Kitabı oku: «Die Frau des schönen Mannes», sayfa 2
Sie schaute mich an und ich sah zwischen ihren Augenbrauen eine kleine Falte. »Was?«
»Na, das hier.« Ich deutete auf uns. »Warum hast du damit vor vier Monaten angefangen? Warum sagst du den Männern, dass du sie magst?«
»Das tue ich nicht. Ich sage es ihnen nicht. Ich habe es nur dir gesagt.«
»Gut, du hast es nur mir gesagt, aber was war vor vier Monaten? Wieso vor vier Monaten?«
»Es gab verschiedene Gründe, damit anzufangen.«
Ich wartete.
»Ich habe in einer Wasserspenderfirma gearbeitet, weißt du, die Dinger, die beim Arzt stehen, mit einem rosa und einem blauen Knopf, für normales und gekühltes Wasser. Ich war fürs Controlling der Firma zuständig. Zweihundert Angestellte. Sechzig Stunden Arbeit die Woche. Ich habe das gebraucht. Ich war immer ansprechbar. Mein Handy war die ganze Nacht an. Es kam vor, dass mein Chef vier Uhr morgens aus China angerufen hat, und ich bin rangegangen. Ich habe immer alles bis zur Erschöpfung gemacht. Eines Abends kam ich nach Hause. Mein Freund, wir waren schon getrennt, hat mir die Füße massiert, wir verstehen uns immer noch sehr gut. Er massierte mir die Füße, und ich merkte, wie mir der linke einschläft. Es war unangenehm. Ich sagte ihm, er solle doch links mal etwas mehr machen. Ich spürte nichts. ›Weiter oben und kräftiger‹, sagte ich. Er schaute mich komisch an. Ich sagte, dass er kräftiger zudrücken soll, denn ich hab’ gar nichts gespürt. Er drückte voll zu. Wir hatten gerade gegessen, und die Teller standen noch rum. ›Nimm die Gabel da!‹, sagte ich zu ihm. Er wollte erst nicht. Dann nahm er sie und stach leicht in meinen Oberschenkel. Ich spürte nichts. Es war beängstigend. Ich hab’ die Gabel genommen und so lange gedrückt, bis es zu bluten anfing. Er schaute mich an. So hatte ich ihn noch nie gesehen. So ängstlich. Ich fragte, was los ist. Er sagte nur, dass mit meinem Gesicht etwas nicht stimmt. Ich bin sofort ins Bad und schaute in den Spiegel. Meine linke Gesichtshälfte hing nach unten, wie geschmolzen, wie geschmolzenes Wachs. Es war so eine Art Schlaganfall. Es hat vier Wochen gedauert, bis ich meinen Mundwinkel wieder bewegen konnte. Mit der Arbeit war es erstmal vorbei. Ich dachte, es geht nie wieder weg. Jetzt ist es einigermaßen okay. Bis auf das hier.« Sie deutete auf ihr linkes Auge, das sich nicht bewegte und mich stumm anschaute.
Ich hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit so einer Geschichte. Aber es sind wohl immer solche Geschichten. Dann sagte ich so etwas wie »Krass« oder »Das ist schlimm.« Was soll man da sagen.
»Du bist der Erste, dem ich das erzähle«, sagte sie, und ich dachte: ›Das muss sie jetzt sagen. Wie gemein das ist, dass ich so etwas denke, wie gemein und niederträchtig, so etwas zu denken.‹ Vielleicht war ich ja wirklich der Erste.
Sie wusste nichts über mich, und ich kannte diese Geschichte. Ich fragte sie, warum sie es nicht ihren Eltern erzählt hat; und dies war die zweite Frage, die sie an diesem Abend nicht beantwortete. Sie blickte mir nur fest in die Augen.
Ich ruderte sie schweigend über den See, in seichteres Gewässer, zu einer Insel, auf der man durchatmen kann, auf der man sich aufrecht hinsetzt und durchatmet. Sie holte tief Luft, und ich liebte sie dafür. Ich glaube jetzt, dass sie damals wirklich frei atmen konnte.
Sie blieb drei Stunden bei mir und bat mich, mir ihre Nummer geben zu dürfen. Ich wunderte mich nicht und klappte mein Handy auf. Sie diktierte. »Null, eins, sieben, eins, fünf, fünf, drei, sieben, zwei, fünf. Hast du’s?« Ich tippte auf ›Nummer speichern‹. »Ja, ich hab’s.« Das Handy forderte mich auf, den Namen einzutippen. Ich schaute sie an, und was ich jetzt tat, war schlimm. Ich sagte es langsam und laut, während ich es eintippte: »Lena.«
Sie reagierte sofort und lächelte noch: »Nein, nein, Lea.«
Es schmerzte mich. Erst jetzt fiel ihr auf, was ich getan hatte. Sie wurde wütend. »Wolltest du mich gerade testen? War das ein Test, ja? Du wusstest genau, dass ich Lea heiße. Du wolltest wissen, ob ich das erfunden habe, oder?« Ich schaute ihr in die Augen, die leicht schielten, schwarz und tief waren und in die sich eine Trauer mischte.
»Entschuldige«, sagte ich und dachte: ›Ich wollte dir nicht wehtun, aber ich kann das alles nicht glauben.‹ Doch ich sagte es ihr nicht.
Zum Abschied standen wir in der Tür zum Flur und küssten uns. Ein Kuss, in dem man noch den Schmerz schmeckt. Es war, als würden wir uns sicher wiedersehen.
Ich habe sie nie angerufen. Ich hatte Angst vor der Wahrheit, vor der einen wie vor der anderen.
GESPRÄCHE MIT OBEN – OLGA
Es war an einem heißen Sommertag, als Olga, über den Patienten Baranow gebeugt, das Ende der Bauchsonde mit dem Schlauch zum Tropf verbinden wollte. Da sprang die Tür des Krankenzimmers auf, und Andrej, ein junger Pfleger, stürmte herein. Olga drehte sich erschrocken um, noch den Katheter in ihrer Hand.
»Er ist dran! Er ist dran!« Andrej schnappte nach Luft, denn er war die fünf Treppen aus der Verwaltung, immer vier Stufen auf einmal nehmend, heruntergesprungen, und nun konnte er nur noch in kleinen Stückchen sprechen.
»Oben! Am Telefon! Schnell!«
Olga wusste nicht gleich, worum es ging, doch dann begriff sie.
Sie drehte sich noch einmal zu dem Patienten um, dann wieder zu Andrej gewandt sagte sie: »Mach du das hier!« Er war schnell bei ihr und übernahm den Schlauch. Dann rannte sie los, und ohne zurückzuschauen rief sie: »Danke!«
Andrej schrie ihr noch hinterher: »Und grüß ihn von mir! Grüß ihn!«
Der Patient Baranow hatte seine Augen geschlossen und hörte dies alles nur durch den dichten Schleier aus Schmerzmitteln und dumpfer Erschöpfung.
Olga musste nun diese fünf Treppen hinauf. Auf dem Gang kam ihr die Oberschwester entgegen und blieb überrascht mitten im Weg stehen. Olga lief auf sie zu und mit den Worten »Entschuldigen Sie, aber er ist dran!« knapp an ihr vorbei.
Sie hörte noch, wie ihr die Schwester nachrief, dass sie ihn grüßen solle, dass sie ihm alles Gute wünschen solle, alles Gute.
Als sie außer Atem oben in der Verwaltung ankam, wartete ihre Freundin Irina Andrejewna schon ungeduldig auf sie, streckte ihr den Hörer entgegen, und als Olga ihn vorsichtig an ihr Ohr hielt, war die Raumstation bereits über Europa hinweggeflogen, hatte, während Olga vom dritten in den vierten Stock gelaufen war, fünfhundert Kilometer zurückgelegt und war nun mit ihrem Mann an Bord im Erdschatten über der Mongolei verschwunden.
Olga setzte sich enttäuscht, noch außer Atem, an den kleinen Tisch im Raucherraum neben der Personalabteilung. Einige Minuten saß sie da und konnte an nichts denken, nur fluchen konnte sie. Sie zündete sich eine von ihren dünnen weißen Zigaretten an. Das Zimmer war schäbig. An der Wand hing ein einziges verblasstes Bild von der Küste des Schwarzen Meeres. Auf der Wachstuchdecke vor ihr stand ein Aschenbecher, sonst nichts. Sie zählte die Stummel darin. Es waren vierundzwanzig. Als sie zu Ende geraucht hatte, drückte sie ihre Zigarette aus und sagte leise: »Fünfundzwanzig.«
Sie sah aus dem offenen Fenster nach draußen. Von dort aus, wo sie saß, konnte sie ihre Wohnung im neunten Stock des gegenüberliegenden Plattenbaues sehen. Sie dachte daran, wie sie am Abend wieder allein dort drüben im Wohnzimmer sitzen und der Fernseher flimmern würde. Sie sah sich selbst dort hin- und herlaufen und dachte daran, wie schön es sein wird, wenn ihr Mann zurück ist. Sie dachte, dass sie dann unbedingt tapezieren müssten, denn oben in einer der Zimmerecken blätterte schon etwas Tapete von der Wand. Sie fegte immer mit dem Besen die Spinnweben von der Decke, aber wie lange würde sie dazu noch die Kraft haben?
Sie ärgerte sich darüber, dass sie ihr nicht vorher Bescheid gesagt hatten, dass sie überhaupt nie vorher Bescheid sagen würden; und dann fiel ihr ein, dass Irina Andrejewna jeden Tag eineinhalb Stunden mit der Bahn quer durch die Stadt fahren musste, um auf Arbeit zu kommen, und ihr fiel wieder auf, wie groß Moskau eigentlich war. Irgendwer hatte ihr erzählt, dass wenn man diese Stadt einmal zu Fuß durchqueren wolle, es zwei Wochen dauern würde.
Gleich darauf musste sie an den Patienten Baranow denken, dass es ihn am schlimmsten erwischt hatte, viel schlimmer als all das, was ihr bisher in ihrem Leben passiert war. Er war sicher einmal ein hübscher Mann gewesen, selbst der kahle Kopf stand ihm noch gut. Sie dachte, ein Mensch sollte so nicht sterben müssen wie er. Sie dachte daran, wie sie ihm zwei Tage zuvor die Wahrheit nicht mehr verschweigen konnte, als er immer wieder nachgefragt hatte, wie es stünde mit ihm, sie könne es ihm ruhig sagen, er würde keinen Ärger machen, aber er müsse es wissen, ob der Professor diese Woche noch kommen würde. Er hatte sie wirklich gefragt: »Liebe Olga, sagen Sie mir ehrlich, kommt der Professor diese Woche noch zu mir?« Und sie hatte nur kurz innegehalten und genickt und nichts gesagt, denn sie wusste, dass er wusste, was es bedeutet, wenn der Professor kam.
Warum musste ihr Mann auch so ein Mensch sein, der sich hingibt für solch eine Sache, der sich freiwillig einsperren lässt, auch wenn es das erhabenste Gefängnis der Welt ist, eingesperrt ist er, und dann formulierte sie den Satz, den sie dachte, noch einmal um: ›Nein‹, dachte sie, ›eingesperrt hat er sich selbst, schon immer hat er sich einschließen lassen.‹
Damals schon hatte er den Versuch gemacht, neunzig Tage auszuhalten in einem Raum, der noch kleiner war als die Station, in der er jetzt saß. Er durfte sie, seine Frau, nicht sehen, das gehörte dazu, denn sie wollten wissen, ob ein Mensch stark genug sei, diese ganze Zeit allein nur mit sich selbst zurechtzukommen.
Sie hatte ihn einmal besucht. Davor gestanden hatte sie, vor diesem Raum aus Holz, der von außen aussah wie das schlecht gebastelte Haus eines Kindes und drinnen wie der Nachbau einer Station, die man irgendwann einmal zu den Sternen schicken wollte. Sie hatte damals davorgestanden und gedacht: ›Was wird er jetzt gerade machen, in diesem Moment? Spielt er Schach mit sich selbst? Kratzt er sich am Kopf? Liest er in einem Buch? Schreibt er einen Brief an mich? Wäscht er sich gerade das Gesicht?‹ Was konnte er schon tun da drin.
Sie hatten ihr angeboten, ihn über eine der Kameras sehen zu können, und eigentlich war sie nur deswegen hingefahren; aber als dann nur diese dünne hölzerne Wand zwischen ihr und ihm war, konnte sie es nicht mehr. Sie wollte ihn nicht so sehen, sie wollte nicht wissen, was er tat, wie er aussah nach zwei Monaten Isolation. Sie wusste, dass er ihr fremd sein würde, denn er musste sich sehr weit im Zentrum seines Selbst befinden, und von dort aus kann nur etwas wie Fremdheit von einem Menschen abstrahlen, und davor hatte sie mehr Angst als vor der Zeit der Trennung, die noch vor ihnen lag.
Sie hatten ihr gesagt, dass er sich sehr gut mache, dass er sich wohl fühle und alles wirklich gut verlaufe, viel besser als bei seinem Vorgänger, der nach einem Monat abbrechen und, wie sie erfahren hatte, ›behandelt‹ werden musste. Ihr Mann musste nicht abbrechen, er musste auch nicht behandelt werden. Ihr Mann brauchte niemanden, auch nicht sie, obwohl er immer das Gegenteil behauptete: er könne das alles nur, weil er wüsste, dass sie auf ihn warte, weil er sich ihrer sicher war, und das konnte er auch sein, dachte sie. Er hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, das zu schaffen, zum Wohle der Wissenschaft, zum Ruhme des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates, der großen Sowjetunion, dass man später, ja, vielleicht irgendwann sogar er selbst, zum Mars und noch weiter hinaus ins Universum fliegen könne. Sie lag immer mit sich im Streit darüber, ob sie stolz oder wütend auf ihren Ehemann sein sollte, der etwas so Unmenschliches fertigbrachte.
Das alles dachte sie jetzt, während sie schon seit einiger Zeit Ringe mit ihrem Zeigefinger auf das Tischtuch malte. Und dann dachte sie noch, dass sie all das niemandem erzählen konnte, denn sie hatte Angst, sie würden ihn dann nicht mehr hoch lassen, und das wäre tatsächlich das Einzige, was er ihr nie verzeihen würde.
GESPRÄCHE MIT OBEN – WINNIE
Winnie war ein Mädchen vom Lande. Sie war tausend Meilen entfernt vom Meer aufgewachsen, in einer Kleinstadt mitten in Wyoming. Ein kräftiger Fluss zog sich linkerhand des Highways durch das Städtchen und teilte den Ort in zwei Hälften. Auf der grünen, bewässerten Seite erstreckten sich endlose Maisfelder und dazwischen breite Streifen Weideland. Auf der anderen Seite der Stadt verlor sich eine verdorrte Steppe in den Schluchten und Hängen eines steinigen Vorgebirges. Die Luft, die Winnie ihre gesamte Kindheit hindurch eingeatmet hatte, war trocken und staubig von den hinter ihrem Haus vorbeiziehenden Rinderherden. Es gab nur drei Attraktionen in ihrem Ort: Die jährlich stattfindende Parade der Kriegsveteranen, ein Schwimmbad und den ›mysterious suitcase man‹, einen Freund ihres Vaters, der im Besitz einer Sammlung von 1200 verschiedenartigen, zum Großteil kuriosen, aber leeren Koffern war.
Winnies Eltern hatten sich, als sie vierzehn Jahre alt war, scheiden lassen, und da sie zwei angesehene Bürger der Stadt waren, störte sich niemand daran. Ihr Vater leitete die örtliche Zweigstelle einer kleinen regionalen Bank. Er war beliebt, saß den ganzen Tag in seinem winzigen Büro an der Hauptstraße, und alle Leute aus der Gegend brachten ihm ihr Geld. Er war Bankdirektor und Kassierer zugleich und bürgte mit seinen stämmigen zwei Metern und seiner allen im Ort bekannten Treffsicherheit für die Ersparnisse der Bürger. Die Bank schloss ihre Filiale im Ort kurz nach der Scheidung. Der Vater wurde arbeitslos und Stammgast in der Bar gegenüber. Er hätte sicher in einer anderen Stadt eine Arbeit finden können, aber er wollte nicht weg. Schließlich gab man ihm eine kleine Anstellung als Pförtner im Rathaus. Diese Demütigung nahm er scheinbar widerstandslos hin, aber Winnie kannte die Wut, die in ihm steckte und oft aus ihm herauskam, wenn sie allein mit ihm war. Dann schimpfte er auf die Leute, die ihn entlassen hatten, und über den Bürgermeister, der ihm die neue Stelle verschafft hatte.
Winnies Mutter war Ärztin für Allgemeinmedizin, und trotz einer neu erbauten Klinik in der benachbarten Stadt lief ihre eigene kleine Praxis gut, denn sie war bei den Farmern angesehen, nicht etwa weil sie eine gute Ärztin war, sondern weil sie etwas von Pferden und Rindern verstand.
Die Vorfahren ihrer Mutter, italienische Einwanderer, waren Farmer gewesen. Die Großmutter ihrer Großmutter hatte auf der Überfahrt in die neue Welt ihren zukünftigen Mann, einen unerschrockenen und robusten Iren, kennengelernt. Sie war bereits schwanger, als sie sich auf den Weg in den Westen machten. Aber sie konnte die beschwerliche Reise auf dem California Trail nicht fortsetzen, und so blieben das satte Grün der Küste und der Traum ihres Mannes vom großen Goldfund eine Illusion. Man ließ ihren Planwagen in der Wildnis Wyomings zurück. Ihr Mann schlug vier Pflöcke in die staubige Landschaft und baute ein Haus und einen Stall. Andere Familien siedelten sich in der Nachbarschaft an. Das Städtchen wuchs, und es entstand nur aus einem einzigen Grund, weil sie es alle nicht geschafft hatten. Eine Siedlung von Versagern und Schwächlingen. Nichts anderes hatte Winnie je von diesen Leuten, den Gründungsvätern der Stadt, gedacht. Und die Beteuerungen ihres Geschichtslehrers, Mr. Willarby, die Farmer hätten fruchtbaren Boden und üppiges Weideland vorgefunden, konnten Winnie nicht davon abbringen. Für sie waren alle auf halber Strecke im Staub oder Morast steckengeblieben.
Winnie wollte weg aus der Provinz, sie wollte an die Westküste und dort an einem angesehenen College Medizin studieren, aber trotz guter Leistungen in der örtlichen High School gelang es ihr nicht, an einer der großen Universitäten aufgenommen zu werden. Schließlich gab sie sich mit einem zweitklassigen College in Oakland zufrieden und versprach ihrer Mutter, sobald als möglich auf die University of California zu wechseln. Sie verließ ihr Heimatstädtchen, als sie einundzwanzig war und hatte nicht vor, wiederzukommen. Nach zwei Jahren war der Wechsel an eine andere Universität für sie in weite Ferne gerückt. Das Studium fiel ihr schwerer, als sie gedacht hatte. Sie hatte sich damit abgefunden, in Oakland zu bleiben und dort ihren Abschluss zu machen.
Eine Jugendfreundin ihrer Mutter hatte in San Francisco eine renommierte onkologische Praxis, und Winnie konnte während der Semesterferien den Sommer über dort arbeiten. Da Winnie jung, attraktiv und nicht auf den Mund gefallen war, teilte man sie als Urlaubsvertretung der Empfangsdame ein. Sie koordinierte die Termine und kümmerte sich um die Kunden, die im Wartezimmer saßen und alle eines gemein hatten, sie waren reich. In dieser Praxis gab es keine Patienten, es gab nur Kunden. Man wollte diesen Leuten nicht das Gefühl geben, krank zu sein.
Eines Morgens kam Winnie zur Arbeit, öffnete das Kalenderprogramm und sah, dass jemand die Termine des Tages ausgetragen und einen einzigen Kunden eingetragen hatte. Kurz darauf rief ihre Chefin alle Mitarbeiter im Wartezimmer zusammen und erklärte, dass im Laufe des Tages, wann, wisse sie nicht genau, ein Milliardär zu einer Magenspiegelung kommen würde. Sie müsse nicht betonen, wie wichtig ein solcher Besuch für die Praxis sei. Er wolle von niemandem direkt angesprochen werden und ausschließlich über seinen Manager mit den Mitarbeitern kommunizieren.
Drei Stunden später klingelte das Telefon, und der Manager kündigte Steves Erscheinen an.
Winnie erinnerte sich später oft daran, wie zunächst die beiden Leibwächter die Lage erkundeten und dann Steve, begleitet von Sanchez, dem Manager, die Empfangshalle betrat. Steve ging den großen, in den Marmor eingelassenen goldenen Koordinatenstern auf und ab, ließ sich in einen Sessel fallen, stand wieder auf, ging einige Meter und setzte sich dann auf eine Bank am Fenster. Sanchez besprach mit ihrer Chefin noch einmal den Ablauf.
Winnie kannte diese Kunden, und sie kannte deren Angst, denn die unterschied sich in nichts von der gewöhnlicher Leute. Winnie hatte sich besonders um diese Kunden zu kümmern und sie abzulenken. Sie hatte ein Talent, die Leute auf andere Gedanken zu bringen. Also ging sie um den Tresen herum. Die Bodyguards hielten sie wohl für ungefährlich, denn sie zuckten nicht einmal, als sie sahen, dass sie sich ihrem Schützling näherte. Winnie bemerkte den nervösen Blick ihrer Chefin, wie sie an Sanchez vorbei zu ihr hinübersah.
Steve saß da und starrte stumm auf den Boden, bis Winnies Füße vor ihm auftauchten. Da schaute er zu ihr auf, und sie sah sein bleiches Gesicht.
»Sie müssen keine Angst haben«, sagte sie. »Daran ist noch niemand gestorben, glaube ich.«
Steve warf einen kurzen Blick hinüber zu seinen Leibwächtern, dann lächelte er Winnie zu und sagte, dass das nicht sehr überzeugend klinge. Sie erklärte ihm, wie man einem Kind etwas erklärt, dass sie bereits seit drei Wochen in der Praxis wäre und seitdem niemand gestorben sei, also werde wohl auch er es überleben.
Sanchez war hinter sie getreten, und sie hörte ihn sagen, dass alles vorbereitet sei. Steve stand auf, er war einen Kopf größer als Winnie, und sie wich vor seinem stämmigen Körper zurück. Er ging mit einem Lächeln an ihr vorbei und sagte: »Fast hätte ich mir gewünscht, dass Sie meine Hand halten. Aber es ist kein schöner Anblick, ein Mann mit einem Schlauch im Mund.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte und zwinkerte ihm nur kurz und ein wenig verlegen zu.
Winnies Chefin hatte ihr gesagt, dass es gut wäre, wenn das Erste, was dieser Milliardär nach der Narkose sehen würde, ein hübsches Gesicht wäre. Kurze Zeit später saß Winnie im Aufwachraum neben Steve und wartete darauf, dass er zu sich kam. Er atmete ruhig, sein kräftiger Brustkorb hob und senkte sich. Andere Männer konnte sie kaum anschauen, wenn sie so dalagen und schnarchten oder aus ihrem Mund der Speichel lief, aber Steves Züge hätte sie stundenlang betrachten können. Sie hatte sein Anmeldeformular gesehen und wusste, dass er sechsundvierzig war. Steve hatte kaum Falten, einige feine um die Augen herum und zwei kleine, tiefere um den rechten Mundwinkel. Seine Haut war gepflegt und makellos, die Augenbrauen gezupft, die langen Wimpern schwarz und gleichmäßig. Zwischen all dieser Zartheit lag seine große und etwas schiefe Nase. Es war nicht seine Schönheit, sondern der Ausdruck in seinem Gesicht, der Winnie faszinierte, als wäre dieser Mann der zufriedenste Mensch auf der Welt.
Als Steve die Augen öffnete, Winnie ansah und sie ohne zu zögern fragte, ob sie mit ihm am nächsten Tag essen gehen würde, sagte sie: »Ja.«
Sie hatten gute Zeiten gehabt, ja, das erste Jahr war Winnie wie ein Traum erschienen. Die Wünsche, die sie äußerte, erfüllte ihr Steve ausnahmslos und mit kindlicher Freude. Winnies Ansprüche waren jedoch so klein und unscheinbar vor den unvorstellbaren Möglichkeiten, die Steve ihr bieten konnte, dass er nur lachte und sie abküsste und ihr die ›Wünschchen‹, wie er sie nannte, erfüllte. Eines Tages erklärte er ihr, dass es so nicht weitergehen könne, sie werde sich von nun an überraschen lassen müssen.
Steve zeigte ihr die Welt. Eine Welt, die nur für wenige Menschen existierte. Eine Welt neben der Welt. Ihre erste Reise führte sie nach Europa. Sie flogen von San Francisco nach Florida in einem großen Flugzeug, auf dem Steves Name mit riesigen blauen Buchstaben geschrieben stand. Sie flog also mit Steve und diesem Flugzeug, das Steve hieß, nach Florida. Er tat ihr gegenüber so, als gehöre ihm das alles nicht, er tat so, als wäre dieser ganze Reichtum auch für ihn etwas Neues und Einzigartiges. Er sagte zu ihr: »Ich habe das Gefühl, alles, was ich erreicht habe, erst mit dir richtig genießen zu können.« Und Winnie spürte, dass er das wirklich glaubte.
Als sie auf dem Flughafen in Fort Lauderdale gelandet waren, wartete eine Limousine auf sie. Steve hielt die Fahrt über seine Augen geschlossen und wiederholte ständig: »Ich bin gespannt, was uns erwartet.« Und Winnie sperrte ihre Augen auf, um nichts zu verpassen. Sie fuhren auf ein Hafengelände, eine Kaimauer entlang und auf einen weißen Ozeandampfer zu. Eine Laderampe war heruntergelassen, und Winnie konnte es nicht glauben, das Auto fuhr die Rampe hinauf und in den Bauch des Schiffes hinein. Hinter ihr schloss sich die Luke, und ein lauter und tiefer Ton erklang. Steve öffnete seine Augen, lächelte und sagte: »Ich hoffe, du wirst nicht seekrank.«
Was dann folgte, waren die schönsten Wochen in Winnies Leben. Der Ozean. Sie hatte nicht gewusst, dass sie eine Seefahrerin ist. Sie hatte die Meere immer als Wüsten aus Wasser empfunden, aber an dem Abend, als sie das erste Mal an Deck dieses Schiffes stand und spürte, wie es die mächtigen Wogen unter sich teilte, da fühlte sich Winnie zu Hause und an ihrem Platz.
Steve gab sich die größte Mühe, sie zu unterhalten. So fuhren sie die schönsten Mittelmeerhäfen an und spazierten Arm in Arm durch die Gässchen, und Winnie zeigte auf diesen Palazzo und jene Kirche. Sie staunte über die vielen Jahrhunderte, die es in diesem Europa gegeben haben musste, und der Nacken tat ihr bald weh vom vielen Nach-oben-Starren. Sie liebte es, wenn Steve unvermittelt stehenblieb, als hätte er etwas Wichtiges vergessen und sie lange und fest küsste.
Sie erlebten die Sonnenuntergänge nicht mehr an Deck, sondern auf den Boulevards und Promenaden der Côte d’Azur, auf den Terrassen der Hotels und Casinos und während rauschender Feste in verwunschenen Gärten. Sie durchquerten die griechischen Gewässer, ankerten vor Inseln, an denen, wie Steve erzählte, Odysseus gestrandet sein musste. Sie gingen an endlosen Schlangen von Touristen vorbei und standen ganz allein, Hand in Hand, in den Hallen der Museen, und Winnie hörte ihr eigenes Flüstern und Steves tiefe Stimme durch die Säle klingen. Sie sahen die lichtüberfüllte Kathedrale von Palma, liefen ungestört durch die Gänge des Colosseums und standen staunend in der Sixtinischen Kapelle. Sie schauten von der Akropolis hinab auf das laute Athen und liefen, von niemandem beobachtet, durch die Tempelstadt Karnak.
Winnie speiste mit echten Prinzessinnen, Scheichs, Ministern, Generälen, berühmten Schauspielern, Malern und Rennfahrern, wobei ihr die Rennfahrer die liebsten waren.
Doch es dauerte nicht lange, bis Winnie eine Müdigkeit überkam, eine Erschöpfung und schließlich doch die Langeweile. Sie verstand nicht, worüber sich diese Menschen, mit denen sich Steve umgab, unterhielten, sie verstand deren Späße nicht und überhaupt nichts, wenn es um deren alltägliche Probleme ging.
Eines Abends, Winnie hatte leichte Kopfschmerzen, trat ihr die Frau eines Geschäftspartners von Steve entgegen und sagte: »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie schwer es ist, in Alexandria vernünftige Handschuhe zu bekommen.« Winnie konnte nicht mitreden, auch wenn Steve sich redlich mühte, sie auf dem Laufenden zu halten. Es gelang ihr nicht, an diesen Gesellschaften teilzuhaben. Sie kam sich vor, und dieses Gefühl steigerte sich von Woche zu Woche, wie jemand, der sich eingeschlichen, wie jemand, der keinerlei Berechtigung zu einem derartigen Leben hat. Oft fing sie Blicke auf, die sagten: ›Du bist nur eine Episode.‹ Andere, und das tat ihr weitaus mehr weh, schienen großes Interesse an ihr zu haben, aber Winnie spürte, dass es eine Neugier war, die sich ebenso gut auf den Häuptling eines Urwaldstammes beziehen konnte. »So, so, Ihr Vater ist Pförtner in einem Rathaus. Wie originell.« Ja, irgendwer hatte tatsächlich »originell« gesagt.
Ab und zu landete ein Helikopter auf dem Deck, und Steve flog zu irgendeiner geschäftlichen Verabredung aufs Festland. Wenn er dann über Nacht blieb, stieg Winnie die vier Decks zum Schiffspersonal hinunter und lud sie auf ein paar Getränke ein. Die Partys, die dort gefeiert wurden, hellten ihre Stimmung regelmäßig auf.
Nach drei Monaten Mittelmeerkreuzfahrt traten sie die Heimreise an.
Eines Nachts, mitten auf dem Atlantik, wachte Winnie auf. Es war stockfinster im Schlafzimmer. Steve lag nicht neben ihr. Sie bemerkte, wie das Schiff schwankte. Sie hörte, wie im Badezimmer etwas umfiel und auf dem Marmorboden hin- und herrollte. Sie stand auf, zog sich ihren Abendmantel über und verließ das Zimmer. Sie torkelte durch die Gänge, die Treppen hinauf; Winnie wusste, dass man bei starkem Seegang den Lift nicht benutzen sollte. Ein unheilvolles Donnern wurde lauter, und sie folgte ihm, wie hypnotisiert, stieß beim Gehen immer wieder gegen die Wände. Vor der Tür zum Skysalon standen Miguel und Dominic und hielten Winnie davon ab, hineinzugehen. Sie blickte durch das Bullauge der Tür. Der schwarze Flügel hatte sich von seinen Beinen gerissen, die nur noch als zersplitterte Stümpfe in ihren Halterungen steckten. Sie sah, wie der amputierte Flügel durch den Salon rutschte, wie er Tische und Stühle mit entsetzlichem Lärm vor sich herschob und gegen die Wände schmetterte. Die Saiten in ihm klangen bei jedem Schlag, und Winnie ergriff ein Entsetzen vor dieser höllischen Musik.
Sie stieg die Treppe zur Brücke hinauf und trat ein. Charles, der Kapitän, saß nicht in seinem Sessel. Er stand frei vor dem großen Fenster, gegen das die Gischt der Wellen schlug. Sein Körper vollführte schwindelerregende Bewegungen in alle Richtungen. Dann schien es nicht mehr Charles zu sein, der sich bewegte, sondern das schwere Schiff, das um seinen Kapitän herum schwankte.
»Kein Grund zur Sorge«, sagte er zu ihr, und dabei lächelte er den Steuermann an. »Zum Glück ist das hier kein Fischkutter.«
Sie fragte, wo Steve sei, und Charles antwortete nur: »Online.«
Winnie lief nach unten und in Steves Arbeitszimmer. Er saß an seinem Schreibtisch, und Sanchez lümmelte auf dem Sofa, die Beine auf die Lehne gelegt. Wie der Kapitän schienen auch die beiden vollkommen unbeeindruckt von dem, was draußen vor sich ging. Sie saßen in dieser Kabine wie in einem Büro in San Francisco. Als Steve ihr beunruhigtes Gesicht sah, sagte er, dass er sich gleich um den Flügel kümmern werde.
»Was machst du?«, fragte sie ihn und versuchte, nicht ängstlich zu klingen. Eine Frage, die sie ihm noch nie gestellt hatte.
»Wir müssen das noch schnell erledigen. Nachher ist sicher der Empfang weg«, sagte Steve.
Es muss an dem Unwetter gelegen haben, dass sie zu seinem Schreibtisch ging und sich neben ihn stellte. Sie wollte von ihm in die Arme genommen werden. Sie hatte Angst. Steve küsste kurz ihre Hand, und Winnie sah, wie Steve eine Zahl von einem Blatt ablas und in den Computer eintippte, eine nicht enden wollende Zahl, und sie sah, wie er dahinter vermerkte: ›Terminüberweisung: Montag 9:00 Uhr ausführen.‹ Dann schickte er die Nachricht ab. »So, fertig«, sagte er, und Winnie fragte, was das für eine Überweisung gewesen sei. Steve blickte zu ihr auf und antwortete: »Das ist eine Spende.«
»Eine Spende für wen?«, fragte Winnie, und Steve sagte: »Für eine gute Sache.«
In diesem Moment neigte sich das Schiff in einer anhaltenden Bewegung nach rechts, und Winnie hielt sich an Steves Schreibtisch fest. Es fühlte sich an, als würde dieses Kippen nie aufhören, und ihr stockte der Atem. Steve und Sanchez erhoben sich und standen ganz schräg im Raum. Das Schiff drehte sich langsam zurück, und Winnie atmete erschöpft aus.
Als sie die Brücke erreichten, übersah Steve die Lage und besprach sich mit Charles. Beide stellten fest, dass es eine ungemütliche Nacht werden würde. Und das wurde es auch.
Winnie bat Steve, mit ihr unter Deck zu kommen, doch er erklärte ihr, dass er auf der Brücke bleiben müsse und dass es auch für sie besser wäre, wenn sie bei ihnen bliebe. Denn ein Sturm sei im Bauch eines Schiffes schwerer zu ertragen als auf der Brücke. Sie wäre auch geblieben, aber sie ertrug das harte Schlagen der Gischt gegen die Fenster nicht. Sie erschrak, wenn sich das Schiff nach rechts oder links legte und die schwarzen Wellen sich vor und neben ihr wie riesige Felswände aufstellten. Und sie ertrug das unaufhörliche Schwanken des Kapitäns nicht länger.
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