Kitabı oku: «Unwetter», sayfa 2

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3

Hoch über ihr ist die Decke. Im Putz verzweigen sich die Risse wie Flussläufe. Die Sonne strömt ins Zimmer und bildet eine Pfütze auf dem Parkett. Emilia versucht zu erraten, wie spät es ist. Sie vertut sich um eine Stunde. Das Vakuum, in dem man zwar die weiche Wärme des Bettes registriert, aber das Bewusstsein noch nicht wieder zurück ist, hat heute höchstens drei Sekunden angehalten. Dann war ihr alles wieder präsent. Die Jungs. Alicia. Die Aufführung. Frank. Unten hört sie fröhliche Stimmen und das Rennen kleiner Füße. Von weit her weht das Quengeln einer Mähmaschine herein. Emilia kippt sich den kalten Tee, der neben ihrem Bett steht, in die trockene Kehle. Ein Kater ist das körperliche Äquivalent zur Beschämung.

Sie steht auf, zieht eine Strickjacke über, meidet ihren Anblick im Spiegel, verlässt das Zimmer. Die Küche ist aufgeräumt, der Inhalt ihrer Tasche in einer Schale deponiert. Die Whiskyflasche steht wieder oben auf dem Schrank. Obwohl sie diesen Whisky mehr als zehn Jahre lang aufbewahrt hat und er nun wie sie zweiundvierzig Jahre alt ist, hat er nicht besonders gut geschmeckt. Bruch gießt ihr Kaffee ein und fragt mit einem Anflug von Spott in der Stimme, ob es gehe. Sie nickt. Aber er hat sich schon abgewendet. Ja, sagt sie, ja, es geht. Er fragt, ob es okay ist, dass er jetzt gleich schwimmen geht. Natürlich, sagt sie. Sie wünschte, er würde sie in den Arm nehmen. Er läuft die Treppe hinauf. Aus dem Augenwinkel sieht sie Osip, der mit einer kleinen Gießkanne den Fußboden wässert. Leo liegt auf dem Bauch und schaut sich einen Film an. Emilia nimmt die Zeitung vom Tisch, entwindet Osip die Gießkanne und drückt ihm stattdessen einen Keks in die Hand, wirft ein Handtuch auf den nassen Fußboden und setzt sich neben Leo. Nach einem halben Artikel liegt die Zeitung auf dem Boden, Osip sitzt bei ihr auf dem Schoß, und Leo erzählt simultan zum Film, was sich darin abspielt. Durch den Garten läuft Bruch auf den silbrig glitzernden Fluss zu. Er hängt seinen Bademantel über den Pfosten. Taucht ins Wasser. Mit seiner bleichen Haut. Pflügt mit angespannten Muskeln unter der Oberfläche dahin. Warum hat sie ihm nicht von Frank erzählt? Weil es eigenartig und peinlich war und schwer nachzuerzählen. Weil es ihr zur Gewohnheit geworden ist, Dinge nicht zu erzählen. Im ersten Sommer ihrer Beziehung hat sie den Tenor gesetzt, als sie beschloss, ihm nicht zu erzählen, was passiert war. Was passiert ist, macht mich nicht aus, rechtfertigte sie das sich selbst gegenüber, im Gegenteil: Es würde sich vor mich schieben und ihm die Sicht auf mich nehmen. Es ist ein Akt der Autonomie zu entscheiden, ob ein Vorfall eine Rolle in deinem Leben spielen darf oder nicht. Stimmt das? Kann man das als Standpunkt gelten lassen, oder ist das eine Ausflucht? Kann sie das zurücknehmen? Kann man Jahre, nachdem eine Frage gestellt wurde, noch eine Antwort darauf geben? Ihr fallen Gedanken ein, die sie vergessen hatte. Als der Mann ihr mit der Faust ins Gesicht schlug, dachte sie an das eine Mal, da sie als Kind eine Spritze ins Bein bekam. Der Arzt schlug ihr mit der flachen Hand auf den Po, ihre Aufmerksamkeit war abgelenkt, weshalb sie sich entspannte und weniger bewusst spürte, wie kurz darauf die Nadel in ihre Haut drang. Sie hatte sich, so klein sie war, durch diese fadenscheinige Methode hintergangen gefühlt.

Leo erzählt, wie die Figuren in dem Film heißen, und Emilia soll raten, ob sie gut oder böse sind. Das ist leicht, denn man kann an ihrem Aussehen deutlich ablesen, wo sie auf dem ethischen Spektrum angesiedelt sind. Leo lehnt sich an sie und wickelt ihr Haar um seine Händchen. Osip probiert, auf ihren angezogenen Knien zu balancieren, fällt aber immer wieder um, worauf sie ihn kitzelt, bis er kreischt und sich ihrem Griff zu entwinden versucht. Bevor sie Kinder bekam, wusste sie nicht, dass der Kontakt so körperlich sein würde, so sinnlich, so grenzenlos.

Der Faustschlag bleibt ihr im Sinn. Wie oft hatte er sie geschlagen? Sechsmal, zwanzigmal? Mit welchem Schlag brach er ihr den Kiefer? War es überhaupt möglich, es Bruch jetzt noch zu erzählen? Wusste sie noch, wie es abgelaufen war? Ist etwas zwölf Jahre später noch zu rekonstruieren? Das Gesicht, das sie immer und überall wiedererkennen zu können glaubte, ist ihrer Erinnerung entschwunden. Als sie sich bemüht, es sich zu vergegenwärtigen, ähnelt es Franks Gesicht, doch sie ist sich sicher, dass es nicht wirklich Ähnlichkeit damit hatte, dass das einzig und allein mit gestern zu tun hat und ihr Gedächtnis ihr einen dummen Streich spielt, um zu verdeutlichen, wie wenig sie sich darauf verlassen kann.

»Er ist zu Ende.«

»Dann mach mal aus.«

»Ich will noch einen Film gucken.«

»Nein, Leo, mach aus.«

»Aber ich will noch einen Film gucken! Der war ganz kurz.«

»Leo.«

»Bitte. Mama? Mama! Der war echt ganz kurz.«

»Nein.«

»Liest du mir dann was vor?«

»Später.« Leo stampft böse in die Küche.

Alicia sagte, sie sei erpresst worden. Leo wollte im großen Bett schlafen, nicht in seinem eigenen. Sie bat um Entschuldigung. Erpresst, womit?, wollte Emilia fragen, aber Alicia sah sie mit einer solchen Verachtung an, dass sie schwieg. Bruch ließ sich überhaupt nicht mehr blicken. Sie hatte nach Atem ringend inmitten ihres Tascheninhalts gehockt. Zugesehen, wie Alicia ihre Kontonummer auf die Wandtafel schmierte, weil sie nicht erwartete, dass Emilia noch das Portemonnaie zücken würde. Zugesehen, wie sie das Glas, das sie anfangs noch hinter ihrem Rücken versteckt hatte, in aller Seelenruhe austrank, bevor sie es leise in die Spüle stellte.

Osip schläft in der Sofaecke ein. Sie isst das Ei, das vor ihr auf der Anrichte steht, und schält einen Apfel. Bruch ist schon seit einer Stunde weg. Ist das nicht sehr lange, in einem ziemlich kalten Fluss? Sein Bademantel hat den Pfosten in einen Mast mit roter Flagge verwandelt. Leo hockt bei seinen Legosteinen. Sie stellt einen Teller mit dem Apfel neben ihm auf den Boden und breitet eine Decke über Osip. Geht dann in den Garten. Es ist windig und noch kälter, als sie dachte. Sie läuft durch das hohe Gras. Nicht mehr lange, und es wird zu hoch für den Rasenmäher sein, sodass man ihm nur noch mit der Sense beikommt. Als Kind legte sie im großen Garten hinter ihrem Elternhaus immer eine kleine lilafarbene Decke zwischen die mannshohen Brennnesseln, zog Hose und Jacke aus und ließ sich in Unterwäsche zum Lesen nieder, gleichermaßen versteckt und gefangen. Das Rufen ihrer Mutter hörte sie irgendwo weit weg.

Sie zupft an seinem Bademantel. Auf dem Steg stehen seine Slipper. Der Wind wirft lange Wellen mit spitzen Kämmen auf dem grauen Wasser auf. Das Wasser steht hoch. Am anderen Ufer stehen zwei Kühe und beäugen sie. Schwimmt er immer so lange? Schwimmt er zuerst stromaufwärts oder stromabwärts? Sie dreht sich um und geht zurück, vage beunruhigt, aber nicht gewillt, diese Empfindung zuzulassen. Das Haus steht klein und geduckt in der Mitte des Gartens. Unter einer großen Plane auf der einen Seite liegen Baustoffe, Holzbalken und eine Aluleiter. Die Küche, der Ausbau des Dachbodens, schließlich und endlich werden sie das doch alles machen.

Drinnen ist alles beim Alten, ihr Gehen und Kommen sind unbemerkt geblieben. Osip schläft, Leo spielt, den Apfel hat er nicht angerührt. Emilia steht eine Zeitlang regungslos in der Küche. Sie muss etwas gegen das Gefühl tun, das sie erfasst hat. Sie muss zusehen, dass sie sich wieder den normalen, alltäglichen Dingen zuwendet und vergisst, was sie sich zu vergessen vorgenommen hatte.

Unwillkürlich entfährt ihr ein Schrei, als die Türklingel die Stille durchbricht. Wer ist das? Am Sonntagmorgen. Um halb elf. Jemand, der sagt, dass Bruch ertrunken ist? Leo schaut zu ihr herüber. Als Emilia die Hand auf die Klinke legt, um die Tür zum Flur zu öffnen, wird hinter ihr die Terrassentür aufgeschoben. Sie erschrickt erneut. Dreht sich langsam um. Bruch steht mit nassen Haaren und vor Kälte fleckigem Gesicht im Türrahmen. Sie starrt ihn an. Er macht einen Klimmzug am Türsturz.

Es klingelt noch einmal.

»Erwartest du jemanden?«, fragt Emilia.

»Sophie und Douwe, oder nicht? Jetzt schon?« Er schaut auf die Uhr.

»Scheiße. Vergessen.« Sophie ist eine Kollegin von Bruch. Sie und ihr Mann Douwe haben versprochen, beim Abriss des Schuppens hinten im Garten zu helfen.

»Man darf nicht Scheiße sagen«, sagt Leo. »Ich mach auf!«

»Okay. Sag, dass wir gleich kommen.« Und in einem plötzlichen Energieschub schießen Bruch und sie die Treppe hinauf, während Leo zur Haustür läuft. Bruch geht ins Badezimmer und dreht die Dusche auf. Sie geht ins Schlafzimmer. Als sie vor dem Kleiderschrank steht, tritt Bruch hinter sie, fasst sie um die Taille und küsst ihren Nacken. Er schiebt die Hand unter ihr T-Shirt auf ihre Brust. Die Hand ist vom Flusswasser kalt und steif. Emilia stöhnt. »Du stöhnst«, flüstert er ihr ins Ohr. Dann lässt er sie los und verschwindet unter die Dusche. Sie zieht sich langsam an. Im Badezimmer kämmt sie sich die Haare und steckt sie hoch, während der Spiegel beschlägt. Dann geht sie die Treppe hinunter und holt auf den letzten Stufen tief Luft, als wollte sie unter Wasser tauchen.

»Wie seid ihr euch eigentlich begegnet?« Sie stellt die Frage, weil sie sich wünscht, dass man ihr die Gegenfrage stellt, dass man ihre Geschichte hören will.

»Gar nicht.«

»Wir sind uns nicht begegnet.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass Sophie je nicht da war.«

»Seine Schwester hat mit meiner Schwester gespielt.«

»Wir gingen in dieselbe Schule.«

»Ich eine Klasse unter ihm.«

»Wir haben zusammen schwimmen gelernt.«

»Wir spielten draußen mit allen anderen gleichaltrigen Kindern aus dem Dorf.«

»Das waren so etwa zehn, zwölf.«

»Seine Mutter nähte Kleider für meine Puppe.«

»Wir haben uns zum ersten Mal geküsst, als wir fünfzehn oder sechzehn waren, glaube ich.«

»Ja, so in etwa.«

»Aber da waren wir schon zwei Jahre zusammen.«

»Als wir studierten, ich in Leiden, er in Delft, haben wir uns mal für ein Dreivierteljahr getrennt.«

»Hat aber nichts gebracht. Wir haben uns vermisst.«

»Wir fühlten uns amputiert.«

»Ein kleiner Abstecher, um endgültig festzustellen, dass es nichts zu suchen gab.«

»Wir hatten schon alles gefunden.« Wie um ihre Worte noch zu illustrieren, pflückte sie während dieses Duetts Gras von seiner Hose, und er hielt die Hand auf, um die Grashalme entgegenzunehmen und auf den Tisch zu legen. Als wären seine Beine auch ihre Beine. Ihre Hände waren genauso aufeinander eingespielt wie die Rechte und die Linke ein und derselben Person. Ob diese Erprobung eines Lebens ohneeinander, eines Lebens mit anderen, wohl primär sexueller Natur gewesen war, oder ging es dabei auch noch um etwas anderes? Ist das Intimleben von Jugendlieben tiefer und intensiver oder gerade nicht, weil es da kein Geheimnis gibt, keine unbekannte Vergangenheit, keine Kluft, die überbrückt werden muss? Worin liegt eigentlich das Geheimnis? Darin, dass der andere ein Leben hatte, das ihn außerhalb deiner Reichweite geformt hat?

»Und jetzt wohnen wir neben dem Haus, in dem Douwe aufgewachsen ist.«

»In der Straße, in der ihr früher Räuber und Gendarm gespielt habt?«

»Genau.«

»Und eure Kinder?«

»Vierzehn, fünfzehn und siebzehn.«

»Und die haben auch in dieser Straße Räuber und Gendarm gespielt.«

»Oder vielleicht auch was anderes als Räuber und Gendarm.«

Bruch gießt Wein in die Gläser und pflückt nun auch Grashalme von seiner Kleidung. Die Entwicklung eines Kindes zu einem Mann oder zu einer Frau von vierzig kann nicht ohne Um- und Irrwege verlaufen. Oder doch? Ist die Voraussetzung für lebenslange Liebe ein offener Blick? Oder ein stabiler Charakter? Oder eine Art effektiven Desinteresses?

»Und ihr?« Nun führen Bruch und sie ihr kleines Theaterstück auf. Erzählen die Geschichte, die sie, wie jedes Paar, nicht zum ersten Mal und mit eingeschliffenen Formulierungen auftischen. Die gemeinsame Version ihrer Geschichte. Die Geschichte, die eigentlich nichts erzählt. Die Geschichte, welche die Sicht auf den Abgrund verstellt. Emilia trinkt einen Schluck von ihrem Wein. Sophie, Douwe und Bruch haben den ganzen Nachmittag gearbeitet. Sie selbst ist im Haus geblieben und hat versucht, ganz für die Kinder da zu sein. Sie ist mit ihnen in die Badewanne gegangen, sie hat auf dem Dachboden gelesen, während die beiden dort spielten, sie hat gekocht, während hysterische Zeichentrickstimmen durchs Haus schallten. Sie hat gegen die Schläfrigkeit, gegen die lähmende Langeweile dieses Tages angekämpft. Die drei da sehen gesund und aufgeräumt aus. Sie haben Arbeitsklamotten an und Staub in den Haaren. Sie haben Appetit. Sie haben heute etwas zustande gebracht, und wenn es nur ein Haufen Schutt auf einem Anhänger ist.

»Auf einer Party meines Bruders.«

»Aber daran erinnert sie sich nicht.« Gelächter. Immer.

»Beim zweiten Mal, für mich also beim ersten Mal, im Krankenhaus. Ich habe einen Nachbarn hingebracht, der angefahren worden war. Bruch arbeitete dort. Wir begegneten uns zufällig in der Eingangshalle. Kamen ins Gespräch. Gingen in seiner Mittagspause im Park spazieren.«

»Und du warst?«

»Dreißig.«

»Vierunddreißig.«

»Wir trafen uns jeden Tag, aber noch nicht bei uns zu Hause. Wir liefen durch die Stadt, hockten in Kneipen und Straßencafés.«

»Es war ein warmer Sommer.«

»Wir lagen in Parks auf dem Rasen. Wir fuhren mit irgendeiner Straßenbahn bis zur Endhaltestelle und liefen zu Fuß zurück.«

»Wir knutschten an Straßenecken und in Kneipen, und wir liefen und liefen und redeten über alles Mögliche, nichts Großartiges.« Das stimmte. Damals erzählten sie einander noch fast nichts aus ihrem Leben. Sie waren über dreißig, da hatte sich Stoff von einem halben Leben angesammelt. Aber sie lebten nur im Jetzt, so etwa muss es gewesen sein, sie erinnerten sich an keinen Grund mehr, sondern an ein Gefühl von Freiheit und eine Idee von Aktualität. Was sie jetzt von etwas hielten, wie sie es jetzt sahen. Sie waren draußen und ganz für sich. Sie waren die ersten Menschen. Die sommerliche Stadt war ihr Paradies. Sie beschrieben sich gegenseitig, wie sie wohnten. Er hatte eine Wohnung im sechsten Stock. Ein quadratisches Ding, sagte er, drei Zimmer, Küche, Bad um einen breiten Flur. Sie fragte sich, ob diese ganzen Ausweichmanöver bei der Balz womöglich bedeuteten, dass er eine feste Beziehung hatte. Wenn dem so war, dann machte das nichts. Es gab nur ein Ziel, wohin sie ihre Gefühle trieben. Wenn er noch anderweitig gebunden war, brauchte es nur ein kleines bisschen Zeit, um das zu klären, dann war es nur dieses kleine bisschen Zeit, das zwischen ihnen und diesem Ziel stand.

Er erzählte, dass er dort früher mit einer Freundin zusammengewohnt hatte. Vergangenheitsform, aber er sagte nicht, wie lange dieses Früher schon her war. Sie hieß Mariette und lief Marathon, mehr erfuhr sie nicht. Sie weiß noch, wie sie auf seine Hände schaute, auf die langen, schlanken Finger, und dass sie an die Patienten dachte, die er damit anfasste. Sie weiß noch, wie sich seine Hände unter und in ihre Kleidung stahlen und er sie anfasste, gierig, fest und präzise. An jenem letzten Tag der Anfangszeit forderte sie ihn auf, die Augen zu schließen und sie so genau wie möglich zu beschreiben. Gruselig war das, und erregend. Es war, als zeichnete er sie, als fügte sich ihr Körper seiner Beschreibung und als würde sie allmählich zu der, die sie ihm nach war, als füllte sie die Konturen aus, die er ihr gab. Wie neu gemacht ging sie nach Hause. Als sie, beschwipst vom Wein und ganz erfüllt von ihrer Verliebtheit, vor ihrer Haustür stand, tauchte er plötzlich neben ihr auf, ihr Belästiger. Sie hatte eine Einzimmerwohnung im zweiten Stock und teilte den Hauseingang mit sechs anderen Bewohnern, die ständig wechselten, sie nahm an, dass er in einem der anderen Apartments wohnte. Nicht einen Moment war ihr in den Sinn gekommen, dass dieser fremde Mann ihretwegen da war. Sie grüßte ihn. Sie ließ ihn herein, sie selbst ließ ihn herein, er brauchte keine Tür aufzubrechen. Er brauchte nur ihre Barrieren niederzureißen.

»Urplötzlich, von einem Tag auf den anderen, wollte sie mich nicht mehr sehen. Wir hatten auf einer Restaurantterrasse gegessen. Lasagne. Ich hatte Nachtdienst. Der fing um zehn Uhr an. Ich musste in die entgegengesetzte Richtung, und sie begleitete mich ein Stück, bevor wir uns verabschiedeten. Als ich sie am nächsten Morgen anrief, nahm sie nicht ab. Ich hinterließ eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter. Nachdem ich mich ausgeschlafen hatte, rief ich erneut bei ihr an. Wieder ohne Erfolg. Ich rief immer wieder an, vermutete, dass ich etwas vergessen hatte, dass sie etwas vorgehabt hatte, mit einem Freund oder einer Freundin, raus aus der Stadt, keine Ahnung. Ich wusste nicht mal, wo sie wohnte. Schon in welcher Straße, aber nicht die Hausnummer, wir hatten uns noch nie zu Hause besucht, wir hatten uns immer nur im Freien, an öffentlichen Orten getroffen. In der Nacht hatte ich wieder Dienst, und von dort aus versuchte ich erneut, sie zu erreichen. Inzwischen würde sie wohl wieder zu Hause sein, nahm ich an, doch sie nahm nicht ab. Ich hinterließ wieder eine Nachricht auf Band. Beunruhigt mittlerweile. Am nächsten Tag konnte ich nicht schlafen. Ich rief den Freund an, der mich zu der Party bei ihrem Bruder mitgenommen hatte. Über den bekam ich die Nummer von Jacob. Er wollte mir aber ihre Adresse nicht geben. Ich rief wieder und wieder bei ihr an, konnte aber keine Nachrichten mehr auf Band sprechen. Eine Woche später rief Jacob mich an. Er sagte, dass Emilia mich vorläufig nicht sehen wolle und ich nicht mehr anrufen solle. Sie müsse nachdenken«, sagte er.

»Wow. Und wie lange hat das gedauert?«

»Fast drei Monate. Und ich hatte nichts von ihr. Nicht mal ein Foto. Ich vergaß, wie sie aussah. Ich dachte schon, ich hätte sie geträumt.«

4

Emilia schließt die Hände um ihr Glas Tee und legt den Kopf auf den Tisch. Aus diesem schrägen Winkel schaut sie ihm zu. Er räumt die Küchenschränke aus und verstaut alles in Kartons und Kisten. Auf Knien zieht er die Töpfe hervor, Staubflocken wirbeln hinterher. Zwischen seinem Shirt und seinem Hosenbund ein Streifen weißer Rücken. Er hält ab und zu etwas hoch, woraufhin sie ja sagt oder manchmal auch nein. Bei einem Nein verschwindet es in der Mülltüte. Der Erfolg einer Ehe besteht darin, dass man die Haushaltsführung des anderen erträgt.

Bruch ist ein schöner Mann. Sein relativ großer Kopf mit dem störrischen braunen Haar, die Augenbrauen, der weiche Mund, die sprühende Unabhängigkeit in seinem Blick, seine Haut, sein leicht gekerbtes Kinn und dessen Symmetrie, die Verbindung aus Stärke und Sanftheit, all das hat eine magnetische Wirkung. Erst wenn man ihn von hinten oder von der Seite sieht und der Blick nicht auf sein Gesicht gelenkt wird, fällt ins Auge, wie hager und schlaksig sein Körper ist. Hat er nichts an, sieht man, dass seine Hüftknochen und Knie spitz herausstehen und sein bleicher Rücken mit Leberflecken übersät ist.

Sie hat ihn kennengelernt, als er schon vollendet war, als er den Eindruck erweckte, vollendet zu sein. Er war vierunddreißig. Er hatte einen weißen Kittel an, aus dessen Brusttasche eine Reihe Stifte hervorschaute. Internist, Immunologe, interessiert an Formen der Selbstzerstörung des Körpers. Er hatte einen Beruf, er hatte ein Leben, er hatte einen Backenbart, der nicht pubertär oder flippig war, sondern perfekt zu seinem Gesicht und seinem verhältnismäßig adretten Haarschnitt passte. Er hatte eine Eigentumswohnung. Sie stellt sich vor, sie hätte ihn schon gekannt, als er zehn war, bevor er diesen ausgeprägten Adamsapfel bekam, als sich sein Körper noch auf dem Weg zu der Größe befand, die in ihm angelegt war. Sie stellt sich vor, sie hätten als Kinder zusammen auf der Straße gespielt.

»Unvorstellbar, nicht?«

»Was?«

»Douwe und Sophie.«

»Hmmm.«

»Nicht?«

Er brummelt irgendwas vor sich hin.

»Ich finde das unvorstellbar.«

»Sieht aber doch ganz gut aus.«

»Findest du?«

»Du nicht?«

»Meinst du nicht, dass das was von Vater-Mutter-Kind-Spielen hat?«

»Ja, vielleicht.« Er richtet sich auf und schiebt die vollen Kartons Richtung Wintergarten.

»Was meinst du mit: Sieht ganz gut aus?« Bruch macht sich jetzt an die Oberschränke, räumt sie aus und türmt alles auf der Anrichte auf. So ausgebreitet scheint es viel mehr zu sein, als die Schränke jemals fassen könnten. Geordnet nehmen die Sachen sehr viel weniger Platz ein.

»Bruch? Was meinst du mit: Sieht ganz gut aus?«

»Wie ich’s sage, sie scheinen glücklich zu sein, es sieht nicht so aus, als seien sie irgendwo stecken geblieben. Ich hab nicht genug Kartons.« Er geht nach oben.

»Ich finde es kindisch!« Er kommt die Treppe herunter, bleibt auf der untersten Stufe stehen und sieht sie an, mit einem missbilligenden, fast tadelnden Blick. Sie wiederholt ihre Worte. Er stellt die Kartons ab. »Ich finde das unerwachsen! Mir ist das suspekt. Warum sollte man bei seinem Sandkastenfreund und im Dorf bleiben? Da nimmt man das Leben doch gar nicht ernst. Zumindest ist man überhaupt nicht daran interessiert, mal was zu erleben, oder?«

»Wer sagt denn, dass sie nichts erleben? Vielleicht erleben sie mehr als wir. Vielleicht gerade sie. Was ist denn Glück?«

»Stillstand etwa?«

»Also weil du eine Reihe von Freunden hattest, bevor du mir begegnet bist, hast du etwas erlebt, hast das Leben ausgekostet, hast daraus gelernt, bist erwachsen geworden?« Sein Gesichtsausdruck ist unverhohlen spöttisch. Sie denkt an die Phase, in der sie mit ihrem Bruder zusammen Heroin geraucht hat. Als Freizeitdroge. Etwas, das man niemals machen würde, wenn man mit seinem Schulfreund verheiratet war. Erst als sie entdeckte, dass ihr Bruder auch ohne sie Drogen nahm, dass er süchtig war, dass sie nur als Alibi diente, als sein Schutzschild, wurde ihr klar, auf welchen Abgrund sie sich zubewegten. Sie verriet Jacob, schaltete ihren anderen Bruder Viktor ein und rief seinen Hausarzt an.

»Und sie nicht.«

»Was sie nicht?«

»Sie sind nicht erwachsen, weil sie sich kennenlernten, als sie drei waren, ja?«

»Ja.«

»Du liebe Güte, El, wer führt sich denn hier jetzt kindisch auf?«

»Ich finde das einfach komisch! So symbiotisch.«

»Symbiotisch ist doch was Gutes, oder? In Beziehungen.«

»Ernsthaft.«

»Ich meine es ernst.«

»Glaubst du, dass sie sich besser kennen, als wir uns kennen?«

»Ja.«

»Aber es kann auch sein, dass man sich, gerade weil man die ganze Zeit zusammengluckt, gar nicht wahrnimmt, oder?«

»Ja.«

»Wenn man keinerlei Ansichten entwickelt hat, ohne den anderen dabei im Blick zu haben.«

»Ja, ja.« Er seufzt.

»Warum denkst du, dass sie sich besser kennen als wir uns?«

»Sie kennen die Familie, aus der der andere kommt, einer kennt die Eltern des anderen, was weiß ich. Sie wissen, welchen Rang der andere früher auf dem Schulhof hatte.«

»Das weiß ich auch von dir.«

Bruch sieht sie an.

»Nicht wirklich der Anführer, scheinbar gleichgültig, aber trotzdem tonangebend.«

Er lacht.

»Und?«

»Wenn ich jetzt ja sage, ist es dann wahr?«, fragt er.

»Soll ich dir mal mein Elternhaus zeigen? Sollen wir nach Groningen fahren, damit ich dir zeigen kann, mit welcher Aussicht ich aufgewachsen bin?«

»Das wäre nett.«

»Nett?«

»Interessant. Gern.«

»Glaubst du, dass du mich dann besser kennenlernst? Glaubst du, man kann sich nach zwölf Jahren noch besser kennenlernen?«

»Ja, natürlich.«

»Willst du das?«

»Ja. Warum nicht?«

»Ich war ein unglückliches Kind.«

»Ja, das weiß ich.«

»Glaubst du, es würde helfen, wenn ich dir noch genauer erzähle, wie unglücklich ich war?«

»Bei was helfen?«

»Mich besser kennenzulernen.«

»Sind wir jetzt in irgendeinem Projekt gelandet, Emilia? Einem Projekt, in dem ich dich besser kennenlerne?«

Bedauern bringt einen um, sagte ihr Vater. Sie hasste ihn für diesen Satz. Er bedauerte in ihrem Beisein die Vergangenheit, ignorierte sie dabei, ertränkte in diesem Bedauern jede Möglichkeit der Annäherung oder Besserung. Aber jetzt spürt sie, wie sie selbst die gleiche klamme Unruhe beschleicht. Sie hat ihre Chancen verpasst. Nach zwölf Jahren ist man für die Geheimnisse des anderen nicht mehr so empfänglich wie am Anfang. In der ersten Zeit damals veranlasste sie jede Einzelheit, die Bruch ihr erzählte, zu stundenlangem Sinnieren und Spekulieren über die Art seiner Gedanken und Gefühle, die Geheimnisse seines Charakters, die Details der Ewigkeit von vierunddreißig Jahren Leben vor ihr. Bei jeder Neuigkeit, die er ihr über sich erzählte, wurde alles wieder auf den Kopf gestellt, und sie ordnete Informationen um, füllte Lücken aus und setzte sich ein Bild zusammen, das ihr mit jeder weiteren Version begehrenswerter vorkam. Die Art, wie man jemanden kennenlernt, wenn man verliebt ist, dieses grenzenlose Interesse an Einzelheiten und Trivialitäten ist nicht wiederholbar.

»Vielleicht«, sagt er, während er vor ihr steht und die Fäuste auf den Tisch stützt, »vielleicht führen Douwe und Sophie ja ein ganz ähnliches Gespräch über uns. Sie finden es vielleicht abartig, wie alt wir waren, als wir uns ineinander verliebt haben. Und glauben, dass das niemals echt sein kann.«

»Und denken, dass wir Torschlusspanik hatten.«

»Angst davor, allein sitzen zu bleiben.«

»Vielleicht glauben sie nicht, dass ich drei Monate nachdenken musste.«

»Wer tut das schon?« Er sieht ihr in die Augen. Der Moment dauert ewig. Dann richtet er sich endlich auf und wendet sich ab.

»Ich mach das morgen fertig.«

»Tu das«, sagt sie.

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