Kitabı oku: «Gargoyles», sayfa 3
sie machte eine kurze Pause, steckte die Feder zurück in das Tintenglas und starrte geradeaus. Wieder sah sie Bildfetzen vor ihrem geistigen Auge. Mehrere Figuren in der fernen Zukunft offenbarten sich ihr in dieser Vision. Ihre Hand verkrampfte sich um die Schreibfeder, so heftig, dass sie das Ende mit der Feder abbrach. Die Bilder vor ihrem geistigen Auge wurden schwächer, die Vision war abgeklungen. Die Hexe schürte nochmals ihre verbliebenen Kräfte, nahm die kaputte Schreibfeder und führte ihre Prophezeiung zu Ende. Dann legte sie sich in ihr Bett. Die Flammen hatten ihr nicht verraten, wo die Gargoyles sich befanden. Ohnehin war Abigail zu krank, um sich auf eine erneute Abenteuerreise zu begeben. Und die Zeit der Gargoyles war noch nicht gekommen. Ebenso hatte sie ein weiteres wichtiges Detail über die Zukunft erfahren, was ihre und Georges Blutlinie betraf. Es beruhigte ihr Gewissen. Am Abend des 23. Julis 1622 machte Abigail Lane noch zwei Atemzüge und starb in ihrem Bett. Christopher fand ein an ihn adressierten Brief eine Woche nach dem Tod seiner Mutter, der den Schlüssel zur Erlösung der Gargoyles enthielt.
Freya
Die Luft war stickig am Abend des 04. Augusts. Sie fühlte sich wie ein dicker Brei an, der so zäh in seiner Konsistenz war, dass man ihn nur mit sehr viel Flüssigkeit und durch Würgen die Kehle hinab bekam und dabei hoffte, nicht zu ersticken. Freya, Viktors und Lavendias Zweitgeborene, kümmerte das nicht. Wie immer zog sie über der St. Paul’s Cathedral ihre Kreise. Der Klan der Grimm hatte die Kirche zu einem ihrer sicheren Zufluchtsorte gemacht. Unter der Kathedrale hatten die Grimm sich einen Stützpunkt errichtet, einer von vielen. Die Grimm konnten zwar mehr Standorte verzeichnen als ihre Feinde, aber es fehlte ihnen an Besatzung. Vieler dieser Gargoyles waren im Kampf gegen die Pearce gefallen, denn sie hatten die besseren Krieger. Freya war weder eine Wächterin noch diente sie im Rat. Ihr Herz war frei, ebenso ihr Geist und sie kannte keine Furcht. Freya wusste um die Risiken ihrer nächtlichen Streifzüge und dass sie jederzeit einem Feind in die Arme laufen konnte. Doch aus einem unbestimmten Grund schien sie für die Wächter der Pearce unsichtbar zu sein. Sie hatte es in der Vergangenheit immer wieder geschafft, von Punkt zu Punkt zu fliegen, ohne dabei von Beobachtern gesehen zu werden oder gar in eine Falle zu tappen. Entweder war es stets nur unverschämtes Glück gewesen oder sie hatte tatsächlich einen qualifizierten Schutzengel an ihrer Seite. Heute Nacht schwebte die dunkelhaarige Schönheit über einem ihrer liebsten Orte. Sie mochte die St. Paul’s Cathedral mehr als Westminster Abbey. Wenn es nach ihr ginge, würde sie fortan lieber dort hausen. Einesteils, weil ihr die Machart des Gebäudes mehr zusagte, anderseits wäre sie dann endlich frei von dem nervigen Schutz ihres Vaters. Viktor sah es nicht gerne, wenn Freya sich herausschlich und auf eigene Faust die Stadt erkundete. Er fand ihr Verhalten grob fahrlässig und hatte sie schon Dutzende Male für ihre Vergehen bestraft. Aber keine Strafe dieser Welt konnte Freya von ihrem Drang nach Freiheit abhalten. Dass andere sich unnötig für sie in Gefahr brachten, war ihr nie in den Sinn gekommen. Als jüngstes von drei Kindern und somit dem untersten Rang entsprechend, musste Ash regelmäßig ausfliegen, um seine Schwester zurück an die Leine zu nehmen wie ein entflohener Hund. Das letzte Mal war er einem gegnerischen Wächter begegnet und es war zum Kampf gekommen. Ash hatte zwar gesiegt, aber der andere muss wohl erst mit seinem Training begonnen haben und war seinem Kontrahenten nicht gewachsen gewesen. Ash hatte bedauert, den Jungen getötet zu haben und seine Leiche zwischen den Mülltonnen in einer engen Seitengasse liegen gelassen zu haben. Er hatte Freya, die er bei der All Hollows by the Tower Kirche gefunden hatte, angebrüllt, ihr seine blutigen Hände gezeigt und sie gefragt, ob es das wert sei? Dass man sich ihretwegen in Gefahr begeben musste, nur weil ihr der Arsch nach Abenteuer in Londons Straßen juckte? Sie hatte verstohlen gelächelt, war zwei Wochen unterhalb Westminster Abbey geblieben, ehe sie erneut das Weite gesucht hatte.
Jetzt tanzte sie einen letzten Reigen über den Dächern der St. Paul’s Cathedral, während über ihr die blassblauen Sterne zu ihr hinabblickten wie Glitzersteine an einem Samtvorhang. Anmutig drehte sie sich hoch oben in der Luft wie eine graziöse Tänzerin in einer Ballettaufführung. Ihre schwarzen Locken folgten den sanften Bewegungen ihrer Kreise. Sie trug ihr perlweißes Spitzenkleid, das an den Hüften glockenförmig auseinanderging und kurz unterhalb ihrer Knie aufhörte. Freya genoss die kühle Nachtluft auf ihrer Porzellanhaut. Sie fror nicht, allgemein tat ihre Spezies das nicht. Viktors Tochter liebte es, wie ihre Flügel die Luft beiseite drängten, sie sich fallen lassen konnte und im letzten Moment ihren Rettungsschirm aufspannte, der sie wie eine Feder im Wind gleiten ließ. Freyas Flügel waren ebenso missgestaltet wie die der anderen Gargoyles. Ledern, an den Ecken zerfressen, als hätte ein Nagetier daran gekaut und zwischen drin spannte sich ein scharlachrotes Netzwerk aus kleinen Äderchen auf. Es ruinierte jedes Mal das Gesamtbild. Und wäre sie nicht mit makelloser Schönheit gesegnet gewesen, hätte man sie in der Tat für einen von Gott gesandten Engel gehalten. Anders als Ash empfand Freya beim Anblick ihrer dämonengleichen Flügel keine Abstoßung. Sie war, wie sie war, daran konnte sie nichts ändern. Auch eine lächerliche Prophezeiung konnte daran nichts ändern. Und Freya hatte keine Zeit, einer sinnlosen Legende hinterherzujagen oder sich über ihren größten Makel zu sorgen. Sie ignorierte die Zeichnung durch des Teufels Hand, die auf ihrem Rücken mit ihr verbunden war wie siamesische Zwillinge. Stattdessen suchte sie die Freiheit, die ihr Vater ihr verwehren wollte. Regelmäßig widersetzte sie sich Viktor. Bei der St. Paul’s Cathedral war sie ebenso sicher wie bei Westminster Abbey. Viktor zog es allerdings vor, sie in seiner Nähe zu wissen. Freya erkannte es nicht als väterliche Fürsorge an, sondern als eine Art Kontrollzwang. Nicht sie war schuld an der Misere, aber Viktor und er wiederum ließ Ash dafür bezahlen. Etwas an Westminster störte sie. Sie wusste nicht, ob es der Geruch war, die Menschen, die dort vorbeikamen und die sie manchmal schon beobachtet hatte. Oder die vielen Gräber von berühmten Persönlichkeiten wie Heinrich dem Dritten, Charles Dickens, Georg Friedrich Händel und nicht zu vergessen dem Denkmal für William Shakespeare. Bei dem Anblick der Begräbnisstätten und selbst dem Gedanken daran bekam sie das Fürchten. Also war einer ihrer liebsten Zufluchtsorte seit jeher derselbe. Freya zog ihre Flügel ein und ließ sich wie ein Adler im Sturzflug nach unten fallen. Wie ein Segelschirm öffneten sich ihre ledernen Flügel, die wie die eines Drachen aussahen, rot und schwarz gefärbt waren und fingen sie in letzter Sekunde auf. Sie landete auf dem kuppelförmigen Dach der Kathedrale, faltete ihren Rettungsschirm ein und stieg die Treppen hinab in die Kirche.
Alex
Alex Lane saß in seiner viel zu kleinen Studentenwohnung. Hier hatte er nicht einmal genügend Platz für einen Fernseher, geschweige denn für ein Bücherregal. Das Zimmer bestand nur aus einem Bett, einem Schreibtisch mit einem Stuhl und einem Fenster, das auf eine Hausmauer zeigte. Als er vor zwei Jahren von Salem nach London gezogen war, um Kunst und Kunsthistorie zu studieren, hatten seine Ersparnisse nicht für mehr ausgereicht. Alex Mutter Judith war im Alter von vierzig zur Witwe geworden, als er achtzehn und sein Bruder Hamilton sechzehn gewesen waren. Jetzt war er zweiundzwanzig, sein Vater seit vier Jahren unter der Erde und sein Bruder immer noch ein Nichtsnutz. Judith hatte Alex zum Abschied 100 Dollar zugesteckt, für ihre Verhältnisse sehr viel. Das Geld war im Nu aufgebraucht. Alex war zwar kein Prolet, der mit Asche um sich warf und alle seine Freunde in der Bar auf eine Runde einlud. Aber das Leben war teuer und Judith hatte ihrem Sohn auch keine weitere finanzielle Unterstützung zukommen lassen. Sie hätte es können, wenn sie einen guten Job gehabt hätte. Aber sie arbeitete in McFry’s Frittenbude an der 45. Eine fiese Absteige, die bekannt dafür war, ihr Frittierfett nicht allzu oft zu wechseln und es auch sonst nicht mit der Hygiene hatten. Wo schmierige Typen auf einen mittelmäßigen Burger, zu Tode frittierte Pommes frites, einem geschmacklosen Milchshake und lauwarmen Kaffee vorbeikamen, sich auf die ramponierten Barhocker am Tresen setzten und ihnen der Arsch aus der Hose hing. Und wenn die Tür dieser Spelunke aufflog, stieß einem immer der Geruch aus altem Bratfett und Zigarettenrauch ins Gesicht. Der Betreiber, genannt Jon Hugh, war ein widerliches Arschloch, ein fetter Kerl, dessen von Burgern und Speck geschwängerter Ranzen über die zu eng zugezogene Hose baumelte wie ein zwanzig Kilo schwerer Sack Kartoffeln. Er zahlte nicht annähernd so viel, wie er eigentlich hätte sollen. Aber Judith und ihre Kolleginnen waren froh, überhaupt einen Job zu haben bei ihren Qualifikationen. Nachdem Paul, Alex und Hamiltons Vater, von ihnen gegangen war, hatte die Frau plötzlich für die Familie sorgen müssen. Sie hatte keinen Schulabschluss, hatte mit vierzehn die Schule geschmissen und sich durchs Leben geboxt. Dann war sie Paul begegnet und er hatte sie gezähmt. Hatte sie von ihrem Trip heruntergeholt. Er hatte sie auf Händen getragen und ihr versprochen, für immer und ewig für sie zu sorgen. Ein Versprechen bedeutet nichts, wenn sich der Allmächtige dazu entschließt, einen rechtschaffenen Bürger zu sich zu holen. Judith hätte wieder arbeiten gehen können, nachdem ihre beiden Jungs groß genug gewesen waren. Aber sie war faul, sie war faul und Pauls Einkommen war immer genug gewesen. Alex Bruder Hamilton war ganz nach seiner Mutter gekommen, während er in die Fußstapfen seines Vaters getreten war. Schlau, zielstrebig, mit Stolz hatte Judith den Werdegang ihres ältesten Sohnes verfolgt, wie er seinen Collegeabschluss mit Bestnoten gemacht und vor zwei Jahren die Zusage für die Aufnahme an der Uni bekommen hatte. Sie war besorgt gewesen, Alex hatte zwar ein Stipendium erhalten, aber es deckte nicht sämtliche Kosten. Ihr Sohn hatte sich durch Ferienjobs und andere Tätigkeiten in der Nachbarschaft ein kleines finanzielles Polster geschaffen. Tja, die Realität hatte ihn hart getroffen wie ein Schläger einen Baseball. Von Luxus konnte er nur träumen. Und Kunst? Warum musste es ausgerechnet Kunst sein, hatte Judy sich gedacht. Warum konnte er nicht ein Studium beginnen, von dem er später gut leben konnte, wie beispielsweise ein Medizinstudium? Sein Bruder hatte ihn damit aufgezogen, was für eine Schwuchtel er doch sei, etwas wie Kunst zu studieren.
„Das ist was für Schwanzlutscher, hälst du dich für was Besseres?“
Was Karriere und Zukunftspläne betraf, war Hamilton ebenso ein Versager wie seine Mutter, nur das diese wenigstens einen Job hatte, wenn auch gezwungenermaßen. Alex Bruder war von der Schule aufgrund schlechten Benehmens, den andauernden Verwarnungen und ständigen Raufereien mit seinen Mitschülern geflogen. Des Öfteren war er mit der Polizei in Berührung gekommen, hatte die eine oder andere Nacht in der Ausnüchterungszelle verbracht. Er war der Schandfleck und der Dorn in Pauls Auge, der es aufgegeben hatte, sich mit ihm abzumühen und sich stattdessen auf Alex konzentrierte. Er nahm ihn zu sich, wenn er in seiner kleinen Werkstatt hinter dem Haus werkelte, hämmerte und zimmerte. Es war sein Zufluchtsort vor der Realität, dort konnte Paul seiner künstlerischen Ader freien Lauf lassen. Alex hatte nie verstanden, was sein Dad an seiner Mom fand und sie geheiratet hatte, immerhin konnten sie nicht unterschiedlicher sein. Bis er herausfand, dass er der Grund gewesen war. Judith war ungeplant von Paul schwanger geworden und hatte ihm so gehörig die Suppe versalzen. Pauls Ehre bedeutete ihm allerdings zu viel, deshalb war er bei ihr geblieben und hatte sie geehelicht. Als Hamilton dann zur Welt kam wurde alles nur noch schlimmer, bis Paul vor Kummer erkrankte und starb. Nach dem Tod ihres Mannes musste Judith die Zügel in die Hand nehmen und ihr jüngstes Kind war ihr dabei keine Hilfe gewesen. Im Gegenteil, manchmal stahl er seiner Mutter das letzte bisschen Geld und versoff es. Wenn Arbeiten am Haus entstanden, sie mal wieder pleite war, fand Judith eine andere Lösung, ihre Schulden zu begleichen, indem sie ihre Beine breitmachte. Schon bald hieß es in Salem, im Hause Lane würde eine Hure hausen und sie würden ihr die rote Laterne vor die Tür hängen. Ein weiterer Grund für Alex, aus Salem abzuhauen. London war anders als seine Heimat. Die Stadt gefiel ihm richtig gut, nicht zuletzt, weil es dort so vieles an Kunst und Kultur zu entdecken gab. Auch wenn er in dieser mickrigen Pissbude hauste, immerhin hatte er es geschafft und er hatte ein Dach über dem Kopf. Es war hier so vieles besser, er würde fast sagen, er hatte sich in die Metropole verliebt. Und wenn seine Mutter zuweilen anrief oder er sie, was selten vorkam, dann spürte er kein Heimweh.
Hi, wie geht es dir, Alex? Läuft alles gut?
Ja, Mom, ich kann mich nicht beschweren. Wie geht es dir? (Kein Wort über Hamilton)
Mir geht es auch gut.
Lange Stille…
Okay, wir hören voneinander.
Das Geräusch eines Telefonhörers, der aufgelegt wird.
Als Alex nach London gezogen war, hatte er die letzten Reste seines Vaters mitgenommen und Judith war in ihrem Trott geblieben. Morgens aufstehen, Kaffee kochen, kurz nachsehen, ob Hamilton noch lebte oder ob er mal wieder in einer Ausnüchterungszelle saß. Zur Arbeit fahren, den Leuten minderwertiges Essen servieren, am Abend heimkommen und nach Fritteuse stinken. Alex war sich sicher, inzwischen musste ihr Haus wie eine Müllhalde aussehen und sie und Hamilton waren die Waschbären, die darin hausten. Er begann mehr und mehr, seine Wurzeln zu vergessen. Jetzt saß er hier, auf seinem Klappbett, hatte die Beine zu einem Schneidersitz geformt und ein Buch auf seinem Schoß aufgefaltet. Seine Finger berührten den Anhänger, der an einer vergoldeten Kette um seinen Hals hing. Es war ein rechteckig geschliffenes Medaillon, mit einem Verschluss an der Seite. Bizarrerweise ließ er sich nicht mehr öffnen, das Schmuckstück war so gut verschlossen, als hätte es jemand von innen heraus zugeschweißt. Es war ein Erbstück seines Großvaters und seit vielen Jahrhunderten im Besitz der Familie Lane, war immer an den nächsten weitergegeben worden. Als ältestem Nachkommen hatte Adam Lane, Alex Großvater, den Anhänger zunächst Paul gegeben und der hatte ihn Alex vermacht, mit den Worten, das Schmuckstück würde ein großes Geheimnis enthalten. Als die Rechnungen sich wieder gestapelt hatten, spielte Judith mit dem Gedanken, das schmucke Teil zu versetzen, immerhin sah es wertvoll aus. Aber sie konnte es nicht und schämte sich zutiefst, überhaupt daran gedacht zu haben.
Du blöde Kuh weißt doch, was er deinem Sohn bedeutet, was er deinem Mann bedeutet hat.
Alex hatte sie weinend am Küchentisch gefunden und ihr von seinem Ersparten gegeben, damit sie zumindest die Rechnungen bezahlen konnte, bei denen sie bereits die zweite Mahnung erhalten hatte. Dafür hatte er von Hamilton aufs Maul bekommen.
Du Arschloch lässt mich dastehen, als wäre ich der schlimme Bruder.
Du Penner, das bist du ja auch, hatte Alex sich gedacht, es aber nicht laut ausgesprochen.
Der junge Mann ließ von dem Medaillon ab. Er richtete seine graublauen Augen auf die nächste Seite in seinem Buch, welches ihm die großen Geheimnisse der Kunsthistorie offenbarte und ihn vergangenes Semester ein kleines Vermögen gekostet hatte. Eine Strähne seines weizenblonden Haares fiel ihm ins Gesicht und er streifte sie mit zwei Fingern beiseite. Ihm war langweilig, seine Augen wurden vom Lesen immer schwerer und er hatte erst die Hälfte durch. Was sollte er als Nächstes tun? Ihm war nicht danach, sich auf einem der zahlreichen Streamingdienste auf seinem Computer einen Film oder einen kostenlosen Porno anzusehen und dazu zu onanieren. Er blickte durch das Fenster, es war bereits Nacht. Diese scheiß Mauer, dachte er bei sich, stand vom Bett auf, schnappte sich seine Schlüssel aus dem Kästchen neben der Tür und ging hinaus. Auf dem Flur sah er Terry aus dem Gemeinschaftsbadezimmer kommen. Er hatte nur ein Handtuch um seinen Lendenbereich gewickelt, der Rest von ihm war nackt. Feine Wasserperlen glitzerten im Schein der Neonröhren auf Terrys stählernem Körper.
„Hi Alter“, grüßte er Alex kurz, schloss die Tür zum Badezimmer, die mit dem vielen Dampf wie das Innenleben einer Wahrsagerkugel aussah. Alex grüßte ihn zurück. Terry war ebenfalls Student, aber aus einer anderen Fachrichtung. Der Junge mit den rotblonden, lockigen Haaren, dessen Körper wie der von Channing Tatum zu Bestzeiten aussah, war ein Weiberheld. Die Studentinnen gingen bei ihm ein und aus wie räudige Katzen. Alex dachte sich oft, bis Terry mit seinem Studium fertig wäre, hätte er sie alle flachgelegt. Die Hübschen, die Hässlichen, die Schlanken, die Korpulenten, ja sogar die Professorinnen. Das Studium selbst war für den Rotschopf nur Nebensache. Alex lief das Treppenhaus hinab, gefolgt von dem sterilen Licht der Neonröhren an den Decken, die ihm immer das Gefühl gaben, in einen dieser Underground Horrorfilme geraten zu sein. Er musste raus aus dem Wohnheim, wollte rein in das nächtliche London, auch wenn dieses nicht mehr dasselbe war, seitdem die Menschheit sich fast selbst ausgelöscht hatte. Ihm ging es um die Kunst und Kulturstätten, etwas, das nie aussterben würde, dachte er bei sich. An diesen Orten fand er noch jedes Mal Frieden und Ruhe. Alex entschied sich für einen Abstecher in den Hyde Park, der inzwischen vor Kunst aus allen Nähten platze und sein Herz einen Gang beschleunigen ließ. Er lief die Straße hinab, wollte die U-Bahn nehmen, da es zu Fuß zu weit war. Er tastete nach seinem Geldbeutel in seiner Jackentasche, um zu kontrollieren, ob er sein Studententicket für die U-Bahn auch dabei hatte, als ein Regen aus Asche einsetzte. Kleine graue Flocke landete auf seiner Hand. Im Sekundentakt kamen sie jetzt vom Himmelszelt herab und legten sich wie ein Mantel aus Staubmäusen auf seine Kleidung und sein Haar. Ein Wetterleuchten gesellte sich hinzu und ein tiefes Grollen wie das eines hungrigen Wolfes verriet Alex, dass er sich mitten in einem herannahenden Gewitter befand. Zum nächsten U-Bahn Schacht war es noch zu weit, zum Hyde Park auch. Als er nach rechts blickte, gab das gabelförmige Zucken eines Blitzes die Sicht frei auf ein kuppelförmiges Dach, das ihn zugleich an die hügelförmigen Wackelpuddings erinnerte, die seine Großmutter für ihn und Hamilton immerzu gekocht hatte. Der Schrei des Donners fuhr ihm in die Knochen und er warf seinen ursprünglichen Plan über Bord. Heute Nacht gäbe es für ihn keinen Spaziergang durch den Hyde Park. Ersatzweise wollte er sich mit der Innenarchitektur der St. Paul’s Cathedral etwas mehr vertraut machen. Er lief auf den Westeingang zu und in dem sterbenden Grollen des Donners war ihm, als höre er in der Luft das Rauschen von Flügelschlägen.
Diese verdammte eigensinnige Göre, raste es mit wütender Kraft durch Ashs Gedanken. Warum musste er für Freyas Sünden büßen? Nur weil er der Jüngste von drei Kindern war? Und warum zum Teufel konnte Freya sich nicht fügen? Vielmehr noch, warum konnte Vater sie nicht endlich in Ruhe lassen und akzeptieren, dass sie Westminster nicht mochte? Das alles rauschte durch seinen Kopf wie ein Formel 1 Pilot über die Rennstrecke. Die St. Paul’s Cathedral gehörte zu ihren Schlupflöchern, zu ihren sicheren Unterkünften. Unterhalb dieser Mauern war sie sicher. Freya war kein kleines Kind mehr, sie konnte gut auf sich selbst aufpassen. Ash hatte ihr sogar ein paar Tricks im Kampf gezeigt, natürlich nur für den Notfall und der war bisher noch nie eingetreten. Wenn sie also innerhalb der Sicherheitszone blieb, konnte ihr nichts passieren. Anders als bei ihm. Er hatte Westminster auf Befehl seines Vaters verlassen müssen und befand sich außerhalb der Schutzlinie. Der Weg zwischen St. Paul und Westminster war nicht allzu weit, für ein geflügeltes Wesen nur ein Katzensprung. Trotzdem konnte er dem Feind begegnen. Er wusste nicht, ob die Pearce Wächter ausgesandt hatten oder nicht. Niemand wusste das, es war ein Katz und Maus Spiel. Es ging darum, den Feind zu dezimieren und das gegnerische Terrain zu fordern. Wo und wann Vergeltungsschläge eintrafen, konnte keiner der Klans voraussehen. Zwar hatten die Grimm und die Pearce unterhalb vieler berühmter Denkmäler ihr unterirdisches Reich erschaffen, aber den Weg von einem Stützpunkt zum Nächsten mussten sie über Tage zurücklegen. Ihre einzelnen Posten waren über Funksysteme, Satelliten und zahlreichen Monitoren miteinander verbunden. Überwachungskameras an den wichtigsten Stellen halfen den Klans dabei, den Feind im richtigen Moment kommen zu sehen. Leider gelang ihnen das nicht immer. Es gab Momente, da waren die Schwachstellen der Techniken vom Gegner ausgenutzt worden. So wie damals, in der einen Nacht, an der Seven Sisters Underground Station, als …
Nein! Ash verdrängte diesen finsteren Gedanken rasch. Er sperrte ihn zu den anderen Monstern in die Kiste. Nicht genug, dass die Grimm und die Pearce sich seit mehr als zweihundert Jahren bekämpften und ihre Gefechte hauptsächlich auf den Straßen Londons austrugen, was der Stadt dazu verholfen hatte, als verflucht zu gelten, denn in regelmäßigen Abständen wurde jemand aus dem Nichts heraus umgestoßen wie ein Kegel auf der Bowlingbahn, verfing sich in einem der Flügel eines Gargoyles und wurde mitgezerrt, oder ihm fiel ein herabfallender Backstein auf den Kopf, weil die Kämpfenden wieder Eigentum beschädigt hatten. Ash hatte immer noch das Problem mit seiner Schwester an der Backe und es würde eines bleiben, wenn Freya nicht endlich lernte, zu gehorchen oder sein Vater seine Haltung überdachte. In dem Fall konnte Ash warten, bis er schwarz wurde. Geplagt von seinen Gedanken legte der Wächter einen Zahn zu und betete, von keinem feindlichen Späher entdeckt zu werden. Er könnte es unbemerkt schaffen, denn er war schon fast da.
Alex hatte sich vor dem aufkommenden Gewitter in die St. Paul’s Cathedral geflüchtet. Kurz zuvor hatte auch Freya ihren nächtlichen Flug oberhalb der Kuppel beendet und sich ins Innere begeben. Sie saß auf der Brüstung, der die große Hauptorgel einschloss und ließ ihre Füße nach unten baumeln. Das fahle Licht der gedimmten Leuchten zu den Wänden verwandelte das gesamte Interieur in eine kuschelige Atmosphäre. Freyas Augen waren nach unten auf das mittlere Schiff der Kirche gerichtet, wo sich lange Holzbänke in akkurat bemessenen Abständen hintereinander aufreihten. Dann wandte sich ihr Blick nach oben, zur Deckenmalerei hin. Sie hätte dieses Gemälde die ganze Nacht lang angucken können, wäre sie nicht vom Geräusch einer sich öffnenden Tür abgelenkt worden. Die Angeln des Vordereingangs gingen mit ihrem typischen Knarzen auf. Ein Geräusch, das sie nur zu gut kannte. Allerdings war es später Abend und sie hatte nicht damit gerechnet, dass noch jemand vorbeikommen würde. Warum schloss man die Türen denn nachts nie ab? Weil es eine Kirche ist, du blöde Kuh, und Gott immer für die Menschen erreichbar sein muss, dachte sie bei sich. Es erinnerte sie an diesen Flyer für die Servicehotline eines Internetkonzerns. Wir sind täglich 24h für Sie erreichbar. Es brachte sie zum Schmunzeln, denn sie stellte sich Gott wie einen Telefonisten vor, der sich die Sorgen der Menschen anhörte und dementsprechende Maßnahmen einleitete. Oder auch nicht, wenn es nicht nötig war und man einfach nur ein freundliches Vielen Dank für Ihren Anruf zurückbekam. Als Freya dann die Schritte vernahm, die sich nach vorne in ihre Richtung bewegten, kletterte sie von der Brüstung runter. Sie war im Begriff, das Orgelpodium zu verlassen, aber ihre Augen erhaschten aus den Winkeln heraus einen jungen Mann. Freya hatte schon so viele Menschen kommen und gehen sehen. Manchmal tat sie nichts anderes, als stundenlang an einem sicheren Ort in der Kathedrale zu verweilen und die Sterblichen zu beobachten. Sie scheute weder ihre Nähe, noch hatte sie Angst, mit ihnen in Berührung zu kommen. Ihre Augen hatten schon alles gesehen, Menschen, die schlank waren, die korpulent waren. Menschen, die alt und gebrechlich waren oder eben noch sehr rüstig und sportlich wirkten. Sie nahm sie zur Kenntnis und manchmal spann sie sich ihre eigenen Gedanken zu ihnen. Aber noch nie hatte ihr Herz dabei einen solchen Tanz aufgeführt wie gerade eben. Der Mann, der dort unten durch den mittleren Gang lief und sich akribisch umblickte, als suche er etwas Bestimmtes, war von einer unvergleichlichen Magie umgeben, wie Freya sie nie gesehen hatte. Sie konnte nicht aufhören, ihn anzustarren und bemerkte nicht, dass sich ihre Flügel wieder öffneten, als wollten sie sie zu dem geheimnisvollen Fremden tragen. Der junge Mann stand jetzt ganz nah unterhalb der Orgel. Noch war sein Blick auf den unteren Teil der Kirche gerichtet, was Freya die Chance einräumte, ihn genauer zu beobachten. Er hatte weizenblondes Haar, das ihm bis zur Hälfte seines Nackens reichte, was ihr sehr gefiel. Und sein Gesicht, es war von einer immensen Stärke gezeichnet. Einer Willenskraft, die es vermochte, Mauern einzureißen. Freya war gepackt von diesem Mann. Sie ließ es zu, sich völlig in seiner Aura zu verlieren, denn diese hatte sich ungeahnt in ihrer Gegenwart weit geöffnet. Sie spürte die Narben auf seinem Herzen und dass das Leben nicht immer gut zu ihm war. Sie fühlte … herrje, konnte das denn möglich sein? Nach so vielen Jahren, in denen sie nun schon die Menschen beobachtete, dass sie zu diesem einen eine besondere Verbindung hatte? Eine Bindung, welche sie selbst nicht verstand, die sie aber neugierig machte. Ihre Trance wurde jäh unterbrochen, als die Seitentür mit einem durch die Gänge hallenden Krachen aufflog und nicht nur sie, sondern auch den jungen Mann aufschrecken ließ.
„Wusste ich doch, dass du hier bist.“ Ash hatte Freya gefunden. Seine violetten Augen glühten bedrohlich, seine Flügel zitterten vor Wut. Er stapfte auf sie zu und packte sie grob am Handgelenk.
„Du kommst jetzt augenblicklich mit mir, Freya. Und ich schwöre dir, wenn …“
„HEY“, schrie es von unten herauf zu ihnen.
Alex hatte den Mut gefunden, sich bemerkbar zu machen. Er sah hinauf zu den Gargoyles. Sein Blick küsste den von Freya. In diesem Moment stand die Welt der Gargoyles kopf. Seit Anbeginn ihrer Zeit hatten sie mit ihrem Fluch, nie gesehen werden zu können, lernen müssen umzugehen und ihn zu akzeptieren. Sie waren einst als große Kunst erschaffen worden, um von den Menschen bewundert zu werden. Und jetzt gab es einen, der sie sehen konnte. Alex sah die Engel mit den Teufelsflügeln.