Kitabı oku: «Anele - Der Winter ist kalt in Afrika», sayfa 2

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2.

Philipp liebte das herbstliche Wien. Er war schon eine Weile die Ringstraße entlang spaziert, deren Häuserfronten in der Oktobersonne klarer und gestochener hervortraten als während des Sommers.

Als er in den Volksgarten kam, der trotz des bereits recht kühlen Wetters noch immer sehr frequentiert war, leuchtete ihm das farbenfrohe Laub der Bäume wie eine aus Braun- und Rottönen bestehende Staffelei entgegen, auf der ein Maler die verschiedensten Farbmischungen ausprobiert hatte. Vor dieser Kulisse entspann sich reges Treiben. Mütter mit ihren Kindern, Studenten, Pensionisten und anderes Volk genoss so wie Philipp die wärmenden Sonnenstrahlen, immer im Bewusstsein, dass dies einer der letzten schönen Tage vor der grauen und feuchten Trostlosigkeit des Novembers sein konnte.

Wie die Farben des Herbstes mischten sich in Philipps Geist die Eindrücke des Tages zu seltsamen, immer neuen Kombinationen, von denen er nicht loskam. Vor allem wollte er sich eine Strategie zurecht legen, wie er auf diesen ganzen Rationalisierungs-Unsinn in der Bank, der ihn seiner Meinung nach frontal vor den Kopf stieß, reagieren sollte. Um den Grad seiner Verbitterung zu verstehen, muss erwähnt werden, dass bei Philipp eine bestimmte Eigenschaft im Übermaß vorhanden war, nämlich das Bedürfnis, gebraucht zu werden. Es war bei ihm so ausgeprägt, dass für ihn durch die Ankündigung seines Chefs, ihn in eine Art „Zwischenlager der Hoffnungslosen“ zu stecken, jede Sinnhaftigkeit seines weiteren Verbleibs in der Bank verloren ging. Es wäre für ihn demütigend gewesen, nur deshalb in der Bank bleiben zu können, weil dem Management eine Auflösung seines Vertrages wegen des Kündigungsschutzes zu mühsam erschien. Doch so sehr er sich auch den Kopf zerbrach, ihm fiel nichts besseres ein als abzuwarten, wie sich das Ganze weiter entwickeln würde.

Als er zu Hause angekommen war, fühlte er sich durch den Spaziergang in der frischen Luft, die wegen des stetigen Windes in Wien sauberer war als in den meisten anderen Großstädten, wieder etwas besser. Der frustrierende Tag in der Bank war dadurch etwas in die Ferne gerückt und er war von diesem ungewissen Drang, auf das alles reagieren zu müssen, einigermaßen befreit. Da es noch nicht allzu spät war, beschloss er, sich für eine Stunde hin zu legen, bevor er sich mit Babsi auf dem Stephansplatz treffen wollte.

Mit einem Ruck riss es Philipp aus dem Schlaf. Er wusste im ersten Moment nicht, ob es Morgen oder Abend war. Draußen war es bereits dunkel. Plötzlich schoss ihm durch den Kopf, dass er die Verabredung mit Babsi verschlafen hatte. Hastig griff er nach seiner Armbanduhr, die neben dem Bett lag. Sie zeigte Viertel vor Sechs. Das bedeutete, dass sich noch alles ausgehen konnte, wenn er sich nur beeilte. Er machte sich deshalb in aller Kürze im Badezimmer frisch, zog sich an und ging aus dem Haus. Mit der Straßenbahn fuhr er bis zur Oper.

Babsi erwartete ihn schon am Beginn der Kärntnerstraße vor einem „Starbucks Coffee“-Laden, der gerade renoviert wurde. Er sah sie schon von weitem, unruhig von einem Fuß auf den anderen hüpfend und sich die Hände reibend, weniger vor Kälte als vor Ungeduld, wie es schien. Obwohl er sich sehr beeilt hatte, war er zehn Minuten zu spät. Als er bei ihr ankam, entschuldigte er sich und gab ihr einen Kuss.

„Puh, heute ist es kalt. Nett, mich hier zehn Minuten stehen zu lassen. Bitte gehen wir gleich irgendwo rein und trinken etwas, ich erfriere sonst. Ich habe gehört, weiter vorne soll ein Italiener neu eröffnet haben, den könnten wir ausprobieren. Ich hab‘ seit Mittag nichts gegessen.“ Während des Schwalls ihrer Worte sah sie ihn gleichzeitig vorwurfsvoll und bittend an.

Babsi war nicht wirklich eine Schönheit. Sie war mittelgroß, schlank und hatte bis knapp unter den Hals reichendes, blond gefärbtes Haar. Ihre echte Haarfarbe kannte Philipp nicht und war auch noch nie auf die Idee gekommen, sie danach zu fragen. Ihre Gesicht war außergewöhnlich fein gezeichnet, was ihr eine attraktive Ausstrahlung verlieh, der man sich nur schwer entziehen konnte. Das und ihr impulsives Temperament war es, das Philipp vor allem an ihr liebte, da es mit seiner ruhigen, gesetzten Art gut harmonierte, manchmal allerdings auch sehr anstrengend war.

„Wir können hingehen, wo du willst. Ich habe heute keine bestimmten Absichten“, erwiderte er auf ihren Vorschlag, dachte sich dabei aber, dass er sicher nichts essen werde, da ihm nach dem heutigen Tag der Appetit vergangen war.

Sie schlenderten die von Schaufenstern, Reklamelichtern und Straßenlampen hell erleuchtete Kärntnerstraße hinunter, die um diese Zeit trotz der Kälte voller Menschen war und bogen beim Stephansplatz in den Graben ein, während Babsi ohne Unterbrechung von ihren Erlebnissen der letzten Tage erzählte. Sie war diplomierte Betriebswirtin und arbeitete in einer florierenden Unternehmensberatungsfirma, die meistens auch nach Dienst eines ihrer Hauptgesprächsthemen war, weshalb Philipp über sämtliche in der Firma kursierenden Gerüchte bestens informiert war.

„Gestern hat sich Fred wieder einmal aufgeführt, als ob er der Chef wäre. Er glaubt anscheinend, er wird Nachfolger vom Alten, der nächstes Jahr in Pension geht, aber Mike, sein Stellvertreter, hat mir erklärt, dass der gar nicht dran denkt, Fred für die Position auch nur in Betracht zu ziehen. Ich freu‘ mich schon darauf, sein Gesicht zu sehen, wenn er erfährt, dass er sich seine verblödeten Hoffnungen in die Haare schmieren kann. Der braucht wirklich einmal einen kräftigen Arschtritt, damit er wieder auf den Boden runter kommt.“ Babsi war wieder einmal beim Thema.

„Und hat er dir auch gesagt, wer für den Abteilungsleiter vorgesehen ist?“ Philipp fragte immer nach, wenn es um Babsis berufliche Angelegenheiten ging, auch, wenn er sich – wie heute – überhaupt nicht dafür interessierte.

„Das hat er mir natürlich nicht gesagt, aber wenn Fred aus dem Rennen ist, bieten sich ohnehin nur zwei an, die es werden können, Wolfgang oder ich. Wir sind die beiden dienstältesten. Wolfgang produziert außer heißer Luft zwar so gut wie nichts, aber er kann sich gut verkaufen und vor allem bläst er jeden mickrigen Erfolg, den er verbuchen kann, von Erbsen- auf Elefantengröße auf. Ich bin gespannt, ob Mike und Dr. Strasser auf ihn reinfallen.“

Philipp konnte dem Gedanken, dass Babsi Abteilungsleiterin werden könnte, zumindest heute absolut nichts Positives abgewinnen, da er seit dem Gespräch mit Erich seine eigene berufliche Zukunft in den düstersten Farben vor sich sah. Irgendwo tief drinnen war Philipp Traditionalist, auch wenn er es nie zugegeben hätte. Der Mann hatte das Einkommen zu sichern und die Frau war für den Haushalt zuständig, so gehörte es sich, so hatte er es in seiner eigenen Kindheit mitbekommen. Bewusst würde er solche Ansichten nie vertreten, wäre auch niemals auf die Idee gekommen, aus Babsi ein Hausmütterchen machen zu wollen, was ohnehin nicht möglich wäre. In Situationen wie jetzt wirkte aber die Kindheit nach und machte die Vorstellung, von Babsi ausgehalten zu werden, weil sein eigener Job den Bach runter ging – und sollte es auch nur für kurze Zeit sein – , vollkommen unerträglich für ihn.

Nach etwa zehn Minuten erreichten sie das Lokal. Babsi bestellte sich eine Pizza Capricciosa und dazu schwarzen Tee, eine etwas ungewöhnliche Zusammenstellung, aber das hatte ihr noch nie etwas ausgemacht. Philipp nahm einen Cappuccino. Er musste sich noch längere Zeit alle möglichen Erlebnisse der letzten beiden Tage anhören und fragte auch immer, wenn die Erzählung es erforderte oder Babsi es von ihm zu erwarten schien, freundlich nach, was dann so klang wie „Und was hat er darauf gesagt?“ oder „Tatsächlich, das hat er sich gefallen lassen?“. Als ihr Mitteilungsbedürfnis etwas nachließ, da sie alle Ereignisse der letzten Zeit zu ihrer Zufriedenheit aufgearbeitet hatte, rückte Philipp mit seinem Problem heraus. Einerseits wollte er ihr reinen Wein einschenken, da sie ja immerhin zusammen waren, andererseits schloss er nicht ganz aus, von ihrem Rat profitieren zu können.

„Ich muss dir was sagen, Babsi“, begann er zögernd, „ich werde vielleicht meinen Job verlieren.“ Babsi sah ihn verwundert an und er erzählte ihr die ganze Geschichte, wie sie ihm sein Chef heute in der Firma mitgeteilt hatte, so detailliert wie möglich. Merkwürdiger Weise schien das Ganze, so wie er es schilderte, für Babsi nicht wirklich ein Problem zu sein.

„Ist vielleicht gar nicht so schlecht“, entgegnete sie, „offensichtlich brauchen sie dich nicht mehr, können dich aber wegen deines Kündigungsschutzes nicht rausschmeißen. Überleg’ doch, in was für einer idealen Position du bist. Irgendwann werden sie dich wegen einer einvernehmlichen Lösung oder so was kontaktieren. Dann hast du sie in der Hand und holst alles raus, was möglich ist. Wenn du clever bist, geben sie dir einen ‚Golden Handshake’ mit dreifacher Abfertigung. Und zwei Monate später beginnst du bei einer anderen Bank. Mit deiner Erfahrung im Kreditbereich kann das doch kein Problem sein.“

Das Statement von Babsi war für Philipp einigermaßen überraschend. Eigentlich hatte er erwartet, bedauert oder bemitleidet zu werden. Wenn es auch auf eine gewisse Weise tröstlich war, dass jemand die ganze Sache so positiv sah, sträubte sich sein Innerstes doch mit aller Macht gegen eine solche Sicht der Dinge.

„Das sagst du so leicht, weil es dich nicht betrifft. Aber du würdest genauso reagieren wie ich, wenn du mir nichts dir nichts erfahren würdest, dass die Firma, in der du seit 20 Jahren gearbeitet hast, dich wegwirft wie einen alten Waschlappen, wenn sie dich nicht mehr braucht“, erwiderte er mit vorwurfsvollem Ton.

„Jetzt bleib‘ aber am Boden.“ Babsi ließ sich in ihrer Einstellung zu seinem „Problem“ nicht beirren. „Sie haben deine Abteilung verkleinert, das kommt vor. Du bist einer von denen, die nicht mehr gebraucht werden, auch gut. Was willst du jetzt? Trübsal blasen? Dich im Selbstmitleid baden und einreden, dass die ganze Welt furchtbar gemein zu dir ist und alle gegen dich sind? Merkst du nicht, wie krank das in Wirklichkeit ist? Diese übertriebene Loyalität, verbunden mit falschen Erwartungen nach Wertschätzung, Anerkennung und Dankbarkeit für die geleistete Arbeit ist der Grund dafür, dass die mit den meisten machen können, was sie wollen“, bemerkte sie mit Nachdruck.

„Also, ich bin total gerührt, wie mitfühlend du bist. Es ist doch wohl selbstverständlich, dass man die Nerven wegschmeißt, wenn man merkt, dass es den, für den man sich täglich den Arsch aufreißt, einen Scheißdreck interessiert, was man eigentlich tut. Wenn es nach mir ginge, würde ich gleich morgen alles hinschmeißen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du wirklich so denkst.“ Philipps Reaktion überraschte ihn selbst. Normalerweise vermied er jede Auseinandersetzung mit Babsi, weil er wusste, dass sie bei solchen Gelegenheiten sehr verletzend werden konnte. Aber diesmal ließ ihn seine sonstige Selbstbeherrschung im Stich. Als er geendet hatte, hatte er kurz das Gefühl, er müsste sich ducken, um aus der Schusslinie von Babsis gerade vorbereiteter Retoursalve zu kommen.

„Wen willst du mit dieser Kriecher-Scheiße beeindrucken? ‚Die Arbeit muss einem Sinn geben! Man muss merken, dass man dadurch etwas bewirkt!’ Soll ich dir wirklich meine Meinung dazu sagen? Diesen Mist kannst du dir in den Arsch stecken. Solche Sprüche zeigen nur, dass du überhaupt nichts kapiert hast. Du bist einer von denen, die sich voll pinkeln lassen und dann auch noch Danke sagen. Siehst du nicht, dass es keinen in deiner Bank auch nur einen Deut schert, wie’s dir geht oder was mit dir passiert? Wenn's nach denen geht, kannst du unter irgend einer Brücke verrecken.“

Philipp unterbrach sie todesmutig: „Das stimmt so nicht. Es gibt Leute in der Bank, für die es sich zu arbeiten lohnt. Erich, mein unmittelbarer Chef, zum Beispiel, leidet genau so unter der jetzigen Situation wie wir alle und hat versucht, die Kreditabteilung aus allem raus zu halten, so gut es ging. Natürlich ist es ihm nicht gelungen. Man sagt in der Firma, er braucht psychische Betreuung, weil er es nicht auf die Reihe kriegt, dass seine ganze Arbeit den Bach runter geht.“

Babsi ließ sich nicht beeindrucken. „Na Bravo, du kommst mir genau mit dem Richtigen. Für den lohnt es sich wirklich zu arbeiten. Und was hat er getan, als sie deine Abteilung zusammen geschnitten haben? Nichts, auf seinem fetten Hintern ist er gesessen, aber dafür geht er jetzt zum Psychiater! Soll ich dir erzählen, wie es bei uns zugeht?“

Jeder Versuch, sie daran zu hindern, wäre wohl aussichtslos gewesen.

„Ob einer gute Arbeit leistet, ist in meinem Laden so ziemlich das letzte, was einen interessiert, vor allem, wenn es um Beförderungen geht. Das einzige, worauf es ankommt, ist, ob du dich gut verkaufst, ob du die anderen blenden kannst, ob es dir gelingt, deine Konkurrenten im Job überzeugend schlecht zu machen. Wenn du darin gut bist, dann hast du Chancen bis zum Geschäftsführer. Wenn ich mir nur Mike ansehe, dieses intrigante Arschloch, dabei kann er nicht einmal .…..“

Sie wurde vom Kellner unterbrochen, der den Tee und den Cappuccino brachte und bei dieser Gelegenheit die in der Mitte des Tisches stehende Kerze anzündete.

Durch die Unterbrechung kam Philipp wieder zu Wort. „Das stimmt doch so nicht, Babsi. Was du sagst, hat sicher etwas für sich, aber meiner Meinung nach führt der Erfolg immer über gute Arbeit. Wenn man dazu auch clever ist und Chancen zu nutzen weiß, dann ist das natürlich zusätzlich von Vorteil, aber das Gerede, dass die Dümmsten die besten Positionen haben, weil sie nur die richtige Ellbogentechnik haben, ist doch Schwachsinn, und zumindest genau so einseitig, wie du es gerade von meiner Einstellung behauptet hast.“

Seine letzte Äußerung trug nicht dazu bei, Babsi zu beruhigen.

„Ich habe deine Einstellung nicht als einseitig bezeichnet. Ich halte sie schlicht und einfach für naiv und hirnlos. Das ist genau die Einstellung, die sich jeder Chef von seinen Mitarbeitern wünscht, damit sie brav arbeiten und nur keine Ansprüche stellen. Philipp, ich will mich nicht mit dir streiten und dich auch nicht beleidigen, aber meiner Meinung nach gibt es zwei Arten von Menschen auf der Welt, die, die kapiert haben, nach welchen Regeln das Spiel, bei dem wir alle mitspielen, läuft, und die, die in ihrer eigenen Welt leben, von Sinn und so weiter faseln und in Wirklichkeit keine Ahnung haben, was wirklich passiert. Das Schöne für die erste Gruppe ist, dass sie mit der letzteren machen kann, was sie will, wenn sie es nur richtig anstellt. Ich weiß, dass ich zur ersten Gruppe gehöre, aber so, wie du redest, bist du der perfekte Vertreter der zweiten.“

„Na und wenn, dann gehöre ich eben dazu. Meine Arbeit bedeutet mir was, ja, ich gebe es zu. Für dich ist alles nur ein Machtspiel, bei dem die gewinnen, die am Wenigsten durch so unnötige Skrupel wie Moral oder Gewissen behindert sind. Wenn es das ist, was du anstrebst, dann viel Erfolg! Dann bist du eine von denen, die den Hals nie vollkriegen, um sich mit fünfzig zu fragen, wofür sie eigentlich gelebt haben.“ Philipp entwickelte bei dieser Diskussion einen Enthusiasmus, der sogar Babsi überraschte.

„Kannst du mir sagen, was du heute hast, kannst du plötzlich keine Kritik mehr vertragen? Wenn du die Wahrheit nicht erträgst, dann frag mich nicht, wie ich über etwas denke. Mir scheint, du möchtest deine Aggressionen gegen die Firma jetzt an mir auslassen. Aber da täuschst du dich. Ich bin sicher nicht dein Mülleimer“, entgegnete Babsi.

Philipp hätte nicht gedacht, Babsi einmal gekränkt zu sehen, aber heute hatte er es tatsächlich geschafft. Obwohl er sich vollständig im Recht fühlte, wollte er doch keinen offenen Streit mit ihr.

„Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt, man wird doch wohl noch diskutieren dürfen“, sagte er, um die Situation zu entschärfen, „so kenne ich dich gar nicht.“

„Ich kenne dich auch nicht so, wie du dich heute gegeben hast. Du wolltest meine Meinung, und die hast du bekommen. Du weißt, dass ich dir immer offen die Wahrheit sage. Wenn du das nicht ertragen kannst, darfst du mich eben nicht fragen.“ erwiderte Babsi.

Noch immer sprach aus jedem Wort und auch aus Babsis Miene deutlich, dass sie sich verletzt fühlte. Sie war es bei Philipp nicht gewöhnt, einzustecken und merkte deshalb gar nicht mehr, wie viel sie austeilte. Er ging auf die letzte Bemerkung nicht mehr ein. Die Pizza kam und machte dem Dialog ein Ende. Philipp bestellte bei dieser Gelegenheit ein Glas Chianti. Nach der erzwungenen Unterbrechung hatte keiner von beiden Lust, das Gesprächsthema von vorher wieder aufzunehmen. Nach dem Essen blieben sie noch eine Weile sitzen, zahlten schließlich und gingen dann wieder die Kärntner Straße hinunter. Meistens kam Babsi nach solchen Abenden noch mit zu Philipp, aber heute hatten beide keine Lust dazu. Philipp begleitete sie noch zu ihrer Wohnung, was für ihn einen Umweg von ungefähr fünfundzwanzig Minuten bedeutete, aber er war froh, noch ein Stück allein in der kalten klaren Luft gehen zu können. Dabei konnte er über alles noch einmal nachdenken. Bei der Oper stieg er in die Straßenbahn, die ihn zurück in seine Straße brachte. Als er sich an diesem Abend ins Bett legte, fühlte er sich so allein wie schon lange nicht mehr.

3.

Am Samstag traf Philipp sich mit seinem Freund Bernhard, mit dem er schon zusammen das Gymnasium besucht hatte. Er war der Einzige von damals, mit dem er noch regelmäßigen Kontakt pflegte. Der aktive Teil von beiden war meist Bernhard. Üblicherweise meldete er sich, worauf eine Zeit lang über alte Zeiten geredet und schließlich ein Treffen vereinbart wurde, bei dem es einmal ins Kino, dann wieder ins Kaffeehaus, oft auch ins Theater oder eben sonst wohin ging, wo gerade etwas Interessantes los war.

Diesmal hatte Bernhard sich etwas Besonderes ausgedacht. Er hatte seit Kurzem ein Kind in Afrika. Nicht sein eigenes, sondern eine dieser Patenschaften, bei denen man regelmäßig einen bestimmten Betrag - im Grunde lächerlich wenig - einzahlt. Sozusagen als Gegenleistung nimmt man Anteil an der Entwicklung des Kindes, bekommt Briefe, zunächst von einem Projektarbeiter und später vom Kind selbst. Wenn man will, kann man seinem Schützling irgendwann auch einen Besuch abstatten, allerdings nur einmal – es soll keine persönliche Bindung entstehen, das ist nicht Sinn der Sache.

Insgesamt gesehen erfüllten diese Patenschaften ihren Zweck recht gut. Sie brachten regelmäßiges Geld für jene, die es dringend benötigten, und der Pate hatte ein Gesicht, dem er seine Spenden zuordnen konnte. Das Geld verlor sich nicht in einem anonymen Topf, der einem das Gefühl gab, das meiste versickere irgendwo in der Verwaltung. Wer möchte schon die Beschaffung von Klopapier für die Büros irgend einer riesigen Organisation finanzieren. Nein, jeder möchte sehen, wie aus dem Geld, das er sich Monat für Monat abspart und überweist, das Pflänzchen eines kleinen, aber beständigen Glücks heranwächst, für das man sich zumindest mitverantwortlich fühlen kann. Diese Sehnsucht ist es, die mit einer solchen Patenschaft gestillt wird.

Heute fand eine Veranstaltung jener Organisation statt, über die Bernhard zu seiner Patenschaft gekommen war. Sie hieß „D.C.“. Es sollte über die Verwendung der Spendengelder berichtet werden. Daneben gehörte es immer auch zum Zweck dieser Veranstaltungen, neue Paten für Kinder zu werben. Das vor allem war auch das Ziel, das Bernhard mit dem Vorschlag, dorthin zu gehen, verfolgte. Er wollte Philipp ebenfalls als Paten für D.C. gewinnen, da er von der Idee, die den Patenschaften zu Grunde lag, begeistert war. Philipp hatte sich zunächst nicht besonders angetan gezeigt, willigte dann aber ein, mitzugehen, da er ein gewisses Interesse an diesen Dingen nicht ganz verleugnen konnte. Von Babsi hatte er seit dem Treffen in der Pizzeria nichts mehr gehört und auch er selbst hatte kein Bedürfnis gespürt, sie anzurufen. Solche Phasen einer ungeklärten kurzzeitigen Entzweiung hatte er mit ihr schon zwei- oder dreimal mitgemacht. Die letzten paar Male hatte es sich dann immer wieder dadurch eingerenkt, dass Babsi wegen irgend etwas Nebensächlichem angerufen hatte, mit dem unvermeidlichen Ergebnis einer bald darauf folgenden Verabredung. Diesmal dauerte diese Situation allerdings schon recht lange. Was Philipp dabei am meisten zu denken gab, war, dass ihm das Ganze vollkommen gleichgültig war. Erst vor Kurzem war ihm zu Bewusstsein gekommen, dass er volle zwei Tage so gut wie gar nicht an Babsi gedacht hatte. Sonst hatte er sich während solcher Phasen der Trennung immer irgendwie schuldig gefühlt und hin- und herüberlegt, ob er nicht etwas Falsches gesagt oder getan hatte. Diesmal fehlten solche Selbstzweifel gänzlich.

Sie waren inzwischen am Schottentor angekommen und gingen noch ein paar hundert Meter bis zur Universität, wo das Treffen stattfinden sollte. Am Haupteingang leuchtete ihnen ein Schild entgegen, das den Weg zum Veranstaltungssaal wies. Beim Betreten des Gebäudes aus dem späten neunzehnten Jahrhundert trat Philipp ein Geruch nach Holztüren und alten Büchern in die Nase. Er fühlte sich unwillkürlich in seine Schulzeit zurückversetzt und dachte an Hefte, frisch gespitzte Bleistifte und seine Lehrer von damals, die ihm das Leben schwer gemacht hatten.

Nach ein paar weiteren Hinweisen erreichten sie schließlich den Saal. Obwohl sie eine Viertelstunde zu früh eingetroffen waren, war schon alles vorbereitet. An der hinteren Wand hingen mehrere Bilder, die das Leben in einem afrikanischen Land zeigten, Menschen bei der Arbeit, Schulkinder, Vieh, Getreidefelder und weitere sehr beredte Motive. Ebenfalls an der Wand, gleich neben dem Eingang, stand ein Tischchen mit Salzgebäck, einem Krug Wasser und irgendwelchen ziemlich exotisch aussehenden Süßspeisen.

Sie brauchten nicht lange zu warten und ein freundlich lächelnder Schwarzafrikaner kam federnden Schrittes auf sie zu. Er mochte ungefähr 45 Jahre alt sein, hatte ausgesprochen ebenmäßig geschnittene Gesichtszüge und einen gepflegten Bart. Er erinnerte Philipp an den ehemaligen UNO-Generalsekretär. Der Afrikaner begrüßte die beiden sehr freundlich in stark akzentbehaftetem, aber sonst einwandfreiem Englisch und stellte sich ausführlich vor. Er hieß Moses und kam aus Swasiland. Ungefragt begann er zu erzählen, dass er dort zehn Jahre als Lehrer gearbeitet hatte. Als ein groß angelegtes Projekt der Organisation in Swasiland gestartet wurde, hatte er den Lehrerberuf aufgegeben und begonnen, in diesem Projekt mitzuarbeiten. Jetzt stellte er sozusagen den Kontaktmann von D.C. in Swasiland dar, der die Projekte auch mit der Regierung abzustimmen hatte, was, wie er sagte, nicht immer leicht war.

Danach wandte er sich direkt an Philipp, fragte, woher er komme und aus welchen Beweggründen er hier sei. Philipp, dadurch etwas überrumpelt, wusste im ersten Moment nicht, was er sagen sollte, da er im Grunde ja nur als Begleiter von Bernhard da war. Aber er musste schließlich antworten.

„I am from Vienna and I am very interested about your project.“

Noch während er sprach, kam ihm sein Englisch wesentlich schlechter als jenes des Afrikaners vor und der Satz, den er von sich gegeben hatte, schien ihm so banal, dass er am liebsten in den Boden versunken wäre. Sein Gegenüber zeigte sich dennoch sehr erfreut über die Aussage und gab seiner Freude darüber Ausdruck, dass es hier in Österreich so viele wohlgesinnte Leute gebe, die an den Problemen der afrikanischen Staaten Anteil nahmen und die Bemühungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen unterstützten.

Während die Worte an sein Ohr drangen, dachte Philipp an etwas ganz anderes. Ihn wunderte die Diskrepanz zwischen Aussprache und Wortschatz, die gerade bei Afrikanern bestand, wenn sie Englisch sprachen. Oft hörte sich die Aussprache so schlecht an, dass man an einen Sprachanfänger dachte, während sich beim Zuhören herausstellte, dass der Sprecher die Regeln des Englischen ziemlich perfekt beherrschte.

„Have you already heard anything about our project?“, fragte der Afrikaner mit unverändert starkem Akzent schließlich weiter.

Durch seine abgeschweiften Gedanken war Philipp etwas verwirrt.

„No, I don’t know your country, but I hope to hear something today.“

Wieder kam er sich etwas einfältig vor, aber Moses war außerordentlich erfreut über sein Interesse. Er wandte sich daraufhin an Bernhard, der kaum erwarten konnte, ihm über seine vor kurzem übernommene Patenschaft zu erzählen und zu betonen, wie sehr er die Arbeit von D.C. bewunderte und schätzte. Aus Sicht von Philipp trug er etwas zu dick auf.

Schließlich entschuldigte sich Moses, da er weiter musste, um auch mit den anderen, mittlerweile hinzu gekommenen Gästen ein paar Worte zu wechseln.

In den zehn Minuten, seit Bernhard und Philipp herein gekommen waren, hatte sich der Saal zusehends gefüllt. Die Leute standen in kleinen Gruppen umher und unterhielten sich, betrachteten die an den Wänden befestigten Bilder oder lasen die Prospekte, die sie in die Hand gedrückt bekamen.

Ein paar Minuten nach der geplanten Beginnzeit stellte sich einer der österreichischen D.C.-Mitarbeiter auf das Podium und bat die Anwesenden, sich hinzusetzen. Er begann sehr blumig über die große Freude, dass eine Abordnung aus dem Projektgebiet in Swasiland nach Österreich gekommen sei, um hier aus erster Hand über die Fortschritte und Probleme des Projektes zu berichten. Er stellte die beiden Referenten des Abends kurz vor: Der eine war Moses, der Leiter von D.C. in Swasiland, der über die Mittelverwendung und den Fortschritt des Projektes berichten sollte. Die zweite, eine schlanke, sehnige Afrikanerin in einem farbenfrohen Kleid, die aussah, als könnte sie, wenn notwendig, auch kräftig zupacken, sollte die konkrete Arbeit im Projekt erläutern.

Moses ging ans Pult und malte in seinem akzentbehafteten, perfekten Englisch, das von einem österreichischen D.C.-Mitarbeiter summarisch übersetzt wurde, ein lebendiges Bild vom Land und seinen Problemen.

„Swasiland ist im Vergleich zu den umliegenden Staaten sehr klein“, begann er auf Englisch, „unsere Hauptstadt, Mbabane, hat nur etwa sechzigtausend Einwohner, und wir haben vielfältige Probleme, allen voran natürlich Aids, die Seuche, die den gesamten afrikanischen Kontinent zu entvölkern droht. Neben dieser Katastrophe scheinen alle anderen Probleme so unbedeutend und klein, dass sie leicht vergessen werden könnten. Aber gerade das wäre falsch. Mit Aids müssen wir leben, und es wird so bald nicht heilbar sein, jedenfalls nicht für die Menschen in Afrika. Aber das soll und kann uns nicht daran hindern, es mit den anderen Herausforderungen, wie unzureichender Schulbildung, Missernten, mangelndem Know How in so vielen Bereichen und vielem mehr, unter dem die Menschen unseres Landes leiden, aufzunehmen.“

Nach der sehr blumigen Einleitung, in der einiges an Pathos mitschwang, kam ein etwas sachlicherer Teil, in dem Moses genauer auf die Projekte einging und auch von seinen Verbindungen zur Regierung des Landes erzählte, das eine konstitutionelle Monarchie mit einem weitgehend uneingeschränkt herrschenden König war. Dem entsprechend gestalteten sich sehr viele Vorhaben schwierig, da sie letztendlich immer vom guten Willen des Monarchen abhängig waren. Der Data-Projektor war zur Unterstützung der Worte bereitgestellt. Es wurden vor allem Statistiken gezeigt, aus denen man die positiven Wirkungen des Projektes ablesen konnte. Eine Statistik gab Philipp zu denken: die durchschnittliche Lebenserwartung betrug dort unten weniger als 36 Jahre. ‚Bei uns war das vielleicht irgendwann im Mittelalter so, wenn die Pest durchs Land zog’, ging ihm durch den Kopf.

Nach Moses erzählte die Afrikanerin – sie hieß Dafina – von ihrer Arbeit. Was sie sagte, war interessant, teilweise aber – gelinde gesagt – erschütternd. Sie erzählte über die Verwendung von Patenschaftsgeldern, für viele Kinder die Grundlage ihrer Entwicklung, über den Bau von Schulen, aber auch über die Betreuung junger Aidskranker, die wissen, dass sie nicht mehr lange zu leben haben und nur noch kurz für ihre Kinder, oft kaum dem Säuglingsalter entwachsen, sorgen können. Die Bilder zu ihrem Vortrag waren noch anschaulicher als bei Moses, da hier Menschen und nicht nur Statistiken zu sehen waren. Dementsprechend war auch die Reaktion des Publikums. Nachdem sie geendet hatte, herrschte eine Zeit lang Schweigen.

Nach einer kurzen Pause ergriff der österreichische Mitarbeiter, der Organisation, der eine Art Moderatorenfunktion wahrnahm, wieder das Wort und dankte für die Referate, worauf er sich an das Publikum wandte mit der Bitte, Fragen zu stellen.

Philipp war durch das Gehörte und Gesehene etwas verwirrt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Veranstaltung hier wirklich Eindruck auf ihn machen würde. Er war aber seltsam betroffen, ja, mehr noch, das alles hatte ihn unmittelbar berührt. Deshalb war er bei den ersten Fragen aus dem Zuhörerkreis, die irgendwelche Details zu den Patenschaften betrafen, geistig abwesend. Erst als eine junge Frau fragte, ob auch Österreicher bei Projekten im Ausland vor Ort als Mitarbeiter der Organisation mitmachen könnten, wurde seine Aufmerksamkeit wieder geweckt. Die Antwort war sehr ausführlich. Demnach war die Organisation interessiert an neuen Mitarbeitern, da man ohnehin unterbesetzt sei. Es sei allerdings eine Arbeit, die sehr viel Idealismus verlange. Der Verdienst sei angemessen, reich werden könne man damit aber nicht. Als die Information beendet schien, war das Interesse von Philipp noch nicht gestillt.

„Welche Anforderungen müssen Ihre Mitarbeiter erfüllen?“ fragte er.

„Nun, idealer Weise sollte Erfahrung in bestimmten Spezialbereichen vorhanden sein, zum Beispiel Medizin, Wirtschaft, Kranken- und Altenpflege oder Bodenkultur. Wenn jemand mit einer derartigen Ausbildung oder Berufspraxis zu uns kommt und wir uns dafür entscheiden, ihn aufzunehmen, wird er ausführlich über das Land, in das er entsandt werden soll, und über das Projekt geschult. Wie sie sich denken können, ist der Anreiz, den wir bieten können, nicht unbedingt dazu angetan, allzu viele erfahrene Leute zu uns ins Boot zu holen. Deshalb kommen auch viele unserer Mitarbeiter vor Ort aus dem Land selbst. Aber wie ich schon gesagt habe, es ist eine Frage des Idealismus. Wenn jemand sich für die Arbeit in einem unserer Projekte entscheidet, tut er es, weil er es aus innerer Überzeugung möchte und nicht wegen finanzieller oder sonstiger Anreize. Wir freuen uns über jeden, der für uns arbeiten will. Sollten Sie Interesse haben oder jemanden kennen, der sich so etwas vorstellen kann, ersuche ich Sie, uns telefonisch zu kontaktieren. Die Telefonnummer ist im Prospekt abgedruckt.“