Kapitel

Ingrid steht vor dem Ausgang für die Hotelangestellten und blinzelt beglückt in die Sonne. Sie hat heute abend Inspektion, dafür einen freien Nachmittag. Den unerwarteten Betrag, den sie vor einigen Tagen in des Professors Zimmer erhielt, hat sie nutzbringend verwertet.

Ein Kleid, das sie schon lange in einem Schaufenster bewundert hatte, wurde gekauft und sofort angezogen, ohne erst auf den Sonntag zu warten.

Salvatore Menelli nähert sich jetzt gleichfalls dem Ausgang. Er hatte Shirley den Vorschlag gemacht, ein Zimmer für sie zu suchen, sie hatte das aber lachend und hochmütig abgelehnt. Wollte sie nicht einsehen, dass man sie bestimmt heute noch hinauswerfen würde, oder bildete sie sich ein, es plötzlich so weit zu bringen, dass sie ihre alten Freunde nicht mehr brauchte? Pah! – Salvatore war nicht der Mann, einem Mädchen nachzulaufen, das ihn nicht mehr mochte. Salvatore Menelli trägt nagelneue Schuhe, einen gutsitzenden Anzug und eine leuchtende Krawatte. Er sieht so elegant aus, dass man ihn sicher für einen Gast des Hotels Amerika halten könnte, wenn er nicht den Eingang für das Personal benutzte. So denkt Ingrid wenigstens. Unter ihren bewundernden Blicken bleibt Salvatore geschmeichelt stehen und betrachtet das Mädchen nun auch wohlgefällig.

»Wie hübsch du bist, du siehst ja aus, wie eine richtige hier geborene Amerikanerin.«

»Findest du das wirklich?«

»Bestimmt. Wollen wir zusammen Spazierengehen? Ich lade dich ein. Wir gehen in unsere Konditorei. Mein Vater hat nämlich eine Konditorei im italienischen Viertel. Willst du mitkommen?«

»Gern, ich war noch nie da, ich möchte es gern sehen.«

»So, und mit mir möchtest du nicht gern zusammen sein?«

»Doch, früher habe ich dich oft mit Shirley –«, sie brach plötzlich ab, denn Salvatores Gesicht verdunkelte sich. »Also gehen wir, ich muss heute abend zurück ins Hotel.«

»Ich doch auch. Wir fahren mit der Untergrund.«

»Nein, lieber mit der Hochbahn. Ich freue mich, wenn ich etwas Neues sehen kann.«

Während der Fahrt kramt Salvatore in seinen Taschen. »Ich habe heute nicht viel verdient, musste um so mehr springen. Komisches Leben im Hotel, findest du nicht auch?«

»Ja, warum musst du als Page im Hotel arbeiten, wenn dein Vater eine Konditorei hat?«

»Ja, siehst du, Svenska, ich will doch das Leben sehen, das große vielseitige Leben, nicht immer nur einige italienische Nachbarn.«

»Ich heiße Ingrid.«

»Aber du bist doch eine Schwedin, nicht wahr? Also, Svenska, höre. Wenn ich bei meinem Vater bliebe, würde ich in einer italienischen Kleinstadt leben, ganz abgeschlossen von der übrigen Welt. Das Hotel aber erscheint mir wie ein ungeheurer Zoologischer Garten, in dem man einfach alle Arten von Menschen entdecken kann, die neueste Arche Noah. Findest du nicht auch, Svenska?«

Ingrid sagt nichts, sie findet, dass man viel Schmutziges im Hotel sehen kann; nein, sie konnte nicht behaupten, dass sie besonders gern in einer so verworrenen Welt lebe. »Verstehst du auch, was ich sage?« fragt Salvatore, der das nachdenkliche Schweigen missversteht. »Du bist noch nicht sehr lange hier im Lande, nicht wahr?«

»Wenn man nicht sehr schnell spricht, verstehe ich alles, besonders, wenn die Sätze nicht zu lang sind.«

»Du sollst mich lieb haben. Ist das ein kurzer Satz?«

»Das Leben ist schön. Wie viel Menschen es hier auf der Straße gibt. Und die Turme, die Häuser, alles ist so mächtig, alles scheint endlos zu sein, ganz anders als bei uns zu Hause. Nie hätte ich früher gedacht, dass die Welt so groß sein könnte. Ich habe immer in einem kleinen Dorf gelebt, jeder kannte den anderen. Und bei uns ist alles so rein, die Luft und die Häuser.«

»Hier gefällt es dir nicht?«

»Anfangs hatte ich schreckliches Heimweh. Ich dachte, ich müsste in der schlechten Luft ersticken. Und dieser schreckliche Lärm in den Straßen, ich hatte immer Angst.«

»Und jetzt …? Hast du noch Heimweh?«

»Nein, jetzt nicht mehr.«

»Siehst du, bei uns gibt es auch Bäume, schau, dort ist einer.«

»So ein armer Baum, man sieht ihm an, dass er ein schweres Leben hat.«

»Wie kannst du das sehen?«

»Er ist doch ganz krumm und verkrüppelt, steht da ganz allein zwischen den vielen Häusern. Aber das Leben ist schön, auch wenn es schwer ist.«

»Beug dich nicht so weit hinaus.«

»Und die Frauen hier, sie sind alle so schön gekleidet. Bei uns tragen sie immer die gleichen Kleider. Kannst du dir das vorstellen?«

»Ich weiß nicht.«

»Hier kann man eigentlich nur an den Kleidern der Frauen erkennen, welche Jahreszeit es ist, nicht an dem Grün, ich finde das sehr komisch.«

»Du hast honigfarbene Haare, Svenska, weißt du das?«

»Ja, ich weiß das, und meine Augen sind wie Kornblumen, das habe ich auch schon gehört.«

»Haben Männer dir das gesagt, viele Männer?«

»Bist du eifersüchtig?«

»Siehst du, jetzt beginnt das italienische Viertel. Wir werden bald aussteigen.«

»Sieht es hier so aus wie in Italien?«

»Ich kenne Italien nicht, ich war zwei Jahre alt, als wir nach Amerika fuhren.«

»Ich kenne das skandinavische Viertel in New York, da gibt es Knäckebrot, geräucherte Fische, viele Holzhäuser und lauter schwedische, dänische und norwegische Zeitungen. Aber es ist doch ganz anders als in Skandinavien.« Jetzt umfängt sie beide das laute Geschrei, die Gebärden, die Gerüche einer südlicheren Welt. Schiebekarren stehen in allen Straßen; Kleider, Wäsche, Schals flattern in lauten, bunten Farben, Frauen kramen und wühlen, reden laut und gebärdenreich in einer fremden Sprache. In anderen Gassen sind fremde, exotische Lebensmittel in den Karren abgehäuft und hüllen die Straßenzüge in ihren Geruch ein. Paprikaschoten, Knoblauch, Artischocken, stachlige, grüne Früchte, die die Käufer auf der Straße schälen, Auberginen häufen sich in bunten Bergen. Schnecken, Muscheln und Krabben wimmeln in Fässern, weite Flächen glitzern silbern von abertausend Fischlein. Grüngeäderter Gorgonzola, groß wie Mühlräder, ist auf dem Bürgersteig aufgestapelt, Rehe und Hasen aus weißem Käse erfreuen die Kinder. Dazwischen preisen die Verkäufer mit lautem »Billig, billig!« ihre Waren an. Das ist wirklich eine neue, eine andere Welt, fühlt Ingrid mit Entzücken.

Sie bewundert die Schaufenster, die mit Papierblumengirlanden und mit Öldrucken in schreienden Farben, die durchweg leidenschaftliche Szenen darstellen, geschmückt sind. Zwischen den Wagen blinzeln beschaulich Katzen oder trillern Vögel in Käfigen.

Und wie herrlich ist erst die Konditorei des Salvatore Menelli.

Sie heißt ›Pasticceria Dante‹. Den Mittelpunkt des Schaufensters bildet ein Hochzeitskuchen. Bei feierlichen Gelegenheiten will man auch hier etwas Großartiges bieten. Das Brautpaar aus Zucker steht unter einem farbigen Baldachin, der von Tauben, natürlich gleichfalls aus Zucker, umflattert wird.

Daneben befinden sich Heilige aus Marzipan, rosenverzierte Törtchen und eine Abbildung des Domes von Padua aus Schokolade.

Denn die Menellis stammen aus Padua, wo der Großvater Salvatores noch heute eine kleine Pasticceria besitzt, die nach dem großen Künstler Giotto benannt wurde. Ingrid bewundert die Konditorei, Salvatore und die Vorliebe seiner Vorfahren sowohl für Kunst als auch für Literatur. Die Mutter Salvatores, eine dunkle, starke Frau, empfängt zwar ihn und Ingrid ohne Begeisterung, aber sie bekommen doch Gelato, ein leichtes Eis, und farbige Kringel vorgesetzt. Verwundert hört Ingrid die fremden Laute, die mit staunenswerter Schnelligkeit hervorgesprudelt werden, sieht die lebhaften Gebärden, die dunklen, südlichen Erscheinungen. »Soll ich dir mein Zimmer zeigen?« fragt endlich Salvatore Ingrid.

Sie willigt gleich ein.

Es gibt wohl nur wenige Zimmer, die so wenig Sehenswürdigkeiten aufweisen. In dem schiefen, schmalen Raum steht nur ein Bett.

Durch das winzige Fenster sieht man die Wäscheleinen, auf denen die gestopften und geflickten Wäschestücke, die farbigen Bettbezüge der Nachbarschaft wehen. Das Geschrei der Straßenhändler, einiger heiserer Grammofone, das Weinen von Kindern, das Geschrei der Frauen vermischt sich zu einer merkwürdigen Melodie. Ingrid sieht die dunklen Augen Salvatores ganz nahe. Sie ist bezaubert, es ist eine andere, eine neue, die südliche Welt.

Dreizehntes Kapitel

Shirley war es endlich gelungen, mit ihrem Freund zu sprechen. Doch es schien ihr, als wäre er keineswegs in so zuversichtlicher Stimmung, wie er ihr vortäuschen wollte. Er sah gedrückt aus, ja, geradezu zerknittert, als lebe er in Angst, als wäre er auf der Flucht. Aber er führte doch noch das große Wort. Wenn man nur diese Worte betrachten wollte, stünde ihre Sache sehr gut. Shirley will ihnen glauben; dass er jetzt anders aussieht als sonst, bildet sie sich vielleicht nur ein …

Er hat wieder einen Auftrag für sie: sie müsse danach trachten, einen Brief unbemerkt zu Marjorie Strong hineinzuschmuggeln.

Das wäre nicht so leicht, wie er sich das vorstelle, man beginne sie schon zu beobachten, besonders seit heute mittag, seit der Kartoffelgeschichte.

Sie kann nicht begreifen, warum ihn das so unwillig macht. Wie man sich wegen einiger schlechter Kartoffeln aufregen könne, wenn es um Großes ginge. Ob sie denn nicht wüsste, was auf dem Spiele stünde? Sie gefährde durch solche Unvorsichtigkeit ihrer beider Zukunft. Nun beobachte man sie, wie sie selbst sage. Er selbst hätte genügend Sorgen, neugierige Spitzel von seinem Halse fernzuhalten. Nun, vielleicht wären die Kartoffeln wichtiger als seine geheimnisvollen Briefe, die anscheinend doch nicht ein so großes Vermögen wert seien, wie er vorgebe. Nicht einmal ihre Meinung dürfe sie sagen, jetzt, wo sie sicher war, sie brauche keine Angst mehr zu haben, vor niemandem? Wozu denn reich werden, wenn man nicht einmal reden könne, was man wolle!?

»Na, du wirst dich nicht wenig wundern; wenn man reich ist, muss man erst recht vorsichtig sein. Und nun beweise, dass ich mich in dir nicht täusche. Du bist ein kluges Mädchen, und wenn du nur willst, stellst du es geschickt an mit dem Brief. Die müssen merken, dass sie es mit jemandem zu tun haben, der es versteht, seinen Willen durchzusetzen. Und es handelt sich doch nicht nur um mich, sondern um uns beide, Kleine.«

Shirley zieht die Augenbrauen zusammen; es ist also immer noch nicht so weit. Konnte sie denn wirklich helfen? Plötzlich fallen ihr die Zettel ein, die sie im großen Konferenzsaal aufgelesen hatte. Sie will ihm nun beweisen, dass sie wirklich etwas leisten kann, wenn sie nur will. Sie beginnt in ihrer Tasche zu kramen und hält ihm triumphierend die Papierschnitzel hin.

»Ich kann nicht verstehen, was hier alles steht, aber es klingt so geheimnisvoll. Du wirst sicher wissen, was dahinter steckt.«

Er besieht sich die Papiere und lacht dann schallend auf. »Liebes Kind, so leicht kommt man Geheimnissen nicht auf die Spur. ›Zollabsperrung des britischen Imperiums, Gefahr für den Handel der Vereinigten Staaten‹, ›Englischer Gummiwucher und die Regierung‹, ›Englische Intrigen bezwecken Erschöpfung amerikanischer Ölfelder‹. Weißt du, was das ist? Das sind Schlagzeilen, und ihr könnt sie alle Tage in den Zeitungen lesen. Aber natürlich: wenn euch die Buchstaben noch so entgegenschreien, neugierig seid ihr nicht, was sie zu bedeuten haben. Ihr kümmert euch nicht darum, ihr regt euch höchstens über ein paar schlechte Kartoffeln auf; deshalb kann man vor euren Augen alles vorbereiten und ihr steht dabei, als wäret ihr blind.«

»Ja, gut, ich verstehe nichts, aber vielleicht verstehe ich alles, wenn man sich die Mühe nimmt, es mir zu erklären.«

»Also, man kann vor eurer Nase einen Krieg vorbereiten, und ihr merkt nichts davon.«

»Wird denn ein Krieg vorbereitet?«

»Vielleicht, wahrscheinlich, sicher.«

»Wo denn? Ich verstehe das nicht.«

»Natürlich verstehst du es nicht. Das erkläre ich dir gerade, dass ihr nur das versteht, was nicht weiter entfernt ist, als einen Schritt vor eurer Nase. Und wer wird das ausbaden? Alle, die kein Geld haben. Ich sage nur eins: es rette sich, wer kann. Die beste Rettung ist Geld. Wenn man Geld hat, kann einem nichts Böses geschehen. Hat man keines, ist man ein Sklave, über dessen Leben alle verfügen, die vieles haben.«

»Und die anderen, was geschieht mit den anderen?«

»Das geht mich nichts an, jeder ist sich selbst der Nächste. Den Dummen kann man ohnehin nicht helfen.«

»Ich bin ja auch dumm.«

»Nun, du hast zu deinem Glück mich. Tu, was ich dir sage, und alle Menschen werden dich beneiden. Wenn man einen starken Willen hat und klug ist, kann man alles erreichen und muss nicht das Schicksal der armen Dummen erleiden.«

Shirley bekommt einen Brief ausgehändigt, und es wird ihr noch einmal eingeschärft, ihn unbemerkt zu der Braut zu schmuggeln.

Sie muss jetzt wieder zurück in die Wäscherei. So einfach, wie der Freund es sich vorstellt, ist die Aufgabe nicht zu erfüllen. Aber Shirley hat Glück.

Die beste Büglerin der Wäscherei, eine Negerin mit safrangelber Haut, ist von Frau Strong bestellt worden; sie soll den Brautschleier bügeln. Eines der Wäschermädchen soll mit ihr gehen, um ihr bei der heiklen Aufgabe behilflich zu sein.

Shirley drängt sich vor. Die Aufsichtsdame mustert sie.

Sie ist entschieden das hübscheste Mädchen hier unten und immer nett und adrett. Man munkelt zwar, dass sie entlassen werden soll, aber vorläufig kann sie sich noch nützlich machen.

Und Shirley wird dazu ausersehen, mit der Büglerin zu gehen.

Sie muss lachen; es scheint wirklich etwas Wahres daran zu sein, dass man nur stark zu wollen brauche – und es geschieht, was man will.

Die Räume, die sie nun betreten, kann Shirley kaum wieder erkennen. Noch nie hatte sie die Zimmerflucht in solcher Pracht gesehen. Eine ganze Reihe Zimmer, die gewöhnlich durch Türen und Portieren streng voneinander getrennt waren, bilden jetzt ein zusammenhängendes Ganzes. Die Zimmer ertrinken in einer Flut von Blumen von solcher Schönheit, wie Shirley sie noch nie gesehen hat.

In der Mitte des größten Raumes steht ein riesiger Tisch, der unter der Last der Leckerbissen, die aus allen Teilen der Welt hertransportiert wurden, zu brechen scheint. Bei seinem Anblick erinnert sich Shirley, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hat.

Sektflaschen stehen in Eiskübeln, und die Kristallgläser beweisen, dass die Gäste vor der Trauung in diesen von der Öffentlichkeit abgeschlossenen Räumen sich noch zu stärken wünschen.

Den überwältigendsten Eindruck aber macht die Schar der Gäste. Neben salopp gekleideten Männern stehen Frauen in glitzernden Kleidern, angetan mit den strahlendsten Schmuckstücken. Die jungen Mädchen sind in den zartesten Blumenfarben gekleidet, sie muten selbst wie Blumen an. Umrahmt von Hüten in der Farbe ihrer Kleider erscheinen ihre Gesichter engelhaft schön. Allerdings mutet ihr Lachen, ihr Kampf um die Champagnergläser weniger engelhaft an. Shirley und die Negerin werden in das Zimmer der Braut gerufen. Sie sitzt vor einem Spiegel. Vor ihr steht ein junger Mann, eine sportlich durchgebildete Gestalt, wohl der Bräutigam.

»Marjorie, du hättest meinen Schlussschlag sehen sollen, meine Chancen sind ausgezeichnet, das versichert mir sogar Bell, der strengste Trainer, der je auf dieser Erde wandelte. Du wirst Grund haben, stolz auf mich zu sein.«

»Ich bin schon ohnehin stolz genug auf dich«, in ihrer Stimme schwingt leise Ironie.

Sogar die Caddies (Anm.: Golfschlägerträger), die an den Spielern doch immer herummäkeln, sagen, sie hätten noch niemanden so spielen gesehen wie mich.«

Marjorie wirft einen Blick auf Shirley und die Negerin. »Sie kommen sicher wegen des Schleiers.« Dann wendet sie sich an den jungen Mann. »Geh jetzt, Lieber, ich muss mich noch fertigmachen, sonst könnten wir nicht heiraten, und das würdest du doch schlimm finden, hoffe ich.«

»Wenn du etwas früher vom Tanz gekommen wärst, hättest du mehr Zeit für mich.«

»Willst du schon jetzt den Tyrannen spielen?« Shirley sieht zum ersten Mal Marjorie. Der schöne Kopf leuchtet blass über dem gleißend weißen Kleid. Sie hat noch kein Rot aufgelegt. Im Spiegel wirkt sie wie eine Statue. Sie beginnt Ringe mit funkelnden, in märchenhaften Farben sich brechenden Steinen über ihre dünnen, äußerst zarten Finger zu ziehen. Diese glitzernden, toten Edelsteine verändern sie, sie wird einem Götzenbild ähnlich. Marjorie sieht nur sich selbst. Ihre Augen liebkosen bezaubert ihr Spiegelbild.

Aber der Spiegel wirft auch die Gestalt der Negerin zurück, die neben Marjories zerbrechlicher Schönheit aussieht wie ein mächtiges, kräftiges Tier, ein Arbeitstier, das aber auch – vielleicht – wild werden kann. Vorläufig zeigt sie nur ihr starkes weißes Gebiss, als wäre das Bild, das der Spiegel zurückwirft, nur komisch und nicht so überwältigend prächtig mit den Blumen und der glänzenden Gästeschar im Hintergrund, denn die Zimmertür war offen geblieben, als die Büglerin und Shirley eintraten.

Der Spiegel gibt auch Shirleys Bild zurück. Nie erschien sie sich selbst so dürftig und gewöhnlich wie jetzt neben der glänzenden Braut. Die eingefallenen Augen verraten, dass sie heute noch nichts gegessen hat, die billige Schminke verdeckt kaum die Spuren von Müdigkeit. Es scheint Shirley, als sehe man ihr alle Entbehrungen ihrer Jugend an, den unruhigen Schlaf in den von Menschen überfüllten Räumen, die saft – und kraftlose Nahrung, die ewige Hetze bei der Arbeit. Ein solches Leben wäre der Braut unbegreiflich gewesen, sie hatte nur von dem erfahren, was Shirley bisher nie erlebt hatte: Überfluss, Luxus, Sorglosigkeit.

Shirley sieht sich plötzlich ganz winzig, sich selbst vervielfältigt in vielen Millionen von Shirleys. Sind sie sich nicht alle gleich, die vielen Mädchen, die sich plagen in der Wäscherei, in der Küche, in den Korridoren, in den Wolkenkratzern ringsum, – plagen für diese glänzende Statue, die wie ein Vampir sich von allen Genüssen der Nerven und des Geistes, von den vielen Freuden nährt, zu denen das Geld der Schlüssel ist!?

Shirley empfindet Hass und hat das bohrende Gefühl, als hätte sie ihr ganzes Leben lang nur gearbeitet, damit die Braut schöner werden konnte.

Sie fühlt den Brief in ihrer Tasche.

Es wäre jetzt ein Leichtes, ihn unbemerkt und doch sichtbar irgendwohin zu legen.

Aber jetzt will sie nicht, vielleicht – dass sie darauf noch nicht gekommen ist! – ist es ein Liebesbrief und die beiden würden über sie nur lachen, die ihnen in ihrer Naivität geholfen hat.

Oder könnte sie durch ihn doch reich werden? Es wäre schön, und eine prickelnde Genugtuung, von dem Geld der Braut gut zu leben.

Wie sie tut, als ob sie eine ganz andere Art Mensch wäre! Ja, Shirley hätte Lust, ihr zu verraten, dass sie über sie mehr weiß, als sie ahnt.

Die Braut hebt die Augen jetzt vom Spiegel und erinnert sich der Büglerin.

»Ich muss Ihnen ja Ihre Arbeit geben, der Schleier liegt dort über dem Stuhl.«

Sie wendet sich an den jungen Mann. »Du musst jetzt wirklich gehen. Siehst du, ich bringe dir Opfer, ich muss deinetwegen altmodische Museumsstücke tragen.«

»Dieses Opfer bringst du deinem Vater und den Zeitungen.«

»Aber du wirst auch zufrieden sein, wenn du die schönen Berichte über unsere Hochzeit lesen wirst.« Sie gibt Anweisungen an die Büglerin. »Geben Sie nur recht acht, mehr als auf Ihr Leben. Dieser Schleier wird fotografiert, man wird Artikel über ihn schreiben, er ist über dreihundert Jahre alt. Dinge haben es doch besser als Menschen. Sie werden nur deshalb für besonders bewunderungswürdig gehalten, weil sie alt sind.« Der Schleier in vergilbtem Goldton zeigt auf weiter Fläche das Leben, das Märtyrertum und die himmlische Hochzeit einer Heiligen. Das Symbol ihrer Heiligkeit sind Rosen: auf dem pergamentfarbenen Hintergrund wachsen spinnwebdünne Rosen; ein üppiger Rosenwald umgibt die Heilige; ihre Hochzeit findet in einem Rosenhimmel statt, und die Mutter Gottes schwebt über ihr auf Wolken von Rosen. Der junge Mann verlässt jetzt den Raum. Die Tür wird zugemacht, die Gästeschar verschwindet von dem Hintergrund des Spiegels.

Shirley und die Büglerin legen sehr vorsichtig den Schleier zwischen wattierte Bretter. Marjorie mahnt sie wieder zur Vorsicht. »Sie müssen sehr vorsichtig sein, dieser Schleier ist eine sehr große Seltenheit; er hat vier Frauen das Augenlicht gekostet.«

Die Negerin lässt einen Zischlaut zwischen den Zähnen ertönen, und Shirley blickt böse auf die Braut. Diese legt jetzt ihre Perlen um, große, gleichmäßige, irisierende Perlen, die mit ihrem Schmelz die Zartheit der Haut noch unterstreichen.

Marjorie sieht in die aufgerissenen Augen der Negerin und lacht.

»Ob das auch wirklich auf Wahrheit beruht, kann ich freilich nicht beschwören, aber es existiert eine Urkunde darüber. Das Dokument gehört zum Schleier und erhöht seinen Wert.

Mein Vater hat beides zusammen gekauft. Ich finde es amüsant, dass man schon damals auf diese Art Reklame gemacht hat. Mit der Wahrheit nahm man es wahrscheinlich auch nicht allzu wörtlich –, ganz wie bei uns, wo das Publikum ein Kinostück erst richtig genießt, wenn es erfährt, dass dabei mehrere Menschen verunglückt sind.«

»Es kommen auch sonst viele Menschen bei der Arbeit um, und man macht damit keine große Reklame.« Shirleys Stimme zittert, aber sie sieht unentwegt in die Augen der Braut, die das Wäschermädchen spöttisch und verwundert anblickt.

Machte sich die Kleine etwa auch Gedanken? – das ist ja interessant.

Sie beginnt in ihrer Handtasche zu kramen, reicht Shirley eine Dollarnote.

Shirley wirft den Kopf zurück, legt die Hände hinter den Rücken, ihr Mund ist ein ganz schmaler Streifen. Du wirst mich nicht so billig los, meine Liebe! Ihre Augen verlassen nicht das Gesicht der Braut. Du wirst noch mit ganz anderen Summen herausrücken müssen, glaub nur ja nicht, dass ich nicht weiß, wer du bist und was du bist. Aber sie sagt nichts; ihre Lippen bleiben fest verschlossen. Marjorie hebt nur ein wenig die Schultern. Sie versteht nicht, wird sie gehasst, warum? Sie gibt die Note der Büglerin. Die Negerin hat die Gnade, sie mit der Gebärde einer Königin und mit einem spöttischen Seitenblick zu nehmen. Marjorie findet diese Leute unerträglich frech. Solche Unverschämtheit ist kaum zu glauben; sie hätte mit ihnen nicht sprechen, sich überhaupt nicht mit ihnen einlassen sollen. Man muss ja geradezu Angst haben, mit ihnen allein zu bleiben.

Shirley wendet keinen Blick von Marjorie. Ihre Augen verraten ganz offen ihren Hass. Sie möchte sich auf sie werfen, ihr die Perlen abreißen, den Schleier zerfetzen. Sie hätte nicht übel Lust, zu den Gästen hinüberzulaufen und alles zu erzählen, was sie weiß. Den Brief zeigen! Sie könnte dieser Puppe schaden, wenn sie wollte, sie könnte einen Skandal machen. Aber was würde ihr Freund dazu sagen? Er würde ihr das nie verzeihen.

Marjorie hat Angst; sie fürchtet sich vor der großen, starken Negerin, die auf sie herabsieht. Sie fürchtet sich vor der Kleinen, die so wild dreinblickt, – und atmet auf, als die Tür geöffnet wird und die Zofen hereinkommen, um sie fertig zu machen.

Der Schleier liegt jetzt tadellos geglättet über dem Stuhl.

Auf einen Augenblick sieht man wieder die glänzende Gästeschar.

Shirley und die Büglerin sind entlassen. Shirley hat nichts getan, nichts gesagt, der Brief ruht unberührt in ihrer Tasche.

»Du zitterst ja, Süßes.« Die Negerin legt ihre Arme um Shirleys Schultern. »Warum regst du dich auf, Shirley? Das hilft gar nichts, damit kommt man nicht vorwärts. Glaube mir, man muss es schon auf eine andere Weise versuchen.«

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06 aralık 2019
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