Kitabı oku: «Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer», sayfa 3

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Torturen vor Tortona

Genua, addio. Walo fährt voraus – und schüttelt uns gleich nach der Hafenausfahrt ab. Wir wundern uns. Wie hingezaubert, steht eine Q8-Tankstelle gleich außerhalb der Hafenanlage. Warum hat Walo nicht hier haltgemacht, wo die gesuchte Diesel-Zapfsäule förmlich auf ihn zu warten scheint. Warum will er weiter nach Tortona? Er wird sich in den Ruhevorschriften verstricken und hängen bleiben. Markus sagt: »Verschiebe die Dinge nur mit triftigen Gründen. Natürlich kommt immer wieder eine Tankstelle. Aber weißt du, wann das ist?« Doch Walo setzt seine Prioritäten anders. Er liebt den Nervenkitzel: Reicht es bis zur nächsten Tankstelle? Schafft er es doch noch über den Zoll? Wenn ja, feiert er einen Sieg. Wenn nicht, freut er sich, was Meister Zufall ihm beschert.

Leer oder voll, das ist wie der Unterschied zwischen einem scharfen Messer und einem stumpfen Messer. Wie Tanzen und Kriechen. Leer sind wir weich wie Butter dem Horizont entgegengefedert. Es ist eher ein Summen als ein Brummen, eher wie das intensive, geschäftige Treiben der Bienen im Mai. Voll beladen, schlägt das Gewicht hart auf die Achsen, der Motor singt nicht, er knurrt und keucht die Hügel hinauf. Die Leeren schweben mit ihren 89 km/h links an uns vorbei, dafür haben wir mehr Zeit, uns der Betrachtung der toxischen Wäsche zu widmen. Nun kriegt sie auch von uns ihr schwarzes Teil ab.

Wenn Sattelschlepper Elefanten wären, könnten sie brummen und schnurren wie Raubkatzen, und wenn sie Raubkatzen wären, fragt es sich, warum sie Pferdestärken haben. Metaphern haben immer etwas Schiefes an sich, aber so langsam unterwegs auf die nächste Hügelkuppe, schleppen sich manchmal merkwürdige Gedanken ebenso träge dahin. Als Michi anruft, haben wir die Steigung hinter uns, den Abend vor uns. Es gibt eine kurze, effiziente Durchsage zum Notwendigen, wie einst am Ops-Tisch: »Salut Michi. Wir sind zurück Richtung Mailand. Werden noch heute verzollen. Tschüss Michi.«

Überraschungen vorbehalten. Kaum liegt die Poebene vor uns, verspricht eine Anzeigetafel quer über die Autostrada »2 km di coda«. »Coda« ist Stau. Nanu, wenns nichts Schlimmeres ist, kommen wir heute glimpflich davon. Von Stau weit und breit keine Anzeichen. Vorläufig. Auch das Navigerät zeigt nichts an. Ach, das ist doch vorbei. Diese Italiener. Die haben doch einfach die Tafel auszuschalten vergessen – bis wir doch auf eine stehende Kolonne auffahren. Mindestens drei Glimmstängel Waldluft lang. Stehen. Stehen. Stehen. Dann folgt eine Umleitung mitten durch die Reisfelder und Rapsfelder, die auf der Hinfahrt wie Kulisse ausgesehen haben. Die Landwirtschaft macht sich so breit, dass die Straße gerade noch knapp Raum für zwei Fahrzeuge lässt. Markus schaut auf die Uhr, aber gibt sich gelassen. Im nächsten Dorf winkt er einen Fußgänger über den Zebrastreifen. Es ist ein älterer Herr, der uns zuwinkt und sich höflich mit »Buona serata« bedankt. »Für einen Fußgänger warten, das tut hier sonst keiner«, sagt Markus. Warum sollten wir nicht. Es geht sowieso nicht voran. Markus ist in Gedanken versunken: »Lebensmittel sind gut«, sagt er halb zu sich, halb zu mir. »Sie sind nie giftig. Für Gefahrengüter sind manche Straßen gesperrt. Mit Gefahrengütern würden wir jetzt vollends stecken bleiben.«

Wir schauen der Sonne beim Sinken und Rotwerden zu. Zurzeit kommen wir auch mit unseren Lebensmitteln nicht mehr weiter. Ich spüre, allmählich beginnt es sanft zu brodeln in Markus’ Brust. »In Holland ist das besser«, sagt er, »bei jeder Unfallmeldung rücken Sanität, Polizei und Abschleppdienst unverzüglich im Dreierpaket aus. Wahrscheinlich neun- von zehnmal umsonst. Dafür steckst du kaum je in einer »coda«. In Deutschland gehören zehn und zwanzig Kilometer Stau zum Alltag eines Chauffeurs. Und hier?« Er presst die Lippen zusammen. Wir werden sehen. Das GPS zeigt uns, wo wir stehen. Vierzehn Kilometer vor der nächsten Einfahrt in die Autostrada. Der Name, der bisher bloß eine Folge von Buchstaben war und wie Tarragona klingt, bekommt unversehens Bedeutung. Tortona. Stehen, rollen, stehen, rollen im Schritttempo. Dafür können wir nach dem Flieder in den Vorgärten greifen.

Markus findet es zum Kotzen. Ob wir das Auto abstellen? Aber was du gefahren bist, bist du gefahren. Auf einem Ferienfährtchen kommt es auf ein paar Stunden nicht an. Da kannst du fahren, so lange du willst. Wir aber bleiben stehen, abends um zehn. Zack, ein Entscheid. Markus stellt den Motor ab. Schluss mit der Arschvibrationsmassage. Göttliche Ruhe. Bis zu den nächsten Metern durchs nächste Rapsfeld. Und ständig liegt eine andere Frage in der Luft: Wie lange wohl Walo der Diesel noch reicht? Das Navigerät schickt uns links auf eine Abkürzung. Höhe bis zwei Meter sechzig. Da kommt kein Vierzigtönner durch. Wir haben drei Meter siebenundachtzig.

Fast eine Stunde später stehen wir vor einem Rotlicht, das die Kreuzung mit einem unbefahrenen Schottersträßchen regelt. Es schaltet in kurzen, gleichmäßigen Abständen von Rot auf Grün und von Grün auf Rot. Markus entlädt seine Spannung mit einem Schlag auf den Mercedes-Stern auf dem Lenkrad: »Ein Polizist würde reichen. Ein einziger Polizist, der dieses dumme Rotlicht ausschaltet – und wir wären demnächst in Chiasso.« Aber es ist nicht nur dieser eine fehlende Polizist. Noch ein Lichtsignal und noch eins und noch eins. Markus sagt: »Gopferteckel, jetzt reichts. Wenn wir jetzt noch in die Ruhepausenvorschrift reinlaufen, hats uns erwischt.«

Dann ruft Walo an, grinsend: »Arschloch klingt so wunderschön auf Italienisch, nicht wahr?«

So, und jetzt. Gewonnen. Als wir die Autostrada wieder erreichen, steht die Sonne noch wenige Zentimeter über dem schnurgeraden Horizont. Großes Aufatmen. Es könnte uns noch reichen zurück in die Schweiz. Markus hatte erst kurz nach neun daran gedacht, die Scheibe laufen zu lassen. Das kommt uns nun zustatten. Es wird knapp, wenn wir noch vor Ablauf der zulässigen Arbeitszeit über die Grenze kommen, aber es könnte reichen. Sechs Tage fahren sind pro Woche erlaubt. An vier Tagen während insgesamt neun Stunden, an zwei Tagen während insgesamt zehn Stunden. An wahlweise drei Tagen haben elf Stunden Ruhezeit zwischen Abfahrt und Ankunft zu liegen, an drei Tagen pro Woche reichen neun Stunden.

Die Befreiung aus dem Blechkorsett des Staus motiviert uns, Beethovens Sechste in den CD-Schlitz zu schieben. David Zinmans Zürcher Tonhalle-Orchester klingt so frisch und scharf wie das Aftershave heute Morgen. So feiern wir die heiteren Gefühle bei der Ankunft in Tortona und das lustige Zusammensein der Landleute auf den Reisfeldern beidseits der Pannenstreifen. Auf der Hülle ist Beethoven zitiert: Die Szene am Bach haben die Goldammern da oben, die Wachteln, Nachtigallen und Kuckucke ringsum mitkomponiert. Gerade als nach Gewitter und Stau der Hirtengesang beginnt, ruft der Werkstattchef von Mercedes in Schlieren an. Nun sei klar, warum beim manuellen Schalten der Gang manchmal rausfalle. Es hapere bloß an einem elektronischen Teil, nicht größer als eine Zigarrenschachtel, sehr teuer, aber schnell montiert. Er habe sich im Werk in Deutschland erkundigt. Markus solle vorbeikommen, wenn er mal in der Nähe sei.

Markus hängt ein und schüttelt den Kopf: »Nach über vier Jahren! Wieso haben die sich nicht schon früher schlaugemacht? Wie oft haben wir deswegen Tempo verloren und Diesel verschwendet, um wieder auf Touren zu kommen. Vor allem auf langen Steigungen irgendwo in den Ardennen oder den Pyrenäen.« Oft ist Markus deswegen in der Werkstatt gewesen, wo aufs Geratewohl und erfolglos dieses und jenes ersetzt wurde. Ein Telefon nach Wörth hätte ihm viel Ärger erspart. Der Servicevertrag verpflichtet Mercedes zur Übernahme sämtlicher Kosten.

Ich gebe mich den frohen und dankbaren Gefühlen nach dem Sturm und Stau hin. Markus kommt noch nicht von Rotlichtern und »der Zigarrenschachtel« los: »Die Lässigkeit ist es, die mangelnde Neugier, die einen angurkt«, sagt er, »nur Bosheit gurkt einen noch mehr an.« Er hat ja recht. Vollkommen recht. Ein Polizist pro Rotlicht würde reichen. Die vierhundertsechzig Pferde in der Raubkatze des Elefanten schnurren wieder wie eh und je, als ginge sie das alles nichts an. Sie laufen ihre neunundachtzig, nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht haben Motoren doch keine Seele.

Markus sagt: »Ich möchte einfach noch über diese Grenze heute Abend. Das Puff morgen früh in Chiasso will ich mir partout nicht antun. Schon lange vor sechs Uhr stehen sie kreuz und quer.«

Wie Walo wohl das Puff vermeiden will? Warum hat er die Q8-Tankstelle gleich am Hafenausgang ausgelassen? Nun wird ihm die Zeit fehlen, die er dort eingespart hätte. Er hat Stress, weil er auf der Autobahn eine Möglichkeit finden muss. Wenn er Pech hat, geht ihm der Diesel aus, oder er muss einen Zwischenhalt einschalten, um woanders etwas Reserve zu tanken. Auch Walo weiß doch, dass Unterlassungen sich rächen können.

So ist das eben, und es beginnt schon morgens früh. Markus hat das mit der ersten Tankfüllung als Sattelschlepperfahrer gelernt. Man rasiert sich etwas zu lang, der Kaffee kommt zu heiß aus dem Automaten: Fünf dumme Minuten verplempert, und man steht eine halbe Stunde vor einem Autobahnkreuz. Der Frühverkehr kann innert Augenblicken von praktisch null auf Maximalstärke anschwellen. Lieber kommt man zehn Minuten zu früh und muss dann warten, bis die Schranke oder das Fabriktor aufgeht, als dass man sich wartend hinter zwei oder drei Klügere, Diszipliniertere einreihen muss.

Über der Poebene schwebt eine Akazienduftwolke, süß wie Honig, intensiver als Diesel und reiner als der Schweinetransporter, der uns auf dem Weg in den Schlachthof bei einem Elefantenrennen vernaschte. Wären wir nicht zur Blütezeit unterwegs, es wäre mir nie aufgefallen, wie viele Akazien in Italien wachsen, aber jetzt, da ich es schreibe, tippe ich eher auf Robinien, die ähnlich blühen, mindestens so stark duften und sich gerne an Straßenrändern, Bahndämmen und trockenen Wäldern ausbreiten, aber nicht über einen so verklärten Namen verfügen. Wer kauft schon Robinienhonig, und wer weiß, ob er auch wirklich Akazienhonig bekommt, wenn Akazienhonig draufsteht. So drehen sich die Gedanken mit den Rädern.

Warum hält Markus diesem Bock so unverbrüchlich die Treue?

Alles in allem dürfte es ihm kaum an etwas fehlen. Nötig hat er die Fahrerei kaum, nach zehntausend Operationen am offenen Herzen – Bypässe, Geburtsfehler, Klappenfehler – Stück für Stück, zwei bis drei jeden Tag, vorwiegend an bestens versicherten privaten Patienten, gut und gern zwanzig Jahre lang, und das in den goldenen Börsenjahren der letzten Jahrzehnte, als die günstigen Winde der Wirtschaft auch kleineren Vermögen tüchtig unter die Flügel griffen. Nein, nötig kannst du es nicht haben, denke ich, aber ich frage nichts, und er sagt nichts. Ein Steckenpferd gönnt er sich, könnte man sagen, wenn er in seinem Sattel säße, als Herrenreiter, und nicht als Kutscher fremder Herren auf dem Bock eines fünfachsigen Vierzigtönner-Sattelschleppers Autobahnen polierte.

Walo hat unterdessen schlappgemacht. »Ich gebe auf«, hat er übers Handy kurz vor Mailand gesagt, etwas frustriert, aber wohlgemut. Bis er endlich getankt hatte, wies ihn die Scheibe in die Schranken. »No trespassing«. Gesetzlich mögliches Tagessoll erfüllt. Er parkt beim nächsten Autogrill und steht an der Kaffeebar, während wir nun schon bald zwölf Stunden in Italien sind und noch nicht mal einen Espresso gerochen, geschweige denn getrunken haben, nur diesen Automatenkaffee auf Sonnenblumenölbasis. Also denn, Walo, genieß es, bis morgen in Lugano. Espresso hin oder her, für heute gilt: The winner is … Markus Studer, Internationale Transporte.

Walo wird morgen früh vor fünf Uhr aufstehen, um Markus wieder einzuholen, doch selbst wenn er das schafft, wird Markus schon wieder eins weiter sein mit seinen Gedanken. Er sagt, er fahre strategisch: »Beim Operieren muss man immer zwei, drei Schritte vorausdenken. Alle möglichen Situationen antizipieren und für jede Möglichkeit verschiedene Szenarien entwickeln. Das ist auch das Geheimnis am Lenkrad. Voraussicht ist die beste Vorsicht.«

Das ist wohl eine Tugend, der einige seiner Herzpatienten ihr Leben verdanken. Und die uns jetzt gebührenden Vorsprung eingebracht hat. »Wir ziehen es durch«, sagt Markus, »Scheibe hin oder her. Weit ist es nicht mehr bis Lugano, und auf einem Autobahnparkplatz übernachten, das geht mir gegen den Strich.« Nein. So was tut Markus nicht. Stilfrage. Noch eine halbe Stunde einer Doppelkette von Rücklichtern hinterherfahren, rund um Mailand, in die Abenddämmerung hineinfahren, das Lucky-Luke-Gefühl mit einem Waldluftstängel intensivieren – et voilà. Chiasso by night. Es riecht nach Pisse, irgendwo in der Nähe schlägt laut Metall auf Metall. Kaum sonst irgendwo wirkt die Schweiz so gespenstisch international wie an den bald letzten Zollübergängen innerhalb Europas. Die düsteren Asphaltwüsten, die uniformierten Gestalten, die im Flutlicht ihre Schatten werfen und ihre Pistolen vom Gurt baumeln lassen, so selbstverständlich, als wäre das ihr Gehänge, aus dem sie pinkeln. Der Ort wirkt so unwirklich und doch so bedrohlich, fast als wäre unsere Frontscheibe eine Cinemascope-Leinwand für einen Agentenfilm aus dem Kalten Krieg. Wie wir über die Grenze gekommen sind, weiß ich nicht mehr. Es ist weggefallen aus dem Gedächtnis, wie die Film-Enden beidseits eines Schnitts. Als Nächstes sind wir wieder dort, wo wir heute Morgen, vierhundertfünfzig Kilometer früher, begonnen haben. Beladen mit Sonnenblumenöl roh in Lugano-Manno.

Der Traum vom großen Geschirr

Markus stellt den Motor ab. Die Sitze sacken hydraulisch zusammen. Es ist, als hätte man uns die Luft rausgelassen. Endlich Ruhe. Endlich schlappmachen dürfen. Rund um uns herum Asphalt und Beton, der gleiche wie gestern Abend, kein Strauch, kein Baum, und die Grillen sind auch wieder da, ganz in der Nähe. Nur zwei oder drei, gerade genug, um uns die Sinne zu öffnen für die Werte jenseits des Pannenstreifens. Markus knipst die Vierundzwanzig-Volt-Lämpchen in der Kabine an. Sie werfen ein fahles Licht auf die graue Plastik-Innenverschalung. Immerhin, wir sitzen nicht im Dunkeln, und auf eine fast abenteuerliche Weise wird es sogar gemütlich. Es hat noch Brötchen und Camembert im Kühlschrank, und wenn man tiefer greift, gelangt man zum Bier. Markus schnappt sich ein Fläschchen und sagt: »Ich hatte immer gesagt, 2003 ist der Studer nicht mehr am Herzzentrum. Ich hatte meinen Traum vom großen Geschirr. Katharina war es, meine Frau, die mir den Anstoß gab: Nicht nur reden davon, sagte sie. Jetzt tu es.«

Später sagt er: »Unterdessen habe ich das ganze Alphabet. Oder mindestens die erste Hälfte. Alle Fahrprüfungen von A bis F. Als Letztes kamen der Lastwagenbrief, der Anhängerbrief und der Brief für den Sattelschlepper und den Bus. Ich fragte mich: Was ist gut für einen älteren Knaben wie mich. Flüssiges fand ich prima. Das musst du nicht selber auf- und abladen. In flüssigen Lebensmitteln sah ich meine Zukunft. In Hygiene kannte ich mich schon aus. Was wollte ich lieber als ein Tankfahrzeug. Heute Fruchtsaft, morgen heiße Schokolade und übermorgen … Immer etwas Flüssiges halt. – Möchtest du einen Schokoriegel? Die habe ich letzthin in Broc bei Cailler gekriegt.«

Aber gerne doch. Bettmümpfeli nennen wir diese süßen Nachspeisen vor der Nachtruhe. Wir lassen die Schokolade zergehen. Dann sagt Markus: »Natürlich bin ich ein Exot in der Branche. Uns Schweizer kannst du bald an einer Hand abzählen.«

»Und Frauen?«, frage ich dazwischen, »ist Lastwagenfahren immer noch Männerdomäne?«

»Genau wie die Herzchirurgie«, sagt er, »die lange, unregelmäßige Arbeitszeit fast rund um die Uhr schließt Frauen von vornherein aus. So wie sie von klein auf lernen, mit Nadel und Faden umzugehen, wären sie prädestiniert für die Arbeit am offenen Herzen – aber außerstande, sich dazu auch noch um ihre Kinder zu kümmern.

Als bei uns die Kinder draußen waren, fühlte ich mich endlich frei – und bereit zum großen Sprung. Um mir als selbstständigem Camionneur die Existenzgrundlage zu sichern, suchte ich einen Spediteur, bei dem ich unter Vertrag fahren konnte. Ich hatte die Wahl zwischen dreien: Einer ging unterdessen kaputt, einer liegt in der Westschweiz, und der dritte, Transfood, in der Ostschweiz. Erst teilte ich die Aufträge mit meinem Partner Bruno Bopp, einem ehemaligen Swissair-Piloten. Ich wollte vier Jahre fahren und schloss mit ihm einen Vertrag ab. Wir kauften diese Sattelzugmaschine und mieteten den Auflieger von Transfood dazu. Der Vertrag sah vor, vier Jahre gemeinsam zu fahren. Wer vorher ausstieg, dem sollte es wehtun. Bopp stieg trotzdem aus. Er wurde Gemeinderat und privatisiert. Nun fahre ich seit bald zwei Jahren allein. Das werde ich auch weiterhin tun. Das Geschäft läuft gut. Aber die Preise sind tief. Immerhin: Zwanzig Tage nach Monatsende habe ich das Geld auf dem Konto. Immer. Das ist in der Branche nicht selbstverständlich.«

Das Brummen von Dieselmotoren und die hellen Lichtkegel eines Konvois von fünf Sattelschleppern unterbrechen das Gespräch. Sie kommen auf unser Gelände und parken uns gegenüber. Auf den Aluminiumtanks steht »Tatratrans«. »Siehst du«, sagt Markus, »aus Ungarn. Fünf von Tausenden, die uns die Marge verderben.«

Er zieht die Gardinen und sagt: »Gerade als ich anfing, suchte die Schweizer Detailhandelskette Migros einen Partner für ihre Straßentransporte. Fast dreißig Spediteure bewarben sich um einen Vertrag. Transfood kam zum Zug. Es war ganz einfach. Der günstigste Bewerber gewann. Fast ein Drittel unter den bisherigen Preisen. Das war ein Erfolg für Transfood. Aber es schlägt aufs Einkommen jedes einzelnen Fahrers durch. Von den rund dreißig Autos von Transfood machen rund die Hälfte sogenannte Hauseckenfahrten. Sie fahren kürzere Strecken, oft täglich dieselben. Die andere Hälfte macht die internationalen Transporte. Oft erfahre ich erst am Montagmorgen, wann es losgeht, wohin es geht und wie es danach weitergeht. Irgendwie komme ich immer zurück. Ja, bis jetzt bin ich immer zurückgekommen. Auch das ist nicht selbstverständlich.

Der Disponent ist die Schlüsselfigur. Michi hats in der Hand, welchem Fahrer er die Jobs der ersten Wahl zuteilt. Offenbar steht er auf verlorenem Posten. Nie kann er es allen Fahrern recht machen. Weil Irren menschlich ist, trifft er nicht immer die beste Entscheidung, und weil er menschlich entscheidet, hat er Sympathien für einzelne Fahrer. Klar, dass die eigenen Leute in der Regel besser wegkommen als die Vertragsfahrer. Motzen und den Disponenten vergraulen wäre trotzdem nicht klug. Es gibt zwar tausend Möglichkeiten, ihn zu verarschen, doch hat er immer noch eine Möglichkeit mehr, sich zu rächen. Besser, man redet mit ihm, oder wenn sich nichts ändert, sucht man Unterstützung beim Chef. Aber Michi ist prima. Ich kann mich nicht beklagen über das Los, das er mir zuteilt. Immer wieder etwas Neues. Es gibt Fahrer, die Tag für Tag, gleichsam im Linienverkehr, Zucker von Rupperswil an der gleichen Rampe abladen. Stell dir vor, jeden Tag Rupperswil, jeden Tag Zucker, hin und zurück. Traumstrecken sehen anders aus. Die Route Sixty-Six zum Beispiel. Get your kicks on Route 66! Oder from San Diego up to Maine. Das sind ganz andere Dimensionen.«

Die fünf Tatratrans-Fahrzeuge stellen endlich ihre Motoren ab. Markus stiftet noch mal einen Schokoriegel und holt ein zweites Bier aus dem Kühlschrank. Es fühlt sich sehr kalt an und weckt noch einmal die Lebensgeister. »Stell dir vor, im Service-Center am Highway im San Bernardo Valley in Kalifornien stehen tausendeinhundert Plätze bereit. Für Autos, von denen wir nur träumen können. Die Zugmaschinen sind fahrende Einfamilienhäuser. Diese langen Kabinen hinter den langen Motorhauben mit dem vielen Chromstahl und den Auspuffs, die wie die Kamine von Dampflokomotiven in den Himmel ragen, mit diesem Deckelchen drauf, das unermüdlich auf und ab hüpft, solange das Triebwerk läuft. Aber diese Einfamilienhäuser sind nur in Amerika möglich, weil dort nicht die Fahrzeuglänge, sondern nur die Länge des Aufliegers begrenzt ist. Das sollte auch bei uns erlaubt sein. Allein schon aus Sicherheitsgründen. Ein Meter Knautschzone vor dem Kopf reicht einfach nicht aus. Aber seit ich meinen Sohn Christoph im Silicon Valley besucht habe, will ich nicht mehr nach Amerika. Habe ich es nötig, mir die Fingerabdrücke nehmen zu lassen, meine Iris vermessen und Hunde an mir rumschnüffeln zu lassen, um das Land als Gast zu betreten?«

»Wenn du wählen könntest, wohin würdest du fahren?«

»Hier, im guten alten Europa, hinunter in die Toskana, oder ins Burgund und weiter zu den Châteaux von Bordeaux, um Wein nach Hause zu bringen. Am liebsten aus Spanien. Aus dem Rioja. Aber Transfood wird nicht erlauben, für Dritte zu fahren, solange der Auflieger nicht mir gehört. Wäre es mein eigener, ich hätte ihn schon lange litrieren lassen. Denn anders als alle anderen Flüssigkeiten, die nach Gewicht transportiert werden, reist Wein per Liter. Und dafür braucht es eine geeichte Skala im Tank. Ja, Weinfährtchen bleiben ein Traum. Aber auch von Fahrten in den Norden träume ich hie und da. Schweden wäre schön. Oder der ganz hohe Norden. Finnland. Diese endlos langen Strecken durch die Wälder, wenn die Sonne um Mitternacht schräg zwischen den Stämmen durchblitzt. Aber dieses Geschäft haben baltische Spediteure an sich gezogen. Zu konkurrenzlosen Preisen. Ja, Finnland bleibt mein Traum. Aus Nostalgie.«

Ich halte mein Bier, bis es warm wird, in der Hand. Markus sagt: »Vor vielen Jahren, ich war noch Schüler, verbrachte ich einen Sommer in einem Austauschprogramm auf einer Insel vor Helsinki. Es gab kein Wasser, keinen Strom, aber Batterien brachten ein Grammofon und einen Lautsprecher zum Lärmen. Es war gerade die Zeit, als die Beatles mit Michelle, ma Belle und I Wanna Hold Your Hand die Welt verzauberten. Nachts kam die Jugend des Camps in einer Lichtung am Strand zum Tanzen zusammen. Das heißt, die Mädchen kamen in Scharen. Die Boys waren zu faul, um Händchen zu halten, und die Mädchen nur allzu begierig, gehalten zu werden. So tanzten die Mädchen untereinander. Elfengleiche Geschöpfe von strohblond bis rabenschwarz. I wanna be your man. Alle sangen mit. Auch ich sang es jeder herzhaft entgegen: I wanna be your man. Nach Finnland möchte ich noch einmal, auf meine alten Tage. Finnland ist fast schon das Paradies. Auf einem siebenachsigen Sechzigtönner diesen zahllosen Seen entlang, wo die Elche mit ihren Geweihen am Straßenrand stehen, als wären sie ausgestopft und hätten schon immer genau so gestanden.«

Markus sagt nichts mehr. Ich schaue zu, wie seine Zigarette aufglimmt und wieder erlischt. Aufglimmt und erlischt. Als sie zu Ende ist, lassen wir die Sitze und die Lehnen nach vorne fahren, um etwas Raum vor den Kajütenpritschen zu schaffen, räumen unsere Reisetaschen und anderen Klimbim beiseite und breiten die Schlafsäcke aus. Einer steigt raus ins Freie, während der andere sich umzieht, und umgekehrt, nicht aus Scham, bewahre, sondern um uns nicht ins Gehege zu kommen. Die Kabine hat zwar Stehhöhe zwischen den Sitzen, aber für zwei bleibt nicht genügend Bewegungsfreiheit.

Als wir im Trainer dastehen, greift Markus nach dem Baseballschläger hinter dem Sitz und sagt: »Nur für den Fall. Die Tage im Auto sind lang, die Nächte kurz, der Schlaf tief, und wie die Straße zählt auch ein Parkplatz zur Risikozone.« Ich wiege den Schläger in der Hand und versuche mir vorzustellen, wie es sich anfühlt, wenn er einen Schädel zertrümmert. Markus sagt: »Ja, man muss schon aufpassen, dass niemand die Kabine mit Narkosegas füllt und einen ausplündert. Man hört immer wieder solche Geschichten. Am besten übernachtet man zu zweit oder zu dritt und passt aufeinander auf. So kann man auch an exponierten Plätzen mal vom Auto weggehen. Wo es irgendwie brenzelt, in schäbigen Quartieren, auf einsamen, unübersichtlichen Plätzen oder so, ziehe ich zwischen den inneren Türgriffen Spanngurten quer durch die Kabine. Die reißt einer nicht so leicht entzwei.«

»Da brauchst du den Baseballschläger gar nicht.«

»Schön wärs, zum Glück ist mir bis jetzt noch nie was passiert.«

Mir kommt es seltsam vor, einen Koloss von vierzig Tonnen Stahl mit einem Baseballschläger zu verteidigen. Markus ist um die Details bekümmert: »Musst ihn wieder passgenau in die Ecke legen, sonst verklemmt er die Kühlschranktür hinter dem Stehplatz.« Danach bilden wir ein Duett sanft schnarchender Baritone.

Hie und da klettert einer von uns über die Sitze, die Tritte runter und schifft ins Gras.

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