Kitabı oku: «MORTIFERA», sayfa 2

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BEGEGNUNG IN DER KATHEDRALE

Draußen tobte ein Schneesturm und die sakrale Stätte, in der ich mich zum Schutz niedergelassen hatte, war für mich wie das ruhige Auge eines Zyklons. Um diese Tageszeit war die dreischiffige Kathedrale von Saint Belem menschenleer. Die Kirchenorgel strahlte in den ganzen Raum und brachte die kalte Luft zum Vibrieren, während die Steinwände den Weihrauch von Jahrhunderten ausdünsteten.

Mit einem Knarren öffnete sich plötzlich hinter mir das Südportal. Ich spürte den eisigen Luftzug im Nacken und hörte Schritte. Man kann sich meine Überraschung vorstellen, dass sich gleich darauf ein älterer Herr direkt neben mich auf die Bank setzte, wo es doch mehr als genügend freie Plätze gab. Er zog seinen Hut vor mir, und ich nickte ihm zu. Beide lauschten wir in der Folge andächtig der majestätischen Musik, während ich den Mann aus dem Augenwinkel beobachtete. Er schien das spitzbogige, mit Maßwerk verzierte Buntglasfenster in der linken Wandfläche zu betrachten. Es zeigte, wie ich nun bemerkte, den Sündenfall von Adam und Eva.

Mein Name ist Peter Gent, ich handle mit Antiquitäten und bin seit vier Jahren verwitwet. Meine Frau Ruth starb bei einem Autounfall. Als ich sie damals im pathologischen Institut identifizieren musste, schien ihr Leichnam von einem flirrenden Glanz umgeben. Ich griff nach ihrer Hand, dabei verrutschte das Leintuch und gab den Blick frei auf ihren zerfetzten Oberkörper.

Dieser Anblick, der mir rasch das Bewusstsein nahm, verfolgt mich bis zum heutigen Tag. Mit Ruth war auch ein großer Teil von mir gestorben, und im Nebel der Depression bin ich noch immer unfähig, ein neues Lebenskapitel aufzuschlagen.

Die Musik war verstummt. Der Fremde wandte sich mir zu und fragte: »Kommen Sie oft hierher und beten?«

»Nein, ich bete nie. Allein der Schneesturm trieb mich hierher«, sagte ich.

»Warum beten Sie nie?«

»Weil mir der alte Knabe da oben ohnehin nicht antworten würde.«

»Wie recht Sie haben«, sagte er gemessen lächelnd und deutete auf den Sündenfall. »Haben Sie schon darauf geachtet? Kein Mensch weiß heutzutage mehr, dass dieses Werk von Gérard Garouste stammt. Unfähige Kunsthistoriker ordneten es einer falschen Epoche zu.«

Darauf wusste ich nichts zu erwidern.

Er blickte mich durchdringend an und ich sah in seine wachen, listigen Augen, über denen buschige Brauen thronten. Sein Gesicht erschien mir kraftvoll. Er war in Ehren ergraut und wirkte sehr gepflegt, vielleicht an der Grenze zur Dekadenz. Ich schätzte ihn um die fünfundsechzig. Auf mich machte er den Eindruck eines erfolgreichen Geschäftsmanns. Der schwere, holzige Geruch seines Aftershaves stieg mir in die Nase und machte mich fast ein wenig trunken. Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute nach oben. Die baldachinartigen Rippengewölbe mit dem Sternenmuster schienen in himmlische Sphären entrückt. Ich hatte das Gefühl eines rauschartigen Emporgehobenwerdens. Die dünnen, in die Höhe schießenden Rundpfeiler weckten in mir die Imagination von Antennen des Glaubens. Ich blickte zum Chor, in dessen Mitte befand sich ein monumentales Triumphkreuz, das mit Vogelkot beschmutzt zu sein schien.

Der Alte neben mir räusperte sich und sagte: »Darf ich Ihnen vielleicht eine kleine Geschichte erzählen?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Warum nicht? Es würde uns ein wenig die Zeit verkürzen, nicht wahr?«

»Genau das dachte ich mir auch … Dann also los. Wie Sie wissen, mein Herr, schuf Gott am Anfang Himmel und Erde und setzte danach die Sterne ans Firmament. Aber man muss sich fragen, was einem Schöpfer all seine Werke nützen, wenn niemand zugegen ist, der sie betrachtet und sich daran erfreuen kann. Gott wird zur selben Einsicht gekommen sein, denn bald schon formt er aus den Elementen der Natur den ersten Menschen und haucht ihm seinen Odem ein. Er muss jedoch feststellen, dass Adam sich mit der Zeit sehr einsam fühlt. Daher stellt er ihm ein Weib namens Eva zur Seite …«

So erzählte er mir die Schöpfungsgeschichte, die einige mir unbekannte Aspekte hervorhob, und ich lauschte ihm mit Zurückhaltung. Am Ende heftete er den Blick auf das große Kruzifix und wollte von mir wissen, was ich über die genauen Todesumstände Christi wüsste.

»Nun, Sie wissen selbst, dass er gekreuzigt wurde. Da fällt mir gerade ein, dass ich neulich eine Sendung über das Turiner Grabtuch …«

»Ach«, fiel er mir ins Wort, »verschonen Sie mich bloß mit diesem mittelalterlichen Fetzen Stoff, bei dem es sich nur um eine Fälschung Leonardo da Vincis handelt.« Er winkte verächtlich ab. »Sie müssen wissen«, führte er fort, »dass dieses Linnen mit dem geisterhaften Abdruck eines Gekreuzigten ein Auftragswerk für den damals amtierenden Pabst war. Damit sollten die Pilger in Scharen angelockt werden, auf deren Spenden die Kirche erpicht war. Leonardo fertigte also diese falsche Reliquie an, aus den Evangelien wusste er ja genau um die Verletzungen, die Jesus auf seinem Leidensweg zugefügt wurden. Er hat die Fälschung auch recht gut hingekriegt, muss man sagen. Mit Ausnahme der Fußwunden, die bei ihm über den Rist verlaufen. Aber woher hätte er auch wissen sollen …«

»Was?«

»Dass die Soldaten des römischen Hinrichtungskommandos Jesus die Nägel seitlich durch die Fersenbeine trieben.«

»Und woher wissen Sie es? Ist das nicht nur ein Detail?«

»Nun, ich weiß es einfach, und es ist mehr als nur ein Detail.«

»Inwiefern?« Er hatte mich neugierig gemacht.

»Sehen Sie, die Passionsgeschichte muss im direkten Kontext zum Sündenfall betrachtet werden. Christi Kreuzigung war nicht ausschließlich das Werk von Menschen, denn die römischen Schergen handelten größtenteils fremdbestimmt, ohne sich aber dessen bewusst zu sein. Dysmas und Gestas, die beiden Leidensgenossen Jesu rechts und links von ihm, wurden mit Stricken an den Kreuzen fixiert. Christus hingegen nagelte man ans Holz … Aber wieso eigentlich diese unterschiedlichen Vorgehensweisen bei der Hinrichtung? Haben Sie sich diese Frage noch nie gestellt?«

»Offen gestanden, nein«, sagte ich, worauf sein Blick verschlagen und rätselhaft wurde. Sodann fuhr er in einer Stimme, die niemals irrt fort: »Dann erkläre ich es Ihnen und Sie verstehen dann, warum Christus Gott um Vergebung für seine Peiniger bat, da diese nicht wüssten, was sie täten. Die Sache ist wie folgt: Nachdem Gott das erste Menschenpaar aus dem Paradies verbannt hatte, wandte er sich an die Verführerin, die Schlange. Er sagte zu ihr, er werde dereinst einen Mittler auf Erden senden, der ihr das Haupt zertreten würde. >Ach<, gab die Schlange zur Antwort, eifersüchtig bist du bloß auf mich, weil ich den Menschen die Erkenntnis über Gut und Böse verschaffte. Ohne diese Fähigkeit aber könnten sie sich immer nur für dich entscheiden. Ist es das, was du wolltest? Ihnen die Wahlfreiheit rauben? Was jenen Mittler anbelangt, Jesus, wie er heißen wird, er möge zu mir kommen. Ich werde auf ihn warten. Trachtet er danach, mir das Haupt zu zertreten, so will ich im Gegenzug Evas Tat ungeschehen machen, indem ich dir die Frucht darreiche, die sie vom Baum der Erkenntnis pflückte, indes auf meine Weise: Ich hänge sie in Gestalt deines Sohnes Jesus zurück an den Baum, aber dies wird der bittere Baum des Todes sein. Die Menschen werden ihn verspotten, geißeln und seine Fersen durchstechen‹.«

Ich blickte auf das Kruzifix, dessen Längsbalken die Mittelachse einer strengen und vollkommenen Symmetrie im Chor- und Altarbereich bildete. In qualvoller, tödlicher Verzerrung blickte das Antlitz des Schmerzensmannes auf die vorderen, leeren Bankreihen. Von einer unbestimmten Unruhe ergriffen, drehte ich dem Fremden das Gesicht zu: »Verzeihung, wer sind Sie eigentlich? Und was wollen Sie von mir?«

Kühl und abschätzend musterte er mich: »Mein Name ist nicht wichtig, Peter Gent.«

»Woher wissen Sie wer ich bin?«

»Peter, ich weiß so vieles. Aber wissen Sie, dass Ihre Frau im zweiten Monat schwanger war, als sie in ihrem Wagen in den Tod raste?«

Ich erstarrte und stierte ihn fassungslos an. Das Herz pochte mir bis zum Hals.

»Nun«, fuhr er wie amüsiert fort, »Ihr Blick spricht Bände. Sie wussten es mit Bestimmtheit nicht. Es war auch kein Unfall, sondern ein Suizid … Gewiss denken Sie noch ab und zu an die kokette junge Dame, der sie vor sechs Jahren den Florentiner Barockspiegel aus dem siebzehnten Jahrhundert verkauften. Immerhin wurde sie Ihre Geliebte. Doch Ruth, Ihre Frau, ist Ihnen auf die Schliche gekommen. Als sie Ihre ständigen Seitensprünge nicht länger verkraften konnte, brachte sie sich um, hinterließ Ihnen jedoch keinen Abschiedsbrief, denn sie wollte nicht, dass Sie sich bis an Ihr Lebensende mit Selbstvorwürfen quälen müssten.« Er hüstelte ostentativ.

Mich fror es bis ins Mark und ich zitterte, währenddem er weiter ungehemmt auf dem Geheimnerv herumdrückte, den er in mir getroffen hatte: »Ihr toter Sohn wäre übrigens ganz nach Ihnen gekommen, Peter, Sie können also davon ausgehen, dass Sie der leibliche Vater des Jungen …«

»Halten Sie den Mund, Sie dreckiges Schwein!« Die Wut hatte meine Erstarrung gelöst und ich wollte schon auf ihn einprügeln, doch die Kraft, die von seinen Augen ausging, ließ mich innehalten. Fest und gebieterisch ruhte sein Blick auf mir. »Bei der Kollision«, fuhr er gelassen fort, »wurde Ihrer Frau der Brustkorb eingedrückt. Sie verblutete und erstickte langsam und höchst qualvoll, während Sie sich zur selben Zeit mit Ihrer Gespielin vergnügten.«

Seine Worte fuhren wie Hiebe auf mich herab, und um mich herum begann sich alles zu drehen. Wie angenagelt hockte ich auf der Bank, und mir wurde speiübel.

Er stieß mich an und holte dann aus der Tasche seines Mantels einen Apfel hervor, den er mir unter die Nase hielt: »Sehen Sie, einen solch prächtigen Apfel pflückte Eva einst von meinem Baum … Wissen Sie, so wie euer Gotte brauche auch ich ab und zu einen Menschen als Zeuge meiner erhabenen Werke. Einstein hat einmal gesagt, Gott würfelt nicht, und er findet meine Zustimmung. Gott hat niemals gewürfelt, aber er spielt seit jeher mit mir Schach. Und wir werden wohl noch viele Züge ziehen. Und Sie, Peter, sind nur einer jener unbedeutenden Bauern auf unserem Schachbrett, der leicht geopfert werden kann. Wahrlich, noch ehe der Winter dem Frühling weichen muss, werden Sie sich mir ergeben, das garantiere ich Ihnen. Der Geruch Ihres Blutes wird wie köstlicher Weihrauch zu mir herabsteigen. Ihr Schicksal ist besiegelt!«

Als er mich aus engen Pupillen tückisch anfunkelte, überkam mich eine irre Furcht. Stumm schaute ich zu, wie er in den Apfel biss. Saft spritzte mir ins Gesicht und jäh fühlte ich mich auf eine nicht zu benennende Weise besudelt. Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, stand der Versucher auf und verließ die Kirche. Ehe das Portal ins Schloss krachte, hörte ich noch den Schnee knirschen.

Der Sturm schien sich gelegt zu haben. Genau genommen hatte er sich mitten in meine Seele verlagert, um sich dort weiter auszutoben. Zusammengekauert wie ein wirbelloses Tier saß ich da und bebte. Und zum ersten Mal in meinem Leben fing ich an zu beten.

Die Besucher der Abendmesse setzten sich auf die Bänke. Mein Blick schweifte zu der Eule, die sich gerade auf dem Kruzifix niederließ. Seltsamerweise schien außer mir keiner der Kirchgänger von dem Todesvogel Notiz zu nehmen.

DA VINCI’S MAGIERIN

Die Flammen der Talgkerzen ließen Milanas Antlitz wie Bernstein erstrahlen. Ihre Augen funkelten wie die erlesenen Diamanten an ihren Fingerringen. Als sie sich über die Phiole beugte und dem rötlich-braunen Fluidum zerriebene Bärengalle beimischte, fiel ihr das schwarze Haar übers Gesicht. Beißender Gestank stach ihr in die Nase, sodass sie sich abwendete. Nachdem die Sanduhr abgelaufen war, füllte sie das blubbernde Elixier in eine Flasche ab. Die rußgeschwärzte Kammer, die Leonardo da Vinci für sie gemietet hatte, war bis unter die Decke vollgestopft mit Kisten und Kästen, mit Tiegeln und Töpfen, in denen sich Alraune, Arsenik, Quecksilber und dergleichen befanden.

Milana eilte mit dem Elixier aus dem Haus, schwang sich auf den Rücken des Wallachs und ritt mit flatterndem Kapuzenumhang am Tiber entlang zu einem von Roms Galgenplätzen. Der Mond puderte das violette Dunkel des Flusses mit silberner Helligkeit. Der Inhalt des von Meister Leonardo in Spiegelschrift abgefassten Pergaments schoss ihr im Stakkato durch den Kopf:

Das von mir untersuchte Linnen mit dem Fischgrätmuster zeigt die Blutspuren eines Gekreuzigten, haut Pabst Leo X. wurde das Linnen bei Grabungsarbeiten in einem geheimen Bogengrab in Jerusalem entdeckt, und über Umwege gelangte es in die Hände des Heiligen Stuhls. Die Nagelwunden auf dem Tuch verlaufen über Fußrücken und die Handgelenke, die Unterschenkel weisen Brüche auf. In einer Ecke auf der Geweberückseite befindet sich die Inschrift Jesus Nazarenus Rex Iudaeorum (…) Weshalb ich von Euch ein Elixier erbitte, das die Blutgerinnung einer frischen Leiche um ein paar Stunden verzögert, da Tote, wie Ihr ja wisst, üblicherweise nicht zu bluten pflegen (…) Mein Schüler Boltraffio wird Euch eine Stunde vor Sonnenaufgang bei dir Blutbuche erwarten.

Der Eure, L

Giovanni Boltraffio, der Malerlehrling da Vinics, wartete bereits am vereinbarten Treffpunkt. Unruhig trat der Rotschopf von einem Fuß auf den anderen, als Milana auf dem Pferd heranpreschte. Sie stieg ab, händigte dem Jungen das Elixier aus und wies ihn an: »Boltraffio, höchste Eile ist geboten! Donadini muss die ganze Flasche noch in seiner Zelle austrinken, sonst kann das Mittel die Wirkung nicht voll entfalten, verstehst du?«

Er nickte eifrig: »Gewiss, Milana, gewiss.« Und schon hatte er sich mit der Flasche aus dem Staub gemacht.

Die Magierin hörte den Wallach wiehern. Sie ging zu ihrem Pferd und drückte ihm die Lippen zwischen die Nüstern, aus denen das Tier Dampfkegel blies.

Kurz vor Sonnenaufgang wurde Piero Donadini von den Schaulustigen mit lauten Rufen empfangen. Mit hinter dem Rücken zusammengebundenen Händen wurde er vom Henker im Licht vieler Fackeln zum Galgen hochgeführt. Zwei Tage zuvor hatte der zum Tode Verurteilte im Streit einen Widersacher erschlagen, als dieser nach einem Faustkampf plötzlich ein Messer in der Hand hielt. Zu Donadinis Pech war sein Gegner mit einem hohen geistlichen Würdenträger verschwägert, weshalb man kurzen Prozess mit ihm gemacht hatte.

Auch Da Vinci wohnte der Hinrichtung bei. Er war oft auf diesem Platz, um die Grimassen der Sterbenden zu wissenschaftlichen Zwecken zu studieren.

Der Delinquent krümmte sich und stöhnte, denn das Elixier verursachte ihm grausame Magenkrämpfe. Zwei Schergen packten ihn unter den Armen und hielten ihn aufrecht, während ein Priester mit erhobenem Kruzifix aus der Bibel rezitierte. Die ersten Sonnenstrahlen tasteten sich über den Horizont, als man dem Todeskandidaten die Kapuze überstreifte und die Schlinge um den Hals legte.

Da Vinci nahm das Barett vom Haupt. Die Zeit schien für einen Moment stillzustehen. Der Henker betätigte den Holzhebel, der die Falltür entriegelte, sodass Donadini nach unten fiel. Der Strang straffte sich und das Genick brach mit einem Knacken. Ein Raunen ging durch den gaffenden Pöbel. Manch einer bekreuzigte sich. Als der Gehenkte leblos am Seil pendelte, schnitt man ihn ab, warf ihn auf einen Heukarren, breitete ein Tuch darüber und überführte den Leichnam in die Werkstatt da Vincis.

Die Folge der Klopfzeichen an der mit Beschlagnägeln versehenen Tür drang wie eine Melodie an Da Vincis Ohr: Milana! Er wusch sich rasch das Blut von den Händen und erinnerte sich daran, wie er damals als Siebenjähriger mit einem Holzreif im Garten der Loggia gespielt hatte, als sie in Gestalt eines schwarzen Milans vom Himmel herabstürzte, mit schwingenden Flügeln Auge in Auge vor seinem Gesicht schwebte, um ihn aus dem Schnabel in den Mund zu füttern. Seitdem war die Gestaltwandlerin Milana seine geheime Mäzenin und Lehrerin, die ihn in Alchemie, Naturmystik und anderen Wissenschaften unterwies.

Er trocknete sich die Hände mit einem Tuch und öffnete die Tür. Milana trat ein, die Haarfülle durch ein Perlennetz gebändigt. Leonardo umarmte sie herzlich und genoss die Duftwellen von Amber und Moschus die sie verströmte. Er trat zwei Schritte zurück und breitete die Arme aus: »Meine Teuerste! Hätte ich Euch Eurem Willen nach zu den Untersuchungen des Grabtuchs im päpstlichen Hof beigezogen, würdet Ihr jetzt ganz gewiss in einem Verlies der Engelsburg schmoren.«

»Wieso meint Ihr?«

»Allein Euer Vergehen, ein so verteufelt schönes Weib zu sein, hätte den Kierikern gewiss gereicht, in Euch eine Ketzerin zu sehen. Mal ganz abgesehen von Euren Zauberkünsten …«

Milana lachte: »Ihr und Eure Galanterien, Leonardo! Dabei seid Ihr der Häretiker von uns beiden. Wüsste der Pontifex davon, dass Ihr in der Bruderschaft der Johanniter seid, hätte ich in der Engelsburg zweifellos Eure Gesellschaft genießen dürfen.« Ihr Blick fiel auf den mit Wunden übersäten Leichnam Donadinis auf dem Tisch. Dessen Gesicht war verfärbt und um seinen Hals zog sich ein blutunterlaufener Striemen. Die Magierin zog eine Braue hoch und fragte: »Wie brachtet Ihr diesen Mann dazu, das Elixier aus freien Stücken einzunehmen?«

»Man schloss einen Kontrakt mit ihm ab. Nachdem er eingewilligt hatte, tischte man ihm letzte Nacht ein Festmahl auf. Den Nachtisch reichte man ihm in Form einer jungen, in ihrem Metier höchst bewanderten Edelkurtisane. Nun, Ihr versteht schon …« Da Vinci strich sich den Bart.

»Verstehe«, sagte Milana und blickte auf Leonardos Leinenhemd, das voller Blutspritzer war. »Doch was genau hat es damit auf sich?«

»Als ich dem Pabst die Einzelheiten meiner Entdeckungen auf dem Grabtuch erläuterte, wurde sein Blick ein schwarzer Abgrund und sein Gesicht totenblass. Einer alten Prophezeiung zu Folge, durften dem Messias nach seinem Tode die Glieder nicht gebrochen werden. Aber die Blutspuren bezeugten, dass dies der Fall war.«

»Pabst Leo ist nicht dumm«, räumte sie ein. »Er weiß, kein Mensch kann mit gebrochenen Beinen auf Erden wandeln – nicht einmal der Messias. Diese Eure Entdeckung hat das körperliche Auferstehungsmysterium Christi hinweggefegt, doch ist ja genau dieser Ostermythos das Fundament der Kirche.«

»Eure Schönheit wird allein durch die Schärfe Eures Verstandes überflügelt.«

»Und weshalb lässt die Kirche dieses Tuch nicht einfach verschwinden?«

»Weil die Ausstellung des Grabtuchs, wie der Pontifex mir sagte, vor dem Beginn meiner Untersuchungen in ganz Italien verlautbart wurde. Schon bald soll es in Turin den Gläubigen gezeigt werden. Natürlich rechnet Leo X. mit hohen Geldspenden, man weiß ja von seinem aufwändigen Lebensstil …«

Sie nickte. »Und nun begehrt der Papst von Euch eine Fälschung, damit niemand die geheimen Details auf dem Tuch sehen kann.«

»Ihr sagt es.«

»Leonardo, bedenkt, dass Ihr nun ein gefährdeter Mitwisser seid. Und ist der Klerus erst im Besitz Eurer Fälschung …«

»Wird mein Leben gewiss nicht mehr die dreißig Golddukaten wert sein«, ergänzte Da Vinci, »die dort auf dem Tisch für Eure Dienste bereit liegen. Nehmt den Beutel an Euch, bevor ihr geht.« Mit diesen Worten durchbohrte er ein Handgelenk des Toten. »Ihr kennt wohl meine Vorliebe für versteckte Auftritte in meinen Werken«, führte er vergnügt fort. »Ich werde der falschen Reliquie meine Gesichtszüge verpassen. Welch ein Vergnügen, wenn Abertausende Gläubige mein Antlitz anbeten werden, in der irrigen Annahme, es handle sich um das Abbild Christi.«

»Euer Sinn für Humor in Ehren. Aber eine solche Eitelkeit kann Euch leicht den Kopf kosten.« Milanas Blick schweifte über zahlreiche am Boden verstreute Studien zur menschlichen Anatomie, um dann ein Weilchen auf dem unvollendeten Gemälde der Felsgrottenmadonna zu verharren.

»Euer Elixier ist wunderbar. Wie lange hält es sein Blut noch flüssig?«, fragte er.

»Etwa bis Sonnenuntergang.«

»Das dürfte reichen«, murmelte Da Vinci zufrieden. »Dann kann ich in Ruhe das Eisenoxid mit den roten Farbpigmenten mischen und zur Anwendung bringen.«

Milana hatte den Geldbeutel in die Saumtasche ihres Kleids gesteckt und sagte: »Ich muss gehen. Lucrezia erwartet mich.« Sie war direkt hinter ihn getreten und raunte ihm ins Ohr: »Wisst Ihr, Ihr seid ein ganz schön blutrünstiger Kerl …«

Er lächelte, und als er sich umwandte, huschte sie gerade lautlos zur Tür hinaus.

Zehn Tage später strömten Tausende Pilger in die königliche Kapelle des Johannes-Doms von Turin, um vor dem ausgestellten Grabtuch mit dem geisterhaften Abdruck eines Gekreuzigten niederzuknien und zu beten. Ihre Spenden flossen geradewegs in die Kassen des Vatikans.

Eines Nachts saß Da Vinci in Gesellschaft seiner Schüler Salai, Melzi und Boltraffio in einer römischen Taverne. Kurz zuvor hatte ein Kurier des Papstes dem Maler das vereinbarte Honorar von einhundertfünfzig Golddukaten überbracht. Grund genug, ein bisschen zu feiern. Die Schankmagd mit den Rundungen einer aus Holz geschnitzten, weiblichen Galionsfigur schenkte ihnen Wein nach. Ihr Mieder stand in der Mitte tief geschlitzt offen, ihr schöner Busen zeigte sich den Männern in voller Pracht. Die Runde war ausgelassen, man aß, trank, lachte und redete laut durcheinander. Ab und zu lauschten alle den Fabulierern und Lautenspielern.

Gegen Mitternacht trennte sich der Meister von seinen Schülern. Nach einem kurzen Marsch erreichte er seine Werkstatt. Als er die Tür aufschließen wollte, vernahm er gedämpfte Stimmen hinter sich. Er drehte sich um und sah, wie sich ihm zwei Männer näherten. Im hellen Mondschein glänzten ihre Körper wie Silber. Messerklingen blitzten in ihren Händen auf.

Keiner der drei Männer bemerkte den schwarzen Punkt, der vom Himmel herab auf sie zueilte, immer größer und beängstigender wurde, sich in gewaltige Flügel auswachsend, zwischen denen plötzlich ein spitzer Vogelschnabel vorstieß. Blitzschnell hackte die scharfe Schnabelspitze den beiden Meuchlern in die Augen, sodass sie aufbrüllten und mit den Händen vor dem Gesicht auf die Knie fielen.

Stark erregt schaute Da Vinci zu, wie sich der Raubvogel zu einer schemenhaften Gestalt wandelte, sah Milanas Gesicht auftauchen, so wie man ein Antlitz zwischen Traum und Wachen wahrnimmt, ehe es wieder verschwindet. Die Schattengestalt schmolz zu einem kleinen Körper mit dunklen Schwingen. Klopfenden Herzens beobachtete der Meister den Milan, der sich in den Nachthimmel emporschwang.

Alarmiert durch die Schmerzensschreie der Geblendeten, kamen Melzi und Salai angerannt. Mit Blick auf die halb ohnmächtigen, sich am Boden wälzenden Männer befahl Da Vinci eine Kutsche herbeizuschaffen und seine gesamte Habe aufzuladen.

Nachdem dies geschehen und alles verladen war, kehrte der Maler Rom für alle Zeiten den Rücken.

Viele Jahre später, in einer eiskalten Winternacht, öffnete Da Vinci das Fenster in seiner Mailänder Werkstatt, ehe er das Kaminfeuer mit Holzscheiten nährte. Als er mit einem Krug Wein aus dem Keller zurückkehrte, fand er Milana vor, die in einem dunklen Kleid mit Stickereien und senkrechten Brokatfalten am Sims des offenen Fensters lehnte. Der Vollmond über ihr sah aus wie eine bleich leuchtende, in den Himmel emporgeschleuderte Diskusscheibe. Der alte Maler lächelte glücklich.

Die nächtliche Besucherin schloss das Fenster und trat näher. In ihren Augen, die im Laufe der Jahrhunderte viel gesehen hatten, lag eine Spur von Trauer. Sie nahm Da Vincis Gesicht ganz sanft in ihre Hände, und der Alte spürte einmal mehr den unbeschreiblichen Zauber, der von dieser Frau ausging.

»Meine Zeit ist gekommen, Leonardo. Noch ehe der Monat im Zeichen der Mondesverbrennung steht, muss ich Euch für immer verlassen. Ich habe Euch an die Grenzen des Wissens und darüber hinaus geführt. Mehr vermag ich Euch nicht zu lehren.«

Da Vinci nickte und schwieg eine Weile. Dann, mit einem traurigen, matten Glanz in den Augen bat er: »Gestattet mir, Teuerste, vorher noch Euer Porträt zu vollenden. Bitte, setzt Euch ein letztes Mal auf den Stuhl hinter der Staffelei, ich will mich beeilen …«

Fieberhaft und mit fliegendem Pinsel arbeitete Meister Leonardo in den nachfolgenden Stunden das Porträt Milanas zu Ende, während sie ihm geduldig Modell saß. Als er ihr stumm zunickte stand sie auf: »Es ist Zeit, Abschied zu nehmen, mein Lieber.«

Der Maler seufzte und ein Schatten verdüsterte sein müdes, alterszerfurchtes Gesicht. Ein letztes Mal umarmten sie sich innig, ehe die Magierin seine Werkstatt verließ.

Mit Tränen in den Augen setzte sich da Vinci in den Armsessel, strich sich eine lange weiße Haarsträhne aus dem Gesicht und trank Wein. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Mantels die Augen trocken, betrachtete das Ölporträt Milanas, ergötzte sich an den Hintergrundmotiven, die er über die abgerundete Silhouette ihres Gesichts gemalt hatte: Eine zerklüftete, von Bächen durchkreuzte Landschaft, die sich in der Ferne vor einem grünblauen Himmel verlor; Nebelschwaden, die zwischen den Klippen geheimnisvoll auf- und abwogten.

Ein neuer Tag war angebrochen. Eine blasse Sonne drang durch die hohen, schmalen Fenster in den Raum. Der Feuerschein des Kamins mischte sich in das weiße Winterlicht. Da Vincis Augen ruhten auf dem Antlitz der Magierin – auf dem langen, in der Mitte gescheitelten Haar, den fleischigen Lidern, von denen das zähflüssige Licht eines Lächelns ausging. Dieses Lächeln flutete über die weichen Flächen ihres Gesichts zu dem kleinen, festen Mund mit der geschwungenen Oberlippe, die sich an das korallenrote Lächeln der Unterlippe dicht anschloss.

Der Maler konnte nicht wissen, dass dieses Porträt ihm dereinst Weltruhm verschaffen sollte, und nachfolgende Generationen es irrtümlicherweise für das Abbild einer gewissen Lisa La Gioconda, besser bekannt unter dem Namen Mona Lisa, halten würden.

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
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ISBN:
9783954885954
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