Kitabı oku: «Behindert? - Was soll’s!», sayfa 4
Diesen Stau konnten wir uns jedoch schnell erklären. Kurz hinter der Brücke befand sich die Abfahrt nach Westberlin. Und alle, die am Wochenende nach Westdeutschland fuhren, kamen am Sonntag wieder zurück.
Nur schwer konnten wir uns von dem Anblick der uns selten zu Gesicht zu bekommenden Autos trennen. Aber da wir ja mehrere Wochen Urlaub hatten, kam der nächste »Autobahntag« bald wieder und so gingen wir langsam zu unserem Zelt. Wenn die Zeit es noch zuließ, versuchten wir auf dem Rückweg beiläufig für unser Abendbrot zu sorgen.
Der Wald rund um die Autobahn muss ideale Wachstumsbedingungen für Pilze geboten haben. Sie übersäten in manchen Jahren regelrecht den Boden. Überwiegend wuchsen hier Maronen. Richtig suchen brauchte man sie nur selten. In den meisten Fällen musste man sie einfach nur abschneiden.
An einigen Wochenenden kamen uns meine Großeltern besuchen. Auch sie wollten für sich Pilze sammeln. Dann zogen wir alle gemeinsam los, zu den Wäldern an der Autobahn. Oft fuhr mein Vater oder Opa mit dem Auto hinterher. Dies erwies sich dann auch als sehr hilfreich, denn anders hätten wir die Massen an Pilzen gar nicht weg bekommen. Es war manchmal wie verhext. Der ganze Kiefernwald stand voller Maronen. Man hätte sie zuweilen mit der Sense abmähen und ernten können. So machte Pilze sammeln richtig Spaß, denn wir schleppten (oder fuhren) sie eimer- und körbeweise nach Hause.
Natürlich konnte ich nicht direkt beim Pilze suchen mitmachen. Mich in dem Handwagen quer durch das dichte Unterholz zu ziehen, ging nun beim besten Willen nicht. Wenn ich einen Pilz vom Wegesrand aus sah, machte ich ganz aufgeregt meine Eltern darauf aufmerksam, so als hätte ich ihn zuerst entdeckt. Doch viel mehr konnte ich ihnen nicht helfen. Aber immer nur dazustehen und zuzugucken, das wurde mir sehr schnell zu langweilig. Meinen Bruder interessierten die Pilze sowieso nicht und er turnte schon längst im Wald herum. Das reizte mich natürlich ebenfalls. Wenn der Waldboden nicht zu nass war, setzten mich meine Eltern auf die Erde und so konnte ich mit Andreas den Wald erkunden. Das konnte richtig spannend sein.
Das Gebiet um Lehnin war damals Truppenübungsplatz der NVA. Nicht unbedingt während der Hauptsaison der Zeltler hielten die Soldaten ihre Manöver in unserer unmittelbaren Nähe ab, doch in der Ferne hörte man schon manchmal Donnerschläge von Panzern, die ihre Übungen absolvierten. Auch konnte es einmal im Jahr vorkommen, dass diese zum vom Zeltplatz nicht weit entfernten Schampsee fuhren. Dieser See war eigentlich ein reiner Anglersee. Doch an den zwei langen Seiten dieses Gewässers befand sich jeweils eine Panzereinfahrt. Hier übten die Soldaten mit den Panzern durch das Wasser zu fahren. So ein Manöver einmal hautnah mitzuerleben, war schon etwas Spannendes.
Auch fand man in sämtlichen Waldstücken rund um Lehnin Spuren der Streitkräfte. So auch beim Spielen. Wenn ich auf den Böden der Wälder herumkroch, während meine Eltern Pilze suchten, fand ich die eine oder andere Hülse einer Patrone. Das war immer ziemlich aufregend. Unsere Eltern waren selbstverständlicher Weise nicht gerade begeistert, wenn wir mit diesem Zeug rumspielten. Oft taten wir es heimlich, wenn Mutti und Vati sich auf die Pilze konzentrierten. Es waren stets wirklich nur leere Patronenhülsen, die wir fanden, dennoch zogen uns die Dinger magisch an.
Robbten wir an manchen Tagen etwas tiefer in den Wald hinein, entdeckten Andreas und ich auch mal riesige Vertiefungen im Erdboden, wo ganze Panzer hineinpassten, die zur Tarnung dienten. In diesen gewaltigen Löchern zu spielen, war einfach traumhaft. Wenn wir Glück hatten, fanden wir so ein Panzertarnloch, in dem seitlich noch eine kleine Aushöhlung war, in der man sich zusätzlich verstecken konnte. Oft machten wir uns dann einen Jux. Hatten wir wieder einmal so ein perfektes Versteck gefunden und wir hörten unsere Eltern nach uns rufen, verhielten wir uns mucksmäuschenstill. So hatten sie ihre liebe Mühe, uns zu finden. Doch ist es von mir ein Manko, dass ich in solchen Situationen nicht lange still sein kann. Über kurz oder lang fange ich an zu lachen. So war es schon damals. Und deshalb fanden uns unsere Eltern auch immer ziemlich schnell.
Vom Wetter wurden wir beim Zelten in Lehnin sehr verwöhnt und die Erfahrung zeigte uns, dass mit relativer Regelmäßigkeit die letzte Woche im Juli sowie die ersten beiden Wochen des August die Sonne am verlässlichsten schien. Klar gab es in diesen Tagen auch mal Ausnahmen und der Himmel trübte sich ein. Regenschauer mussten wir ebenfalls hin und wieder in Kauf nehmen. Wenn es nachts auf das Zelt regnete, empfand ich das irgendwie als sehr beruhigend. Ein Gewitter mit aufziehendem Wind stellte sich als ein besonderes Abenteuer dar. Kam dann aber noch Sturm dazu, sah die Sache für uns schon anders aus.
In solchen Situationen stand mein Vater nachts auf und machte regelrechte Kontrollgänge um unser Zelt. Zum einen wachte er darüber, dass das Wasser in den kleinen Gräben, die um das Zelt gezogen waren, nicht über und so in das Zelt lief. Desweiteren ging sein besorgter Blick immer erneut nach oben zu den Baumwipfeln. Dort lauerte für uns die größte Gefahr, herunterfallende Äste. Wären diese heruntergefallen und ungünstig auf das Zelt aufgekommen, hätten sie mühelos das Überzelt, das eigentliche Zelt und erst recht die Schlafkabine durchschlagen können. Zum Glück hielten die großen Kiefern jedem Sturm stand.
Der Sommer 1978 muss ein total verkorkster gewesen sein: nass und kalt. Die kühleren Tage nutzten wir, um Ausflüge mit dem Auto in die nähere Umgebung zu unternehmen. Brandenburg, Potsdam oder auch Berlin boten sich dafür recht gut an. Auch einige Tage, an dem wir nur im Zelt spielen konnten, nahmen wir in Kauf. Doch an einem Tag mussten wir kapitulieren.
Es fing schon am Vorabend an zu regnen und auch nachts hörte es nicht auf. Im Gegenteil. Der Regen verstärkte sich immer weiter. Auch die Tage zuvor waren sehr regnerisch. Als wir am Morgen aufstanden, merkten wir, dass wir unter diesen Umständen unsere Sachen überhaupt nicht mehr trocken bekamen. Auch das Bettzeug war schon klamm. Die kleine Propangasheizung spendete uns zwar ein wenig Wärme, doch zum Trocknen der Sachen war sie nicht geeignet. Wir sahen ein, dass es in diesem Moment keinen Sinn hatte, länger im Zelt zu verharren. Kurzerhand entschlossen wir uns, nach dem Frühstück nach Zerbst zu fahren, um unsere Sachen zu trocknen und frische zu holen.
Mein Vater fuhr unseren Trabant so nah wie möglich an das Zelt, um mich halbwegs trocken zum Auto zu tragen. Mit dem Rollstuhl oder dem Handwagen wären wir den schon aufgeweichten Weg bis zum Parkplatz überhaupt nicht lang gekommen.
Der Zeltplatz lag etwa drei Kilometer vom Ort Lehnin entfernt. Zu ihm führte ein teils festgefahrener, teils sandiger Waldweg. Der Sand ließ das Wasser noch einigermaßen gut versickern, sodass wir ohne größere Probleme die befestigten Straßen ab Lehnin erreichten.
Es goss immer noch wie aus Kübeln. Die Scheibenwischer schafften es kaum, die Scheiben vom Wasser zu befreien. Nur im gemäßigten Tempo kamen wir voran.
Auf einmal blubberte unser Trabi. Da uns das Geräusch bekannt vorkam, beunruhigte uns dies wenig. Mein Vater stieg aus, um nachzusehen was defekt war. Aus Solidarität hielt meine Mutti ihm den Schirm. Zielstrebig wechselte mein Vater die Zündkerze. So ein Blubbern war ein sicheres Zeichen, dass mit diesen etwas nicht stimmte und sie meist verstopft waren. Bei den vielen Fahrten, die mein Vater absolvierte, war das Wechseln der Kerzen für ihn zur Routine geworden. Zumal der Trabant nur zwei davon besaß und diese gut zugänglich waren.
Mit neuer Zündkerze fuhren wir einige Kilometer weiter. Doch nach kurzer Zeit das gleiche Spielchen. Diesmal wechselte mein Vater die andere Kerze. Nun konnte nichts mehr schief gehen. Leider erwies sich dies als Irrtum. Unser Trabi blubberte und spuckte weiter. Wir sagten: »Warum lässt der uns ausgerechnet bei so einem Mistwetter im Stich?« Uns wurde es auch immer kühler, denn die Heizung in so einem Trabant funktioniert nur richtig, wenn er einigermaßen schnell fährt.
Mein Vater unternahm einen letzten Versuch, die Kerzen zu trocknen. Aber unser Trabi dankte es ihm nur mit weiteren Aussetzern der Zündung. Wir waren machtlos und auf fremde Hilfe angewiesen. Aber wo sollte zu damaliger Zeit so schnell Hilfe herkommen? Schon allein das Wort »Handy« war uns bei Weitem kein Begriff, zumal es zu dieser Zeit noch überhaupt gar keine gab.
Daher beschlossen wir, so lange zu fahren, wie es irgendwie ging und zu versuchen, die nächste Werkstatt zu erreichen. Diese war in Belzig. Gemächlich tuckerten wir dahin. Unser »Vorhaben« gelang uns. Wir kamen in der Werkstatt an.
Unbürokratisch konnte uns hier weitergeholfen werden. Während meine Eltern und mein Bruder das Auto verlassen mussten, durfte ich drin sitzen bleiben. Obwohl ich nicht viel von der Reparatur sehen konnte, empfand ich es als spannend, hautnah dabei zu sein. Interessierte ich mich doch sehr für Technik.
Die Zündkerzen waren in Ordnung, doch ein anderes Teil der Zündanlage muss verölt gewesen sein. Nach einer halben Stunde schnurrte unser Trabi wieder wie neu und wir konnten damit zufrieden nach Zerbst fahren.
Es goss immer noch ununterbrochen. In Zerbst angekommen, heizten wir zunächst den Ofen an, um uns erst einmal aufzuwärmen. Gleichzeitig trockneten wir so unsere klammen mitgebrachten Sachen.
Ein Mittagessen war schnell gekocht. Einen Vorrat an Lebensmitteln hatten wir immer im Haus. Während des Essens lief der Fernseher: die Tagesschau. Nach Langem waren das die neusten Informationen in Wort und Bild.
Nachdem alle Sachen getrocknet waren und meine Mutti noch neue herausgesucht hatte, machten wir uns erneut auf den Weg nach Lehnin. Der Wetterbericht versprach eine Besserung. Außerdem wollten wir unter diesen Bedingungen unser Zelt nicht länger als nötig unbeaufsichtigt lassen.
Die Fahrt zurück verlief problemlos. Unser Trabi schnurrte wie eine Eins. So erreichten wir zügig das Ortsende von Lehnin. Bis dahin erlebten wir eine ganz gewöhnliche Autofahrt, eben nur bei Regen. Doch was dann folgte, glich wieder einmal einem nicht alltäglichen Abenteuer.
In der langen Zeit, in der es schon regnete, das waren bald 24 Stunden, waren die Waldwege, die zum Zeltplatz führten, so gut wie überflutet. Auch der beste Sandweg ist einmal mit Wasser voll gesogen. Wir konnten nur erahnen, wo in etwa der befahrbare Weg entlangführte. Mein Vater ahnte diesen Umstand schon im Vorfeld und packte sich seine Gummistiefel vorsorglich und griffbereit ins Auto. Wie Recht er damit hatte! Jetzt zog er sie an.
Da der Weg nicht eben war, bildeten sich unterschiedlich große und tiefe Pfützen, die schon eher kleinen Seen glichen. Zwischen diesen lugte immer mal ein winziger Erdhügel heraus. Diese dienten uns sozusagen als Rettungsinseln. Immer wenn wir so eine Insel erreicht hatten, stieg mein Vater aus und schritt mit seinen Stiefeln die nächste Pfütze ab. Er prüfte wo das Wasser in dieser Senke am niedrigsten stand und wo wir am günstigsten durchfahren konnten. Denn Wasser im Vergaser des Autos hätte zum unweigerlichen Ende dieser wahrhaftigen Spritztour geführt. Mein Vater erkundete so jede Pfütze zentimetergenau und fand immer wieder einen Weg, um hindurch fahren zu können. Manche Stellen erwiesen sich dennoch als eine ziemliche Zitterpartie, denn ganz allzeit sicher war sich mein Vater nicht, ob wir durch dieses oder jenes Loch kommen würden. Da half nur ordentlich Gas zu geben und es zu versuchen. Der Motor heulte dann öfters ganz gehörig auf und einige Male fing er auch an zu Stottern. Dann war doch etwas Wasser in den Vergaser gelangt. Wenn wir in so einem Minisee stehen geblieben wären, wäre dies der Gau des Tages schlechthin gewesen! Wir hatten keinen Rollstuhl, ja noch nicht einmal eine Sitzgelegenheit für mich mit. Meine Eltern und mein Bruder hätten aussteigen und zu Fuß gehen können. Doch ich? Ich war außerdem schon zu groß, als dass mich mein Vater drei Kilometer auf seinen Schultern hätte tragen können. Aber glücklicherweise ließ uns unser Trabi an diesem Tag nicht noch einmal im Stich. Mit Bravour meisterte er jedes noch so tiefe Hindernis und brachte uns treu zu unserem Zelt.
Dort angekommen ließ der Regen schon ein wenig nach. So hatten wir eine wohlverdiente Chance, unsere Sachen trocken ins Zelt zu tragen. Die Stunden unsere Abwesenheit überstand es ohne Schäden. Kein Ast war heruntergekommen und Wasser floss auch nicht hinein.
Nach dem Abendessen legten wir uns recht bald schlafen. Ein wirklich aufregender Tag ging zu Ende. Nur noch ganz leise tröpfelte es auf die Zeltplane, genau die richtige Geräuschkulisse, um einzuschlafen. In der Nacht hörte es dann endlich ganz auf zu regnen und am nächsten Morgen konnten wir die recht kühle, aber saubere Waldluft genießen.
Der langersehnte Tag
So schön meine ersten großen Ferien auch gewesen sein mochten, fieberte ich doch ihrem Ende entgegen. Konnte ich es kaum noch erwarten, ein richtiges Schulkind zu werden. Immer wieder fragte ich meine Eltern die Wochen zuvor, wie oft ich noch schlafen müsse, bis ich in die Schule käme.
Der lang ersehnte Tag brach endlich an, Sonntag, der 1. September 1974. Ein besonderer Tag im doppelten Sinne. Nach dem Aufstehen gratulierten wir erst einmal meiner Mutti zum Geburtstag. Aber dann konnte es für mich nicht schnell genug gehen. Vor lauter Aufregung gelang es meinen Eltern kaum noch mich zu bändigen. Über die Freude auf meine bevorstehende Einschulung vergaß ich glatt, dass heute nach langen acht Wochen auch wieder ein Tag des Abschiednehmens gekommen war.
Nach dem Frühstück ging es gleich los. Da mein Bruder für die Feierstunde und das ganze Drumherum noch zu klein war, ließen wir ihn bei meinen Großeltern.
Ein richtig schöner Spätsommertag stellte sich ein. Als hinter Halberstadt die hügelige Landschaft begann, konnten wir, wie schon vor einem Jahr, die beginnende Laubfärbung sehen. Doch für solche Naturschauspielchen hatte ich heute überhaupt keinen Blick.
Gegen Mittag trafen wir in Oehrenfeld ein. Die Zeit erlaubte es noch, in der Waldgaststätte etwas zu essen. Meine Gedanken waren jedoch schon längst bei den anderen Kindern. Außerdem stieg die Spannung auf das bevorstehende Ereignis stetig und so bekam ich nur wenige Happen herunter. Danach fuhren meine Eltern mit mir die wenigen Meter bis zum Heim II. Viel mehr Autos als bei normalen Anreisen standen vor dem Haus. So fiel es nicht leicht, noch eine Parkmöglichkeit zu erwischen.
Mein Vater trug mich auf den Schultern. Für einen kurzen Moment blieb er vor dem ebenerdigen Eingang stehen und machte mich mehr spaßeshalber auf ein Schild neben der Tür aufmerksam. Er bemerkte meine Anspannung und versuchte, sie etwas zu lösen. »Hier, damit du weißt, wie viele Kinder ihr seid.« Mein Vater las vor: »In diesem Haus befinden sich 29 Kinder.« Die Zahl stand auf einer tafelähnlichen Fläche und konnte so ständig mit Kreide aktualisiert werden.
Genervt von den Erklärungen meines Vaters mahnte meine Mutti zur Eile. Beim Hineingehen in die Villa erblickten wir eine gewaltige Menschenmenge, bestehend aus Kindern und Erwachsenen. Egal wer, sie mussten alle irgendwie zu den Schulanfängern gehören. Ab und zu erblickte ich bekannte Gesichter aus der Vorschule. Doch auch viele neue Kinder waren unter ihnen. Eigentlich viel mehr als ich dachte. Dafür gab es aber zwei Erklärungen. An diesem Tag wurden zwei Klassen eingeschult. Zum einen waren es die Kinder, die in die normale erste Klasse gehen sollten. Die restlichen Kinder, darunter auch ich, kamen in die sogenannten S-Klassen. Etliche der fremden Knirpse reisten direkt von zu Hause an und wurden ohne den Besuch der Vorschule eingeschult. Wer nun in welche Klasse kam war mir zu diesem Zeitpunkt kaum bekannt und in diesem Moment auch ziemlich egal. Wollte ich doch einfach nur eingeschult werden!
Langsam löste sich das Knäuel von Menschen auf. Wir betraten den großen, hellen, mir bekannten Raum, welcher das Jahr zuvor für die Vorschule diente. Zum heutigen Anlass wurde an der angrenzenden Wand am Ende der Fensterseite eine große Schultafel aufgestellt. Diese schmückten viele farbige Luftballons. Auf dieser Seite standen auch die Stühle für uns (Fast)Schulkinder. Sogar an mein kleines Stühlchen, das Seitenlehnen hatte und in dem ich richtig sitzen konnte, wurde gedacht. Es stand gleich in der ersten Reihe. Mein Vater trug mich dorthin und setzte mich hinein. Auf der dunkleren, den Fenstern gegenüberliegende Seite, standen in Querrichtung zahlreiche Stühle für unsere Eltern bereit.
Nachdem das Getuschel langsam verstummte, trat Herr Mertens, unser zukünftiger Schuldirektor, vor uns, begrüßte uns und stellte sich mit freundlichen Worten vor. Die von den Fenstern hereinfallenden Sonnenstrahlen spiegelten sich auf seinem kahl werdenden Kopf. Er war noch ziemlich jung, knapp vierzig.
Herr Dr. Friedrich sprach anschließend einige Worte zu uns und wünschte viel Glück und vor allem Freude in der Schule. Nun standen die zwei Verantwortlichen der Einrichtung nebeneinander. Einfach ein putziger Anblick! Der Größenunterschied der Beiden hätte nicht deutlicher ausfallen können. Herr Friedrich war bis dato wohl der Größte vom gesamten Personal, schlank und im gesetzten Alter. Gegen ihn erschien Herr Mertens gleich zwei Köpfe kleiner. Ein kleiner Bauchansatz zeigte sich unter seinem Jackett.
Ich war völlig begeistert bei den Worten dieser Herren. Obwohl diese sehr freundlich klangen, lösten sie in mir eine gewisse Ehrfurcht aus. Mein Körper verkrampfte sich immer mehr. Ich hatte ein weißes Seidenhemd an. Vor lauter Aufregung hielt ich mich mit der rechten Hand am linken Ärmel fest. Dadurch bekam ich meine Spastik besser unter Kontrolle. In solchen Situationen ist es bei mir so (auch noch heute), dass, wenn ich nervlich sehr angespannt bin, ich schnell zu weinen anfange, egal ob vor Freude oder aus Trauer. Dieses Weinen kann ich dann in solchen Momenten kaum kontrollieren und so endet meine Angespanntheit nicht selten in lauterem Seufzen.
Meine Mutti hatte direkten Blickkontakt zu mir und so kamen in ihr die schlimmsten Befürchtungen auf, dass ich entweder gleich los schreien würde oder dass die Nähte meines Hemdes nachgeben. Doch glücklicherweise trat keine ihrer Sorgen ein!
Die Feierstunde war in meiner Erinnerung doch recht kurz. Herr Reimert, der Klassenlehrer unserer S-Klasse und die Klassenlehrerin der anderen ersten Klasse stellten sich ebenfalls vor.
Zum Ende der kleinen Feierstunde zeigte man uns das Märchen »Tischlein deck dich« in Form von Lichtbildern. Dabei löste sich meine Anspannung merklich und die Nähte meines Hemdes wurden entlastet.
Im Anschluss teilten uns unsere Lehrer auf die zwei Klassen auf. Erst jetzt wusste ich so richtig, wer eigentlich zu meiner Klasse gehört. Zwei bekannte Kinder aus der Vorschule waren darunter, Ingo und Detlef. Drei Gesichter lernte ich neu kennen, Peggy, Frank und Peter. Auch sie hatten starke körperliche Einschränkungen, sodass sie in den S-Klassen speziell gefördert werden sollten.
Die Klassenräume der ersten Klasse sowie unserer S1 befanden sich in der oberen Etage. Unsere Eltern wurden gebeten, mit uns die entsprechenden Klassenzimmer aufzusuchen. Dies ergab erst einmal ein mächtiges Gedränge auf den beiden hölzernen Treppen, die nach oben führten. Etliche Kinder mussten die Stufen hinaufgetragen werden, so auch ich. Mein Vater trug mich, gefolgt von meiner Mutti.
Die beiden Klassenzimmer lagen gegenüber. Das der S1 war das rechte am Ende des Flures. Dieses kannte ich schon, hatten wir in ihm doch am Ende der Vorschulzeit die kleine Prüfung, in der entschieden wurde, ob wir schultauglich waren und welche der beiden Klassen für uns geeignet war.
Herr Reimert nahm uns freundlich in Empfang und zeigte jedem seinen Platz. Es gab nur drei Schulbänke, die in der Mitte des Raumes hintereinander standen. Rechts hinter der Tür stand der Lehrertisch. Mittig an der dahinter grenzenden Wand sahen wir die große Tafel. Es war keine gewöhnliche, an der Wand befestigte, sondern eine auf Rädern fahrbare. Sie besaß auch keine ausklappbaren Flügel. Zwei normal große Tafeln waren durch ein Seil so miteinander verbunden, dass wenn man die vordere nach oben schob, die hintere runter fuhr. Links neben der Tür stand ein größerer Schrank, der mit Fächern unterteilt war. Hier bekam jedes Kind ein kleines Fach für seine persönlichen Sachen. Zur Tafel blickend befand sich links noch ein kleines Schränkchen, so eines wie es in vielen Kinderzimmern zu finden war und das Herrn Reimert einigen Platz für die im Unterricht benötigte Gegenstände bot.
Ich durfte mich ganz vorn in die erste Reihe auf die rechte Seite setzen. Unbemerkt hatte Herr Reimert mein Stühlchen nach der Feierstunde schnell nach oben getragen und so stand es schon für mich bereit.
In unserem Klassenzimmer lernten wir nun erstmals unsere neue Erzieherin, Frau Griebel kennen, eine kleine, zierliche Frau mit kurzen, blonden Locken und einer bräunlichen Brille. Von nun an war Frau Griebel für uns nachmittags zuständig.
Relativ schnell wurden wir Kinder ruhig. Stand für uns an diesem Tag ja noch das wichtigste bevor, nämlich die Vergabe der Zuckertüten. Alle diese bunten und heißbegehrten Tüten lagen vorn auf dem Lehrertisch. Wie meine dort hingekommen ist, konnte ich mir kaum vorstellen. Eigentlich hätte ich sie ja im Auto sehen müssen?
Herr Reimert bat jeden von uns, seinen Namen zu nennen und zu sagen, wo er wohnt. »Das ist ja schon ein bisschen wie Schule«, ging es mir durch den Kopf. Jeder gab sich richtig viel Mühe, diese kleine Aufgabe zu lösen. Ich dachte mir, umso deutlicher ich meinen Namen sprechen würde, desto größer sei meine Zuckertüte. Ich strengte mich wirklich sehr an. Doch meine Aufregung ließ kaum ein Wort aus mir heraus. Dennoch bekam ich, nachdem ich die Worte nur rausquetschen konnte, meine Zuckertüte. Frau Griebel legte sie mir auf die Schulbank. Richtig schön groß und purpurrot strahlte mich die Tüte an, prall gefüllt mit den köstlichsten Leckereien. Mir bekannte Märchenfiguren verzierten sie außerdem.
Die komplette Aufregung des Tages wich erkennbar aus mir. Freude stieg stattdessen in mir auf. Ich strahlte über das ganze Gesicht. Nun hatte ich es wirklich geschafft. Ich war ein richtiges Schulkind!
Obwohl der Trubel um die Einschulung vorüber war, stellte sich in mir eine neue Unruhe ein. Meine größte Besorgnis war, wo ich schlafen würde und vor allem was ich für ein Bett bekäme. Unten in der Vorschule lag ich noch in einem Gitterbett. In diesem fühlte ich mich geborgen. Aber nun?
Die ganze Umgebung auf der oberen Etage war für uns alle fremd. Das Jahr in der Vorschule verbrachten wir ja im Erdgeschoss. So mussten wir erst einmal unser neues Zuhause kennenlernen. Die Schlafräume befanden sich am anderen Ende des Flures. Mein Vater trug mich in den Schlafraum, in dem insgesamt fünf Betten standen. Dieser schien recht hell, da er – wie unser Klassenzimmer – über Eck lag und daher zwei Fenster hatte. Ihn sollte ich unter anderem mit Frank und Ingo teilen. Als ich auf dem Arm meines Vaters den Raum betrat, sagte er: »Na, rate mal, welches Bett ich für dich ausgesucht habe.« Drei schmale Betten reihten sich an der rechten Seite nebeneinander auf. Auf der anderen Seite standen die zwei Betten läng hintereinander, von dem das eine sofort auffiel. War es doch breiter. Ich freute mich schon auf dieses breitere Bett. Würde ich mich in ihm am sichersten fühlen. Sofort zeigte ich darauf, um somit die Frage meines Vaters zu beantworten. Meine Hoffnung auf dieses Bett trübte sich jedoch schnell. Mein Vater sagte: »Nein, dieses dort.« Er deutete in die gegenüberliegende Ecke auf eines der schmalen Betten. Ich sagte nichts, enttäuscht, dass ich nicht mein »Traumbett« bekam, war ich insgeheim aber schon. Das große breite Bett war natürlich Ingo, dem großen Lulatsch, vorbehalten.
Die Zeit verstrich. Es ging dem späten Nachmittag entgegen. Über die wichtigsten Dinge wussten wir nun Bescheid. Wir kannten unser Klassenzimmer sowie unseren Schlafraum. Um die vielen neuen Eindrücke erst einmal zu verdauen, nahmen uns unsere Eltern ein bisschen mit in den Garten. Die Sonne meinte es noch recht gut. Hier draußen trafen wir Fräulein Kleinert, meine Erzieherin aus der Vorschule. Groß war die Wiedersehensfreude. Eine mir vertraute Person anzutreffen, empfand ich in diesem Moment als sehr erleichternd. Fräulein Kleinert gratulierte mir natürlich zur Einschulung und ich erzählte ihr meine Erlebnisse in den Ferien.
Dann kam wieder der Augenblick, den ich so verdammte; das Abschiednehmen von meinen Eltern. Doch an diesem Tag fiel es mir fast leicht. Nur kleine Tränen kullerten aus meinen Augen. Zu sehr beschäftigten mich die Eindrücke des Tages und ich freute mich auf den nächsten Morgen, meinen ersten Schultag.