Kitabı oku: «Kinder auf der Flucht», sayfa 3

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Tatsächlich wird von der Schweizer Spende viel geleistet, zu Beginn vor allem medizinische Nothilfe und Lebensmittel, später auch Kleidung, Obdach, Unterstützung beim landwirtschaftlichen Wiederaufbau, Bildung und Kultur. Der Schwerpunkt liegt über die knapp vier Jahre hinweg rund zur Hälfte bei Leistungen, die direkt Kindern zugutekommen. Dazu zählt die Tradition der Kinderzüge, die nun in steigender Zahl in die Schweiz rollen und nicht mehr länger einer privaten Finanzierung bedürfen. An der Politik der allerhöchstens vorübergehenden Aufnahme von Geflohenen hält der Bundesrat aber eisern fest. Das zeigen exemplarisch die »Buchenwaldkinder«. Am 1. Mai 1945 war Rodolfo Olgiati, Generalsekretär der Schweizer Spende, nach Versailles ins Hauptquartier der Alliierten gereist, um zu eruieren, inwieweit die Schweizer Spende mit der alliierten Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung UNRRA kooperieren könnte. Einen Beitritt hatte der Bundesrat aus neutralitätspolitischen Überlegungen ausgeschlossen. Millionen von Vertriebenen, sogenannte displaced persons, müssen ernährt, untergebracht und medizinisch versorgt werden. Als die UNRRA vorschlägt, die Schweiz könnte vertriebene, staatenlose Kinder aufnehmen, läuten in Bern die Alarmglocken. Denn niemand denkt ernsthaft an eine dauerhafte Aufnahme, und gerade bei staatenlosen Kindern wäre es schwierig, »diese wieder loszuwerden«, wie es in einer Aktennotiz heißt. Und so schlägt wiederum die Schweizer Spende der UNRRA nach einem guten Monat des internen Streits vor, bis zu 2000 Kinder aufzunehmen, unter anderem unter der Voraussetzung, dass diese nicht älter als zwölf Jahre seien, aus Deutschland stammten und befristet für ein halbes Jahr, maximal aber 18 Monate aufgenommen würden. Das UNRRA antwortet rasch und ersucht, 350 13- bis 16-jährige Kinder aus dem befreiten Konzentrationslager Buchenwald aufzunehmen. Widerwillig wird dem Gesuch schließlich stattgegeben. Man möchte es sich mit den Alliierten nicht gleich zu Beginn der Zusammenarbeit verderben. Die übrigen 1650 Kinder, deren Aufnahme man angeboten hat, müssten dann auf jeden Fall unter zwölf Jahre alt sein.

Am 23. Juni 1945 trifft der Zug aus Buchenwald ein. Und wieder kommt Ungemach auf die Bürokraten der Schweizer Spende zu. Denn im Zug sitzen 374 junge Menschen, von denen mehr als die Hälfte älter als 17 Jahre sind. Alle sind Juden. Und wieder bleiben nur das Zähneknirschen und ein politischer motivierter Entscheid. Es sei »von eminentem politischen Interesse, diese [die UNRRA] nicht vor den Kopf zu stoßen«, erklärt Rodolfo Olgiati in einer Krisensitzung. Es kommt zu einem fadenscheinigen Kompromiss. Es werden zwar alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufgenommen, doch die älteren von ihnen erhalten nur den Status illegal eingereister Geflüchteter. Ausgewiesen wird niemand. In den kommenden Monaten erweist sich das Angebot der Schweizer Spende, die hartnäckig an Kindern unter 12 Jahren mit nachgewiesener Nationalität festhält, als fernab jeder Realität. Auf die Vorschläge seitens der UNRRA, stattdessen Jugendliche aufzunehmen, wird nicht eingegangen. Im Februar 1946 bestätigt die UNRRA der Schweizer Spende auf deren Wunsch, dass deren Angebot nicht mehr gültig sei. Die Realität, dass nur ganz wenige Kinder unter 12 Jahren den Horror der Konzentrationslager überlebt haben, spielt in diesen Überlegungen keine Rolle. Im Tätigkeitsbericht der Schweizer Spende bleiben die Buchenwaldkinder unerwähnt.

Die 374 Buchenwaldkinder entsprechen in keiner Art und Weise dem Bild von bis aufs Skelett abgemagerten Kindern, das man sich gemacht hatte: Sie sind, über zwei Monate nach der Befreiung durch britische Truppen, bei guter Gesundheit und wohl genährt. Als man sie in militärisch organisierte Lager steckt, begehren sie auf, disziplinarische Maßnahmen mit antisemitischem Unterton lassen sie sich nicht gefallen. Und weil der Bundesrat anfänglich darauf besteht, die Betreuung der staatsnahen Kinderhilfe des Roten Kreuzes anzuvertrauen, sind die jüdischen Organisationen ausgeschlossen. Noch vor wenigen Jahren waren sie vom Staat praktisch im Stich gelassen worden, die Mittel für die Betreuung jüdischer Geflüchteter mussten sie selbst aufbringen. Als sie und andere Hilfswerke schließlich nach einigen Monaten zugelassen werden, sind sie genauso überfordert. Für die große Mehrheit der Buchenwaldkinder dauerte der Aufenthalt in der Schweiz länger als die geplanten maximal eineinhalb Jahre. Geblieben sind nur dreißig.

Die Weiterwanderung bleibt auch nach Kriegsende das Ziel der schweizerischen Flüchtlingspolitik. Das gilt auch für die jungen Leute, die während des Kriegs in die Schweiz gelangt sind. Das SHEK befragt zwischen Juli 1944 und Februar 1945 1350 alleinstehende Kinder und Jugendliche, um mehr zu erfahren über Herkunft, Alter, Familie und mögliche Auswanderungsziele. In den folgenden Monaten gelingt es in 1186 Fällen, Angehörige im Ausland ausfindig zu machen. 164 Kinder gelten als gänzlich verlassen. Für 103 von ihnen ist bereits die Auswanderung nach Israel organisiert. Insgesamt werden es bis Ende 1947 450 Kinder sein. Der überwiegende Teil kehrt aber ins Heimatland zurück.

Auf der politischen Bühne steigt der Druck auf den Bundesrat, die restriktive Praxis aus Kriegstagen zu ändern und an die Realität einer Nachkriegszeit anzupassen, in der nach wie vor in ganz Europa Millionen von Menschen heimatlos sind. Doch erst knapp zwei Jahre nach Kriegsende wird das »Dauerasyl« eingeführt. Es gelten Einschränkungen. Das Dauerasyl wird nur jenen Ausländern gewährt, bei denen »dauerndes Verbleiben in der Schweiz« gestattet werden soll »wegen ihres Alters, Gesundheitszustandes oder anderer besonderer Umstände«. Tatsächlich wird dieses nur gerade 1345 Personen gewährt. Im Oktober 1947 befinden sich noch immer über 14’000 staatenlose Geflüchtete in der Schweiz, die den Restriktionen des Ausländergesetzes von 1931 unterworfen sind. Erst mit dessen Revision im Oktober 1948 werden alle Geflohenen bessergestellt und erhalten die Möglichkeit einer befristeten Aufenthalts- oder dauerhaften Niederlassungsbewilligung. Die Kantone sind nun nicht mehr verpflichtet, diese zu »dulden«, sondern sie »aufzunehmen«. Das hindert einige Kantone nicht daran, den Druck auf die Geflohenen, auszureisen, aufrechtzuerhalten. Insbesondere werden Arbeitsbewilligungen verweigert, auch wenn der Bundesrat eine »weitherzige« Praxis empfohlen hat. Mit zusätzlichen finanziellen Anreizen des Bundes kann das Problem Ende 1950 etwas gemildert werden. Von den etwa 11’000 der noch in der Schweiz verbliebenen Geflüchteten hat die Hälfte nach wie vor keinen Aufenthaltsstatus. Darunter finden sich viele Kinder, Schüler, Studenten und Menschen im besten Arbeitsalter von zwanzig bis vierzig Jahren. Angesichts von weltweit 60 Millionen Geflohenen, davon 15 Millionen in Europa, sei es »nicht zu rechtfertigen, auch noch die Flüchtlinge, die sich in der Schweiz befinden und sich hier korrekt verhalten, zur Weiterwanderung zu veranlassen«. Es ist eine sehr späte Einsicht.

Man wird nie genau wissen, wie viele Schutzsuchende die Schweiz im Zweiten Weltkrieg zurückgewiesen hat. Viele Akten aus der Kriegszeit sind vernichtet worden, manche Abgewiesene wurden gar nicht registriert. Die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg spricht in ihrem 2002 veröffentlichten Schlussbericht für die Kriegsjahre von »über 20’000« an der Grenze Abgewiesenen. Dazu kommen 14’500 auf Konsulaten und Botschaften abgelehnte Einreisegesuche. Über Geschlecht, Fluchtgründe, Alter und Religion dieser Menschen ist nichts bekannt. 295’381 Menschen seien in der Schweiz in den Jahren des Zweiten Weltkriegs aufgenommen worden, schrieb Carl Ludwig 1957 in seinem im Auftrag des Bundesrats verfassten Bericht Die Flüchtlingspolitik der Schweiz in den Jahren 1933 bis 1955. Davon befanden sich zu Kriegsende rund 115’000 in der Schweiz. Die Zahlen sind irreführend, hat Ludwig doch einfach verschiedene Kategorien von Flüchtlingen zusammengezählt. So figurieren darunter auch rund 60’000 Kinder, die für mehrwöchige Erholungsaufenthalte in der Schweiz weilten, und 66’000 Grenzflüchtlinge, die zu Kriegsende meist nur wenige Tage Schutz gesucht hatten, um den letzten Kämpfen zu entgehen. Aussagekräftiger ist die von der Bergier-Kommission ermittelte Zahl von 51’129 zivilen Flüchtlingen, die ohne Einreisebewilligung während des Zweiten Weltkriegs aufgenommen wurden. Unter ihnen waren über 10’000 Kinder. Zählt man noch die knapp 8000 mehrheitlich jüdischen Emigranten dazu, die vor Kriegsausbruch in der Schweiz Zuflucht gefunden hatten, und weitere 2000, die kantonale Toleranzbewilligungen erhalten hatten, so dürften es laut Bergier-Kommission rund 60’000 Menschen gewesen sein. Knapp die Hälfte waren Juden.

Inge Joseph beginnt im Juli 1945 eine Ausbildung zur Krankenschwester. Sie möchte Hebamme werden, helfen, Leben zu schenken, anstatt es zu beenden. Im Mai 1946 reist sie in die Vereinigten Staaten aus, wohin ihr Vater und ihre Schwester schon vor dem Krieg emigriert sind. Ihre Mutter ist in Auschwitz ermordet worden, ihre Großmutter verbringt ihre letzten Jahre in einem Lausanner Altersheim. Die Schweiz behält sie als familiäres und herzliches Land in Erinnerung. Doch ihre traumatische Jugend wird sie nie mehr loslassen. Was damals geschah, darüber spricht sie kaum. Ende der 1950er Jahre schreibt sie ein 66-seitiges Manuskript mit den Erinnerungen an ihre Jahre als verfolgte jüdische Jugendliche in Europa. Das unfertige Manuskript verschwindet, nachdem verschiedene Verlage es zurückgewiesen haben, in einer Schublade. 1983 nimmt sie sich im Alter von 58 Jahren das Leben. In ihren letzten Jahren hatte sie sich mehr und mehr zurückgezogen, auch ihre Angehörigen hatten sie nicht mehr erreicht. Als ihr Neffe David Gumpert ihre Erinnerungen liest, beschließt er, sie posthum fertigzustellen. Er recherchiert, trifft ihre überlebenden Leidensgenossen und auch die noch lebenden Schweizer Helferinnen und Helfer. Das Buch erscheint 21 Jahre nach Inge Josephs Tod. Eine deutsche Übersetzung steht aus.

Naara Appel

»Ich habe mit meinem Großvater geweint«

»Ich vermisse meinen verstorbenen Großvater, er war mir in seinen letzten Jahren sehr nahe, nicht mehr nur der liebevolle Paschlö, der uns Enkelkinder in seinem Sommerhaus mit seinem Akkordeon in den Schlaf wiegte, sondern Klaus Appel, ein sehr selbstbestimmter Mann, der fast seine ganze Familie in der Shoa verlor. Ich bin dem jüdischen Glauben stärker verbunden, als er es war, der sein Judentum als Dienst an der jüdischen Gemeinschaft verstand, und auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob es einen Gott oder einen Himmel gibt, so ist der Gedanke doch tröstlich, er möge seine Familie wieder gefunden haben, die er mit 14 Jahren, am 31. August 1939, verlassen musste, um als eines der letzten Kinder nach England gerettet zu werden. Nur Stunden später begann der Zweite Weltkrieg. Mein Großvater wusste, dass er sie nicht wiedersehen würde. Von da an war er weitgehend auf sich allein gestellt.

Ich war ein Teenager, als ich mich zu fragen begann, wie er mit einer solchen Kindheit in ein normales Leben gefunden hatte. Ich, wohlbehütet und im Wohlstand lebend, er, der mit einer solch traumatischen Erfahrung überleben musste. Er hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, alle wussten in der Familie, was geschehen war, und er sprach bereitwillig darüber, wenn er gefragt wurde, nicht nur im Familienkreis, sondern auch in der Öffentlichkeit. Und doch umgab ihn immer etwas Rätselhaftes. Es gab etwas, das er nicht mit uns teilen mochte oder konnte.

Was es war, wurde mir erst später bewusst, als ich meinen Großvater im Rahmen meiner Maturaarbeit befragte. Mein Thema war Resilienz, die Fähigkeit des Menschen, eine traumatische Erfahrung zu überwinden. Ich war in einem Artikel darauf gestoßen, ohne dabei an meinen Großvater zu denken. Erst nach und nach, in Gesprächen mit meinen Eltern und meiner Tante, entwickelte sich die Idee, dieser Frage am Beispiel von Überlebenden der Kindertransporte nach England nachzugehen. 10’000 Kinder wurden nach der ›Reichskristallnacht‹ vom 9. November 1938 bis zum Kriegsausbruch aus dem Deutschen Reich nach Großbritannien gerettet, unter ihnen mein Großvater.

Ich hatte einen Fragenkatalog vorbereitet, und mein Großvater stand mir Rede und Antwort. Er schilderte genau, was geschehen war, doch immer dann, wenn es mir darum ging, etwas über seine Gefühle zu erfahren, da verstummte er, oder er wich aus in Details, ohne dabei zu verraten, wie er sich gefühlt haben mochte, als er in letzter Minute sein geliebtes Akkordeon, seinen ersten wirklichen Besitz, in den Händen seines Bruders zurücklassen musste, weil nur ein Gepäckstück auf dem Transport erlaubt war. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis er sich wieder eines gekauft hat. Aus der Resilienzforschung ist dieses Schweigen über die Gefühle bekannt. Es ist der Schutzmantel, den manche Traumatisierte tragen, tragen müssen, um in ein normales Leben zu finden.

Die jüngere Schwester meines Großvaters, die die Kriegsjahre auch in England überlebt hat, brach alle Brücken zu ihrer Vergangenheit ab. Sie kehrte im Gegensatz zu ihrem Bruder, der regelmäßig in seiner Geburtsstadt Berlin weilte und mir auch die Stätten seiner Kindheit gezeigt hat, nie mehr nach Deutschland zurück, sie legte ihren jüdischen Glauben ab, und sie blieb kinderlos. Gerne hätte ich von ihr erfahren, was sie dazu bewegt hat. Doch ihr Schweigen bricht sie nicht. Mein Großvater sprach dann doch noch über seine Gefühle. Je älter er werde, desto mehr bedrücke ihn das Trauma seiner Kindheit. Er wache jeden Morgen mit Gedanken an seine Familie auf, erzählte er mir unter Tränen. Die Forscherin in mir wusste auch dafür eine Erklärung. Ein Trauma lässt sich niemals überwinden. Resilienz heißt nur, einen Weg zu finden, damit zu leben. Klaus Appel, dieser gute Mensch, der in seinem Leben immer für andere da war und dabei auch sich selbst etwas aus dem Weg ging, fand in seinen letzten Jahren, als die Kräfte nachließen, wieder näher zu sich, im Guten und im Schlechten. Doch das ist die Sprache der Wissenschaft. Die Enkelin, sie hat mit ihrem Großvater geweint.«

Naara Appel, Jahrgang 1998, lebt im Kanton Genf.

Klaus Appel, der aus England kommend in den frühen 1950er Jahren zu seiner Frau in die Schweiz übergesiedelt war, starb am 13. April 2017, einen Monat vor seinem 92. Geburtstag. Aus seinem Leben berichtet er in seinem Buch Eines Morgens waren sie alle weg!, das im Rahmen der Reihe » Mit meiner Vergangenheit lebe ich. Memoiren von Holocaust-Überlebenden« 2016 erschienen ist. Das Buch wurde von Schülerinnen und Schülern einer Bieler Schulklasse ins Französische übersetzt, denen Klaus Appel noch kurz vor seinem Tod im Gespräch Fragen beantwortet hatte. Er konnte kaum mehr selber sprechen. Seine Enkelin, die damals 19-jährige Naara Appel, lieh ihm ihre Stimme. Auf die Frage nach den Auswirkungen seiner Kindheit auf sein heutiges Leben antwortete er: »Seid nachsichtig miteinander und genießt das Leben.« Es war sein letzter öffentlicher Auftritt.

Argyris Sfountouris

»Ich lebe gleichzeitig in zwei Welten«

»Von Assimilation hat man früher in der Schweiz gesprochen, wenn es um Ausländer ging, die sich dauerhaft niederließen. Gemeint war damit die praktisch vollständige Aufgabe jeglicher Identität aus der alten Heimat, und das eigentliche Ziel, die Schweizer Staatsbürgerschaft, war nur für jene zu erreichen, die zu dieser absurden Selbstenteignung bereit waren. Ich war es nicht, und ich hatte zu meinem Glück auch immer Fördererinnen und Förderer, die mir unabhängig von meiner Herkunft beistanden und mir berufliche Wege ermöglichten, die mir eigentlich verschlossen sein sollten. Als griechisches Waisenkind zählte ich 1949 zur ersten Generation, die im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen Aufnahme fanden, um hier zur Schule zu gehen und eine Berufslehre zu machen. Danach hätte ich wie alle anderen zurückkehren sollen. Das war die Bedingung der Eidgenössischen Fremdenpolizei von 1944, als Walter Robert Corti die Idee von einem internationalen Kinderdorf für Kriegswaisen aus ganz Europa publizierte. Doch ich strebte nach einer höheren Bildung, und diese wurde mir tatsächlich ermöglicht. Ich studierte Physik an der ETH und blieb in der Schweiz.

Meine Aufenthaltsbewilligung wurde jährlich erneuert. Nach zwanzig Jahren, zehn davon im Kanton Zürich, wies mich eine Verwaltungsangestellte darauf hin, dass ich mich nach geltendem Ausländerrecht um die Niederlassung und danach um die Schweizer Staatsbürgerschaft bewerben könne. Das tat ich dann auch. Der zuständige Beamte der Stadt Zürich vertröstete mich jahrelang, genoss aber sehr seine Allmacht, indem er demonstrativ beim routinemäßigen Gespräch mein Dossier, das jeweils schon ganz oben am Stapel lag, herausnahm, um es dann ganz unten wieder einzufügen. Ich müsse noch warten, beschied er mir, natürlich ohne jede Begründung. Es war die reine Willkür. Und es war klar, dass die Verweigerung der baldigen Einbürgerung mit meinem politischen Engagement gegen die Militärdiktatur in Griechenland zu tun hatte. Wäre ich gegen eine linke Diktatur engagiert gewesen, so hätte dies meine Einbürgerung beschleunigt. Aber in Griechenland herrschte eine von der NATO unterstützte rechtsextreme Militärdiktatur. Jeglicher Widerstand wurde blutig niedergeschlagen, die Gefängnisse waren überfüllt mit politischen Gefangenen. Der zivile Widerstand eines Griechen, der seit seinem neunten Lebensjahr in der Schweiz lebt und sich nun um die Schweizer Staatsbürgerschaft bewirbt, war offensichtlich in jener Zeit des Kalten Kriegs Grund genug für politische Missverständnisse in den Beamtenköpfen, um so mein Anliegen auf Einbürgerung auf die lange Bank zu schieben. Ich hätte politischen Verrat an meiner Heimat, aber auch an meinem Schweizer Demokratieverständnis begehen müssen, um schneller Schweizer zu werden. Es gab trotzdem auch Schweizer, die gerade meinen Kampf um die Rückkehr der Demokratie in Griechenland als Beweis für eine genügende Integration in der Schweiz und in ihr politisches System ansahen.

Damals sprach der Philosoph Theodor W. Adorno von der Notwendigkeit einer Entbarbarisierung der Schulen. Denn Europa habe es nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs verpasst, Nationalismus, Intoleranz und Kulturchauvinismus zu überwinden. Er plädierte für eine wertfreie Schule, die allen dieselbe Möglichkeit verschaffe, sich zu entfalten. Ich habe mich später in meiner Tätigkeit als Kantonsschullehrer sehr für eine Schule engagiert, die diese Spaltung für die Ausländer der zweiten Generation verhindert, die es ihnen erlaubt, unverkrampft in beiden Kulturen zu Hause zu sein. Damals ging es unter anderem um einige Unterrichtsstunden in der Muttersprache im Stundenplan der offiziellen Primarschulen, als Anerkennung des Rechts auf kulturelle Gleichberechtigung. Es war ein Anfang. Und auch wenn sich seither viel getan hat, zweifle ich, ob wir auf der politischen Bühne wirklich viel weiter gekommen sind. Denn im Kern geht es doch darum, von den ausländischen Mitbürgern nicht nur zu verlangen, sich zu integrieren, sondern dies auch im Geiste unserer Verfassung zu tun, die gerade die kulturelle Vielfalt zum Maßstab der Gesellschaft macht. Dann sprechen wir nicht mehr von einem Ausländer-, sondern von einem Minderheitenproblem mit ganz anderen Lösungsansätzen. Dazu zählt unter anderem auch die Teilnahme an der Entscheidungsfindung, im Klartext: Es geht um die Bürgerrechte. Sie müssen das Ziel der Integration sein. Integration bedeutet für mich deshalb, diese Bürgerrechte nicht nur zu kennen, sondern sie auch auszuüben. Voraussetzung dafür ist es, sich mit der Politik seiner neuen Heimat praktisch auseinanderzusetzen. Eine wahre Integration kann sich nicht nur auf theoretische Kenntnisse elementarer Gepflogenheiten oder der Landessprache alleine beschränken. Bürgerrechte bedingen auch die Ausübung der Bürgerpflichten.

Ich habe den Schweizer Pass 1973 schließlich doch noch erhalten. Es war für mich auch aus einem ganz anderen Grund eine vitale Frage: Da mein griechischer Pass aus Schikane der Diktatoren seit Jahren nicht mehr verlängert wurde, konnte ich erst jetzt wieder frei reisen. Ich lebe nun gleichzeitig in zwei Welten und in zwei Kulturen: in Griechenland, wo ich geboren bin, wo meine Verwandten leben, und in der Schweiz, dem Land, das mich in kritischer Zeit aufgenommen und mir dieses zweite Leben ermöglicht hat. Es ist nicht unbedingt immer einfach – aber ich möchte keine dieser zwei Welten missen.«

Argyris Sfountouris, geboren 1940 in Distomo, Griechenland, überlebte mit seinen drei Schwestern und den Großeltern als Vierjähriger das Massaker einer Einheit der deutschen Waffen-SS in seinem Heimatdorf, bei dem seine Eltern und viele Verwandte ermordet wurden. 1949 wurde er in die Schweiz ins Kinderdorf Pestalozzi in Trogen aufgenommen, er erwarb die Maturität, wurde später Physiklehrer und Entwicklungshelfer. Er schrieb Gedichte, Essays und Zeitungsartikel und übersetzte moderne griechische Lyrik ins Deutsche. 1994, zum 50. Jahrestag des Massakers, organisierte er eine internationale »Tagung für den Frieden« in Delphi. Später reichte er mit seinen Schwestern verschiedene Klagen in Deutschland ein zur Entschädigung der Opfer und löste damit eine bis heute andauernde Debatte über Kriegsschuld und Verantwortung aus.

Stefan Haupt im Dokumentarfilm Ein Lied für Argyris (2006) und Patric Seibel im Buch Ich bleibe immer der vierjährige Junge von damals (2016) haben seine Lebensgeschichte erzählt.

Shlomo Graber

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