Kitabı oku: «Die Akzessorietät des Wirtschaftsstrafrechts», sayfa 3

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aa) Systemtheoretische Einwände gegen eine Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit

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In der juristischen Literatur wurde in den vergangenen Jahren zunehmend die sog. „Systemtheorie“ rezipiert.[16] Dieser Strukturgedanke wurde im angloamerikanischen Bereich ursprünglich von Talcott Parsons vorangetrieben;[17] in Deutschland ist der Begriff untrennbar mit dem Namen Niklas Luhmanns verknüpft. Spätestens dessen grundlegendes Werk „Soziale Systeme“ aus dem Jahre 1984 hat die Diskussion um die Systemtheorie in Deutschland in ihrer ganzen Breite eröffnet.[18]

Die Aussagen der Systemtheorie könnten geeignet sein, der hier zugrunde gelegten These von der Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit das Fundament zu entziehen. Dieser Frage ist im Folgenden nachzugehen. Hierzu müssen jedoch zunächst – wenn auch in der gebotenen Kürze – die Grundstrukturen der Systemtheorie nachgezeichnet werden:

(1) Recht als soziales System

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Die Systemtheorie geht von der Existenz verschiedener sozialer Systeme aus.[19] Neben anderen Systemen wie etwa „Politik“ und „Wirtschaft“ steht das Rechtsystem.[20] Relativ zu jedem System besteht eine Umwelt, welche die übrigen Systeme einschließt;[21] das System „definiert“[22] sich gerade aus der Differenz zwischen System und Umwelt.[23]

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Gegenstand der Systemtheorie sind nicht etwa Menschen als Subjekte[24] (diese werden als Bestandteil der Systemumwelt betrachtet) oder deren Handlungen, sondern ausschließlich Kommunikationen.[25] Jedes System kommuniziert dabei mittels eines spezifischen und binären Codes, der es von den anderen Systemen unterscheidet.[26] Während etwa im System der Wirtschaft dieser Code im Dualismus von „Zahlung“ und „Nicht-Zahlung“ besteht,[27] verläuft die Kommunikation im Rechtssystem über die Aussage, ob etwas „Recht“ oder „Unrecht“ ist.[28]

(2) Recht als selbstreferentielles autopoietisches System

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Die Systemtheorie versteht das Recht als selbstreferentielles System.[29] Gemeint ist damit, dass das Recht ein (operativ) in sich geschlossenes Ganzes bildet, das mit seiner „Umwelt“ (und damit auch anderen sozialen Systemen wie Wirtschaft und Politik) nicht kommunizieren kann.[30] Nur innerhalb des Rechtssystems kann die kommunikative Entscheidung über „Recht“ oder „Unrecht“ getroffen werden. Lediglich eine kognitive Offenheit des Rechtssystems ist gegeben, die es dem Recht zwar ermöglicht, seine Umwelt zu beobachten; es kann sich aber gerade nur in seinen eigenen Kategorien ausdrücken.[31]

Aufbauend[32] auf den selbstreferentiellen Charakter des Rechtssystems ergibt sich dessen Autopoiese:[33] Aufgrund seiner Selbstreferenz ist das System in der Lage, seine eigenen Komponenten selbst zu reproduzieren.[34]

(3) Relativierungen der Autonomie des Rechtssystems

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Eine solche Betrachtungsweise würde den Akzessorietätsgedanken auf den ersten Blick – jedenfalls in Bezug auf die Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit – im Keim ersticken. Allerdings werden die soeben geschilderten Ausgangsgedanken des systemtheoretischen Ansatzes auch durch die Systemtheoretiker selbst relativiert. Die diesbezüglichen Modelle der beiden wichtigsten Vertreter der Systemtheorie in Deutschland seien im Folgenden vorgestellt:

(a) Operative und strukturelle Koppelungen (Luhmann)

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Nach Luhmann sind – jedenfalls aus dem System des Rechts heraus – sowohl strukturelle wie auch operative Koppelungen zwischen dem (Rechts-)System und dessen Umwelt möglich:[35] Während operative Koppelungen nur in Bezug auf Einzelereignisse möglich sind (Beispiel: eine Zahlung stellt einerseits eine Kommunikation im Wirtschaftssystem dar und zugleich eine Rechtssystem-Operation, weil durch sie eine Verbindlichkeit beglichen wird, woraufhin das Rechtsgefüge sich ändert),[36] wird unter strukturellen Koppelungen das Vertrauen eines Systems in den Bestand eines Umweltcharakteristikums (z.B. die Existenz von Geld) verstanden.[37] Mehrere Systeme beruhen auf gleicher Basis, die sie in ihrer jeweiligen Codierung eigenständig umsetzen. Trotzdem fungieren Umweltereignisse auch im Bereich struktureller Koppelungen nicht als „Input“ in ein System, sondern führen lediglich zur Irritation des Systems,[38] das diese als ein Problem im Umgang mit den eigenen Fragestellungen mittels seiner eigenen Strukturen wahrnimmt und somit in der Lage ist, nach einer – systeminternen – Reaktionsmöglichkeit zu suchen,[39] ohne die Komplexität der Umweltbedingen nachvollziehen zu müssen.[40]

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Bei der näheren Betrachtung dieses Konzepts drängt sich der Gedanke der Differenzierung nach Rechtssetzungs- und Rechtsanwendungsphase auf: Während sich operative Koppelungen vor allem im Bereich der Rechtsanwendung (nicht zwangsläufig im Sinne einer gerichtlichen oder Verwaltungsentscheidung, sondern im Sinne einer – auch abstrakten – einzelfallbezogenen Subsumtion) abspielen – es geht um Einzelereignisse, die in mehreren Systemen Operationen auslösen –, spielen die strukturellen Koppelungen vor allem im Bereich der Rechtssetzung eine Rolle, wo auf gesellschaftliche (im Sinne der Systemtheorie: Umwelt-)Veränderungen durch eine Anpassung der Rechtslage reagiert werden kann (z.B. durch die Regelung des Umgangs mit einer neuentdeckten Technologie).

Im Einzelfall mittels operativer Koppelung reaktionsfähig zu sein, setzt daher das Vorhandensein einer strukturellen Koppelung voraus. Die im Einzelereignis gekoppelte Operation stellt lediglich eine Konkretisierung bzw. Umsetzung der strukturellen Koppelung der Systeme dar.

(b) Interferenzmodell (Teubner)

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Nach Teubner existiert ein Zusammenhang zwischen den Operationen verschiedener Systeme aufgrund von Interferenzen.[41] Gemeint ist damit Folgendes: Das Rechtssystem stellt ein Subsystem des gesamtgesellschaftlichen Systems dar. Jeder Kommunikationsvorgang im Rechtssystem stellt gleichzeitig einen allgemeingesellschaftlichen Akt dar (auch wenn der Code der Kommunikation sich nach dem jeweiligen System richtet).[42] Die Kommunikation auf der Ebene des allgemeingesellschaftlichen Systems interferiert aber wiederum mit den anderen Subsystemen der Gesellschaft, sodass dort ebenfalls – systeminterne – Operationen erfolgen können.

Ein Zugang außerrechtlicher Vorgänge in das Rechtssystem hinein erfolgt also über den „Umweg“ des Gesamtsystems Gesellschaft. Vorkommnisse in einem Subsystem der Gesellschaft haben zwangsläufig Auswirkungen auf das gesamtgesellschaftliche System, was wiederum auf die anderen Subsysteme – und folglich auch auf das Rechtssystem – durchschlägt bzw. zumindest durchschlagen kann.

(4) Konsequenzen für die These einer Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit

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Nach alledem steht auch ein systemtheoretischer Ansatz einer Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit nicht im Wege. „Soziale, ökonomische, politische Determinierung des Rechts wird – allen gegenteiligen Unterstellungen zum Trotz – in einem selbstreproduzierenden Rechtssystem nicht ausgeschlossen, sondern [ist] vorausgesetzt.“[43] „[W]eder die Realität noch die kausale Relevanz der Umwelt werden geleugnet […].“[44] „Die Trennung von Sein und Sollen rechtfertigt keinen selbstgenügsamen Methodenkanon.“[45]

Die dargestellten Modelle zur Relativierung der Autonomie der einzelnen gesellschaftlichen (Sub-)Systeme eröffnen verschiedene Möglichkeiten des Zugangs gesellschaftlicher Vorgänge in das Rechtssystem. Zudem bietet im Übrigen das systemtheoretische Modell bereits in seinem Ausgangspunkt die Möglichkeit zur Herstellung von Akzessorietätsbeziehungen: Durch die kognitive Offenheit der sozialen Systeme ist eine Beobachtung der Umwelt durchaus möglich. Zwar kann diese nicht direkt auf das Recht einwirken; allerdings kann das Recht, wenn es sich selbstreferentiell wiederherstellt, auf seine Beobachtungen der Umwelt Bezug nehmen. Ein Kommunikationsakt des Rechtssystems selbst kann für dieses nämlich trotzdem bindende Wirkung entfalten. Zwar kann kein außerrechtlicher Vorgang eine Entscheidung über Recht oder Unrecht treffen, aber das Rechtsystem kann sich bei dieser Entscheidung auf seine Umweltbeobachtungen stützen. Erforderlich ist hierfür lediglich, dass das Recht selbst systeminterne Instrumente vorhält, um eine entsprechende Operation zu ermöglichen.[46]

bb) Verfassungsrechtliche Einwände gegen eine Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit

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Ein zweiter Einwand ergibt sich seitens der Verfassung: Gemäß Art. 20 Abs. 3 GG sind „die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung […] an Gesetz und Recht gebunden“; die Richter sind „dem Gesetze unterworfen“ (Art. 97 Abs. 1 GG). Diese Formulierungen legen den Schluss nahe, dass jedenfalls in der Phase der Rechtsanwendung eine Heranziehung außerrechtlicher Umstände zur Rechtsfindung unzulässig sein könnte.

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Bei genauerem Hinsehen offenbart sich jedoch, dass sich aus den genannten Vorschriften kein Gebot der alleinigen Ableitung des Rechtsanwendungsergebnisses aus dem Recht ergibt, sondern lediglich ein Vorrang der Heranziehung von Rechtsnormen, denn diese allein werden für verbindlich erklärt. Das bedeutet für die Einbeziehung lebenswirklicher Fakten, dass sie zum einen zulässig ist, wenn Rechtsnormen auf sie verweisen.[47] Zum anderen ist eine Herleitung aus außerrechtlichen Gegebenheiten möglich, wenn insoweit keine rechtliche Regelung existiert, weil dann der Vorrang der Begründung aus rechtlichen Elementen nicht unterlaufen wird.[48] Die Rezeption außerrechtlicher Umstände kann nur aus dem Recht selbst heraus erfolgen.[49]

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Die These von der Akzessorietät des Rechts wird somit durch die Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG nicht widerlegt, sondern lediglich eingeschränkt: Soweit ein bestimmter Lebensbereich rechtlich überhaupt geregelt ist, bedarf es zur Einbeziehung außerrechtlicher Umstände einer entsprechendenden (hier sog.) „Öffnungsklausel“[50]. Dieses Ergebnis entspricht im Wesentlichen der obigen Darstellung zur Systemtheorie, wonach (nur) durch eine rechtssystemimmanente Operation Umweltbeobachtungen bei der Rechtsanwendung fruchtbar gemacht werden können.

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Gusy stellt in diesem Zusammenhang die These auf, dass dem Rechtsanwender die Bewertung einer aus außerrechtlichen Quellen geschöpften Erkenntnis entzogen ist, vielmehr lediglich rechtliche Anforderungen an die Art und Weise ihrer Gewinnung zulässig sind.[51] Dies scheint auf den ersten Blick verwunderlich, ist der Richter doch auch etwa nicht an die Ergebnisse eines Sachverständigengutachtens gebunden.[52] Allerdings ist es vorrangig die Aufgabe des Richters, Rechtsfragen zu beantworten. Jedoch wird ein außerrechtlicher Maßstab, auf den eine Rechtsnorm Bezug nimmt, damit nicht selbst in den Rang einer Rechtsnorm erhoben.[53] Zudem fehlt es dem Richter in Bezug auf vom Recht rezipierte außerrechtliche Sätze regelmäßig an Sachkunde. Freilich bestehen vereinzelte Ausnahmen: So können etwa bei den Landgerichten zivile Kammern für Handelssachen eingerichtet werden, die neben dem Vorsitzenden aus zwei stimmgleichberechtigten ehrenamtlichen Richtern bestehen (§ 105 GVG), die dem Handelsstand angehören (vgl. § 109 GVG). Auf den Aspekt der gerichtlichen Überprüfbarkeit wird an späterer Stelle noch einzugehen sein.[54]

cc) Einwand der Kontrafaktizität des Rechts

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Es verbleibt der Einwand, die Rezeption bestehender Lebenswirklichkeiten würde, da das Recht seiner Natur nach auf die Veränderung der Außenwelt abzielt, eben diesem Zweck zuwiderlaufen.[55] Diese Kritik wird weiterhin gestützt durch die Luhmannsche Systemtheorie, welche die Funktion des Rechts als „Stabilisierung normativer Erwartungen“ und Rechtsnormen als „kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartung[en]“ begreift.[56]

Wenn auch diesem Einwand dem Grunde nach zuzustimmen ist,[57] so verkennt er doch, dass Recht nicht zwangsläufig zur Änderung der bestehenden Verhältnisse führen muss, sondern auch zu deren Stabilisierung dienen kann. Alles andere würde bedeuten, dass ein präventives Verbot bzw. eine dazugehörige Sanktionsnorm nur geschaffen werden dürfte, sobald es zumindest einen „Verstoß“ gegen diese noch nicht geltende Vorschrift gegeben hat.

Auch im Übrigen kann eine „Wissenschaft vom Sollen“ nicht vollständig vom „Sein“ gelöst sein;[58] die beiden Kategorien stehen nicht „von vornherein beziehungslos nebeneinander“.[59] Dies findet seinen Hintergrund nicht zuletzt in der Tatsache, dass ein stabiles Rechtssystem – jedenfalls im Großen und Ganzen – auf die Akzeptanz seiner Rechtsunterworfenen angewiesen ist,[60] was nur bei einer Anlehnung an die bestehenden Verhältnisse möglich ist.

dd) Zwischenergebnis

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Eine Akzessorietät des Rechts zu einzelnen Bereichen der Lebenswirklichkeit ist weder bei Zugrundelegung eines systemtheoretischen Ansatzes noch aus verfassungsrechtlichen Gründen oder gar aufgrund der Natur des Rechts selbst dem Grunde nach ausgeschlossen. Für die Phase der Rechtssetzung ergeben sich insoweit überhaupt keine Einschränkungen. Hinsichtlich der Rechtsanwendung ist aber erforderlich, dass eine rechtsimmanente Öffnung für außerrechtliche Aspekte besteht.

b) Akzessorische Wirklichkeitsbereiche

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Im Folgenden werden die wichtigsten Bereiche der Wirklichkeit, zu denen Akzessorietätsbeziehungen bestehen könnten, im Einzelnen untersucht.

aa) Politik

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Dass „enge[] und offensichtliche[] Zusammenhänge zwischen Politik und Recht“ bestehen, wird nicht einmal seitens der Systemtheoretiker ernsthaft bestritten.[61] „Rechtsnormen sind ein Stück normativ verfestigter, dauerhaft gemachter“[62] Politik; Recht ist „geronnene“[63] Politik. „Ideologiefreies Recht kann es nicht geben.“[64]

Wie eng die Verbindung zwischen den beiden Disziplinen im Einzelfall ist, muss aus der Perspektive des Rechts nach seiner Phase bestimmt werden:[65]

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In der Phase der Rechtssetzung ist der Konnex am stärksten. Ob, in welcher Form und mit welchem Inhalt eine bestimmte Regel zu Recht erwächst, ist ausschließlich dem Willen der rechtssetzenden Instanz unterworfen, die mit der Neuregelung, Änderung oder Aufhebung einen bestimmten politischen Zweck verfolgt. Das Recht ist eines der wichtigsten politischen Handlungsinstrumente.

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Geht es jedoch um Rechtsanwendung, ist das Maß des politischen Einflusses nicht mehr so eindeutig zu bestimmen, sondern gehört vielmehr zu den umstrittenen grundlegenden Fragen der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre, die sich in der Gegenüberstellung der Begriffe „objektive Auslegung“ und „subjektive Auslegung“ manifestiert.[66] Während die Vertreter der subjektiven Auslegung fordern, dass die niedergelegten Absichten des historischen Gesetzgebers Einfluss auf das Auslegungsergebnis nehmen müssten,[67] wird unter Zugrundelegung einer objektiven Auslegungstechnik überwiegend davon ausgegangen, dass die Teleologie einer Rechtsvorschrift lediglich aus ihr selbst heraus zu ermitteln sei und sie auf diese Weise auch losgelöst vom historischen Kontext ihrer Schaffung, sondern angepasst an die gegenwärtigen Verhältnisse angewandt werden könne.[68] Nur dem Gesetz allein komme die Kraft der legislatorischen Bindung zu.[69] Das Gesetz könne – so der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts – „klüger sein als die Väter des Gesetzes.“[70] Und der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs führt dazu aus: „Kein Gesetz verträgt eine starre Begrenzung seiner Anwendbarkeit auf solche Fälle, die der vom Gesetzgeber ins Auge gefaßten Ausgangslage entsprechen; denn es ist nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist, der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepaßt weitergelten will, solange dies nicht die Form sprengt, in die er gegossen ist […].“[71]

Dieser Streit kann nicht mit einfachen Argumenten und möglicherweise gar nicht entschieden werden;[72] dieser Versuch soll im Folgenden auch gar nicht unternommen werden. Hingewiesen sei an dieser Stelle nur auf Folgendes: Auch unter Zugrundelegung einer im oben genannten Sinne objektiven Auslegungsmethodik kann die Anpassung vorhandener Rechtsnormen nicht vollständig synchron mit der Änderung der politischen Verhältnisse ablaufen. Denn dann wäre bereits – im demokratischen Rechtsstaat – die Wahl eines Gesetzgebers neuer politischer Ausrichtung selbst ein Rechtssetzungsvorgang. Gusy führt insoweit treffend aus, dass „die rechtssetzende Instanz selbst […] die Norm zwar aufheben oder ändern [darf]. So lange sie dies aber nicht getan hat, muss sie von deren Geltung ausgehen und darf sie nicht einfach ignorieren. Insoweit bewirkt Recht für die rechtssetzenden Instanzen auch eine gewisse Selbstbindung.“[73] Vor diesem Hintergrund kann es auf Rechtsanwendungsebene jedenfalls keine strenge Politikakzessorietät dergestalt geben, dass Gesetze automatisch im Licht der aktuellen politischen Verhältnisse ausgelegt werden können. Ausgehend von den – niedergelegten[74] – Absichten des historischen Rechtssetzers ist zu fragen, ob sich die im Rechtssetzungsverfahren zugrunde gelegten Prämissen verändert haben. Nur wenn sich die Umstände objektiv anders darstellen als im Zeitpunkt der Rechtssetzung, ist eine Modifikation im Rahmen der allgemeinen Regeln der Methodenlehre zulässig. Ist lediglich die Bewertung gleich gebliebener Umstände eine andere, muss der „neue“ Rechtssetzer selbst tätig werden, um die Rechtslage zu verändern.

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Konsequent zum oben Gesagten muss die Frage nach einer Öffnungsklausel sich eigentlich auch im Verhältnis von Recht und Politik stellen. Dies gilt umso mehr, als solche Klauseln anderen Rechtsordnungen nicht fremd sind bzw. waren: So sind etwa Verordnungen der Europäischen Union „in allen ihren Teilen verbindlich“ (Art. 288 UAbs. 2 Satz 2 AEUV), was die Erwägungsgründe der Verordnung mit einschließt. Insofern kann man von einer Öffnungsklausel im oben genannten Sinne für die Einbeziehung des subjektiven Willens des Verordnungsgebers in das Recht sprechen. Ähnliches fand sich im Allgemeinen Preußischen Landrecht: Gem. § 47 der Einleitung des ALR war der Richter bei Zweifeln über den telos einer Vorschrift angehalten, die Gesetzeskommission zu deren Beantwortung anzurufen und gem. Einleitung § 48 Hs. 1 ALR an den entsprechenden Beschluss der Kommission gebunden. Noch deutlicher ging der nationalsozialistische Gesetzgeber vor: So waren etwa gem. § 1 Abs. 1 des Steueranpassungsgesetzes[75] „[d]ie Steuergesetze […] nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen.“

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Allerdings lässt sich vom Fehlen einer solchen Öffnungsklausel nicht auf die gerenelle Unzulässigkeit der subjektiven Auslegung schließen. Vielmehr ergibt sich aus dem Demokratieprinzip, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG), dass der im Rechtssetzungsverfahren manifestierte (!) Wille des Volkes – im Rahmen des eben Gesagten – auch auf die Phase der Rechtsanwendung fortwirken muss.

bb) Wirtschaft

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Die Wechselwirkungen[76] zwischen Recht und Wirtschaft waren bereits Gegenstand vielfältiger Untersuchungen. Allerdings werden dort regelmäßig andere Blickwinkel eingenommen, als dies vorliegend der Fall ist.[77] So wurde vielfach erörtert, inwieweit das Recht gegenüber der Wirtschaft Steuerungsfunktion ausüben kann.[78] Anderenorts ist Gegenstand der Betrachtung, ob im Recht ökonomische Methoden angewandt werden dürfen,[79] während die sog. „ökonomische Analyse des Rechts“ ökonomische Methoden auf das Recht anwendet.[80] Für die vorliegende Untersuchung kann allerdings nur die Fragestellung relevant sein, welche Auswirkungen die faktische Wirtschaftssituation (und nicht die wirtschaftswissenschaftlichen Methoden) auf das Recht haben kann.

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Eine derartige Einflussnahme ist wiederum in erster Linie im Rechtssetzungsverfahren möglich; wirtschaftliche Entwicklungen geben häufig Anlass zu gesetzgeberischer Tätigkeit.[81] Beispielhaft sei an dieser Stelle nur die Reform des Überschuldungsbegriffs gem. § 19 Abs. 2 InsO als Reaktion des deutschen Gesetzgebers auf die weltweite Finanzkrise genannt.[82] Dass eine Orientierung der rechtssetzenden Instanz an den aktuellen wirtschaftlichen Gegebenheiten notwendig ist, proklamiert auch Lindemann, wenn er im Zuge seiner Bewertung der Wirtschaftsgesetzgebung während und nach dem ersten Weltkrieg den Schluss zieht, „daß nämlich die Wirtschaftsgesetzgebung nur dann wirklich erfolgreich sein kann, wenn sie sich den bestehenden Wirtschaftstendenzen anzupassen vermag“[83].

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Für die Ebene der Rechtsanwendung existieren vielfältige Öffnungsklauseln zur Einbeziehung wirtschaftlicher Umstände:[84] So ist etwa „[u]nter Kaufleuten […] in Ansehung der Bedeutung und Wirkung von Handlungen und Unterlassungen auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen“ (§ 346 HGB), und der Kaufmann hat im Rahmen eines Handelsgeschäfts „für die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns einzustehen“ (§ 347 Abs. 1 HGB). § 359 Abs. 1 HGB nimmt auf den „Handelsgebrauch des Ortes der Leistung“ Bezug. Die in § 74c Abs. 1 S. 1 Nr. 6 lit. a und lit. c GVG aufgeführten Straftaten unterfallen nur dann dem Zuständigkeitsbereich der Wirtschaftsstrafkammer, „soweit zur Beurteilung des Falles besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erforderlich sind“;[85] diese Formulierung setzt die Zulässigkeit einer Einbeziehung wirtschaftlicher Erwägungen gerade voraus.

Diese Beispiele mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass wirtschaftliche Umstände und Betrachtungsweisen vielfach Eingang in die Auslegung von Rechtsnormen finden dürfen; dies gilt vor allem im Anwendungsbereich des Rechts der Handelsgeschäfte.

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Hervorzuheben ist noch, dass vor einer eventuellen Rezeption zu untersuchen ist, ob z.B. Handelsbräuche überhaupt dem Wirklichkeitsbegriff zuzuordnen sind. Häufig ist hier nämlich denkbar, dass bestimmte Anschauungen und Verhaltensweisen bereits zu Gewohnheitsrecht erstarkt und als eigenständige Rechtsquelle auch ohne jede Öffnungsklausel im Rahmen der Rechtsanwendung beachtlich sind.

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