Kitabı oku: «Kinder auf der Flucht», sayfa 4

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»Es gab nur die Zwangsarbeit, den Tag und die Nacht. Und den Hunger«

Die Aula des Gymnasiums am Münsterplatz ist bis auf den letzten Platz besetzt. Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus Basel und Lörrach haben sich versammelt. Vorne sitzt Shlomo Graber, ein alter, leicht gebückter Mann mit schlohweißem Haar und wachem Blick. Er wohnt nur einen Steinwurf entfernt. Graber, der bis zur Deportation nach Auschwitz 1944 mit seiner Familie in Ungarn gelebt hatte, spricht in einem weichen Deutsch mit jiddischem Akzent. Mit klarer, nie brechender Stimme erzählt er eine Dreiviertelstunde vom Grauen des Vernichtungslagers, von seiner Mutter und den Geschwistern, die sich vor seinen Augen an sie klammerten, als sie an der Rampe ins Gas geschickt wurden, von seinem Vater, der mit ihm zur Zwangsarbeit nach Görlitz deportiert wurde, wo sie unter entsetzlichen Bedingungen überlebten, und von der jungen deutschen Mutter in der nach Kriegsende praktisch menschenleeren Stadt Görlitz, mit der er sein Brot teilte, weil er, wie er sagt, »nicht hassen wollte«.

Nein, sein Überleben sei weder Schicksal noch Gottes Fügung gewesen, antwortet Graber auf die klugen Fragen der jungen Leute, deren Generation man doch so gern nachsagt, sie sei oberflächlich und desinteressiert. »Ich habe entschieden, mir selbst zu helfen, und so habe ich überlebt.« Er sei streng orthodox erzogen worden. In dieser Welt nahe am Aberglauben habe schon das Fallenlassen eines heiligen Gegenstandes genügt, um einen Tag des Fastens einzulegen. »Als den Juden in unserem Dorf befohlen wurde, das Nötigste zu packen, hat ein gläubiger Jude ein heiliges Gebetstuch eingepackt. Als ein SS-Offizier dies sah, riss er es ihm aus der Hand und warf es auf den Boden. Nichts geschah weiter. Da habe ich zu meinem Vater gesagt: Es kann keinen Gott geben, wenn er das zulässt.« Er sei später aus Tradition regelmäßig in die Synagoge gegangen. Aber die Entscheidung, welchen Glauben seine Kinder annehmen wollen, habe er ihnen überlassen. »Jeder Mensch soll nach seiner Religion leben.«

Drei Jahre hat Shlomo Graber an seinen Erinnerungen geschrieben. Mehr als dreißig Minuten pro Tag seien nicht möglich gewesen, erinnert sich seine Frau. Dann sei er jedes Mal für einen langen Spaziergang verschwunden. Von einer Gymnasiastin nach den Beweggründen gefragt, berichtet er von einem Zeitungsinterview in Israel, wo er vierzig Jahre gelebt habe, zur Shoa. »Es erschien auf der Titelseite. Meine Kinder warfen mir vor, ich hätte ihnen nie davon erzählt. Das stimmte. Ich hatte wohl nie verschwiegen, dass ich im Konzentrationslager war, aber das Grauen, das wollte ich meinen Kindern ersparen. Ich versprach ihnen, meine Geschichte aufzuschreiben. Das gelang mir erst Jahrzehnte später, in der Schweiz, wohin ich übersiedelt war.«

Nach Israel sei er gegangen, »weil ich ein Staatsbürger sein wollte. Mit allen bürgerlichen Rechten und in Freiheit. Diese Rechte gewährte mir der Staat Israel.« Das hatte seinen Preis. Es galt über Jahre ein »Gebot des Schweigens«. Der Aufbau des Staates sei wichtig gewesen, nicht die Vergangenheitsbewältigung. »Und manchmal sahen wir Überlebenden uns dem Vorwurf ausgesetzt, wir hätten uns nicht gewehrt. Wie hätte ich das tun sollen? Ich war auf dreißig Kilo abgemagert.« Erst der Prozess gegen Adolf Eichmann habe ein großes Umdenken bewirkt. Ein Schüler will wissen, ob es im Lager Freizeit gab. Graber antwortet kurz angebunden. »Nein. Es gab nur die Zwangsarbeit, den Tag und die Nacht. Und den Hunger.«

Ob er seine Jugend nachgeholt habe, möchte ein Schüler wissen. »Nein. Das war gar nicht möglich. Ich hatte nur sechs Jahre eine Schule besucht und musste später alles nachholen. Für anderes gab es gar keine Zeit. Ich hatte ein Ziel: ein normales Leben zu führen.« Er habe keine Jugend gehabt, und darum erzähle er der heutigen Jugend davon. »Die Jugend ist die Zukunft, und ich mag die jungen Leute. Ich wünsche mir, dass ihr es weiter erzählt.«

Ob man sich bei ihm entschuldigt habe, wird Graber gefragt. Seine Antwort ist unmissverständlich. »Offiziell nie, auch der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck, der mich zu einer Gedenkveranstaltung eingeladen hatte, entschuldigte sich nicht. Eine junge Frau bat mich um Entschuldigung. Ich wies sie zurecht. Sie habe damit nichts zu tun.«

Shlomo Graber hat die Shoa und die Zwangsarbeit als Jugendlicher überlebt. In seinem Buch Der Junge, der nicht hassen wollte legt er ein erschütterndes Zeugnis ab. Er lebt in Basel.

Ivan Lefkovits

»Du warst als Kind im Konzentrationslager? Das wusste ich nicht«

Gut und gern einen Regalmeter füllen die wissenschaftlichen Publikationen des Immunologen Ivan Lefkovits. Es ist sein Lebenswerk. Der ruhige, sich stets etwas zurückhaltend gebende Mann teilt sein Büro am Basler Institut für Immunologie seit Jahrzehnten mit einem Kollegen. Die beiden haben sich versprochen, dass jener, der zurückbleibt, die Bleistiftskizze des anderen an die Wand des kleinen Büros in der Basler Altstadt hängen wird. Dort reihen sich die anderen Fachkollegen, die den »unvermeidlichen Weg« schon gegangen sind.

In einem schmalen, 2016 erschienen Bändchen erzählt der 80-jährige aus seinem anderen Leben. Es trägt den Titel Bergen-Belsen. Vollendet – unvollendet und ist Teil der 15 Lebensgeschichten umfassenden Reihe »Mit meiner Vergangenheit lebe ich. Memoiren von Holocaust-Überlebenden«. Levkovits hat sie herausgegeben. »Du warst als Kind im Konzentrationslager? Das wusste ich nicht.« Ein Zürcher Kollege schrieb ihm eine E-Mail, nachdem er in einer internen Zeitschrift der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH davon gelesen hatte. »Ich wollte kein Mitleid, gerade in beruflichen Dingen nicht. Meine Leistungen sollten zählen. Und sonst nichts.« Und so schwieg Ivan Lefkovits über die schrecklichen Jahre als Kind mit seiner Mutter im Konzentrationslager, so wie er auch als Jugendlicher verstummte, wenn er in die Augen einer Freundin seiner Mutter sah, deren ganze Familie, auch ihr Sohn, der so alt war wie Ivan, in der Gaskammer ermordet worden war. »Sie war immer höflich, aber es schien mir, dass sie meinen Anblick nicht ertrug. Sie sah ihren Sohn in mir. Und so sprachen wir nie darüber, was geschehen war.« Die Kerzen an den Geburtstagen des Bruders, der ermordet worden war, und am Tag der Befreiung aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen brannten den ganzen Tag. »Diesen Tag beging meine Mutter noch während Jahren zwei Tage später, am 17. April, als wir nach elf Tagen erstmals wieder Wasser tranken und etwas aßen.« Das Unaussprechliche blieb auch bei dieser Gelegenheit ungesagt. Heute werde er bei Schulvorträgen gefragt, was schlimmer gewesen sei, der Hunger oder der Durst. »Das gehört eigentlich in den Biologieunterricht, aber solche Fragen zeigen mir, dass es unmöglich ist, zu begreifen, was damals geschah. Es geht mir, der ich dieses Grauen erlebt und überlebt habe, eigentlich nicht anders. Doch das darf nicht bedeuten, darüber zu schweigen.«

Ivan Lefkovits machte eine feine akademische Karriere. Er begann sie in der kommunistischen Tschechoslowakei und setzte sie später praktisch nahtlos fort, als er 1967 dem Land aus politischen Gründen für immer den Rücken kehrte. Er sei stets ein scharfer Kritiker des Sozialismus gewesen und habe mit dieser Meinung auch nie hinter dem Berg gehalten. Doch über die Shoa, von der er sein erschütterndes Zeugnis hätte ablegen können, schwieg er während Jahrzehnten. Sein glühender Antikommunismus habe es ihm leichter gemacht, den Mantel des Schweigens über die Verbrechen im nationalsozialistischen Deutschland zu legen. Er habe nie Rachegelüste gehabt. Auf der Rückfahrt aus dem Konzentrationslager durch das kriegszerstörte Deutschland in seine Heimat sei ihm bewusst geworden, dass die Gewalt auf deren Urheber zurückgeschlagen habe. Damit sollte es nun genug sein.

Bis sein 16-jähriger Sohn die Familie wachrüttelte: Das war 1978, als der US-amerikanische Vierteiler Holocaust auch im europäischen Fernsehen gezeigt wurde. Wie konnte es sein, dass ihr euch nicht gewehrt habt, euch einfach habt abschlachten lassen, habe sein Sohn die Großmutter gefragt. Da brach als erste Ivan Lefkovits’ Mutter ihr Schweigen. Sie schrieb in hohem Alter ihr Leben auf. Ihr Sohn sollte es ihr Jahre später gleichtun. Doch anders als seine Mutter, die wesentlich genauere Erinnerungen hatte als er, der sie als Siebenjähriger ins Konzentrationslager begleiten musste, widmete und widmet sich Lefkovits vielmehr dem Gedenken und der Frage nach Sühne, nach Schuld und nach Verantwortung. In Heidelberg brach eine Zuhörerin in Tränen aus, als er als Zeitzeuge auf einem Podium über das Konzentrationslager erzählte. Die Frau berichtete, sie habe in den Unterlagen ihres verstorbenen Großvaters gelesen, den sie als warmen, liebevollen Menschen sehr verehrt habe. Doch er sei als Wächter im KZ Bergen-Belsen tätig gewesen. Deshalb sei sie gekommen. Sie habe die Stimme eines Überlebenden hören wollen. Lefkovits sagte zu ihr, sie trage keinerlei persönliche Schuld, aber es sei gut, wenn sie sich mit den Opfern identifiziere. Sie solle ihren Weg gehen und die Geschichte ihres Großvaters loslassen. Andere bäten ihn um Verzeihung. »Ich verzeihe diesen Menschen dann, ihnen zuliebe. Aber es gibt nichts zu verzeihen. Sie sind unschuldig.« Schuld trügen vielmehr die Nationen, die an diesen Verbrechen beteiligt gewesen seien, namentlich die deutsche, aber auch all jene, die kollaboriert hätten. »Daraus erwächst eine historische Verantwortung, die leider nur Deutschland wahrnimmt.« Würde Ivan Lefkovits dem Großvater der Frau verzeihen, die als Enkelin mit Schuldgefühlen kämpft? »Das kann ich nicht sagen. Es hinge vom Grad seiner Schuld ab. Nach der Befreiung gab es in Bergen-Belsen einen sehr fair geführten Prozess. Es gab Todesurteile, Gefängnisstrafen und Freisprüche aus Mangel an Beweisen. Dieses Gericht hat bestraft, aber es hat keine Rache geübt.«

Ivan Lefkovits, Jahrgang 1937, lebt in Basel.

Monika Gyr

»Ein Kreis hat sich geschlossen«

»Es war um das Jahresende des Jahres 1946. Unser voll besetzter Zug war nach langer Fahrt in Basel eingetroffen. Wir waren alle Kinder aus Berlin, von Rotkreuz-Helferinnen abgeholt, um ein halbes Jahr in der Schweiz bei einer Gastfamilie zu verbringen. Kaum waren wir ausgestiegen, mussten wir uns nackt ausziehen und wurden in einen Duschraum geführt. Wir sollten uns waschen. Danach wurden wir genau unter die Lupe genommen, ob wir die gefürchtete Krätze hätten. Die Helferinnen achteten dabei sehr darauf, dass unsere Namensschilder nicht verwechselt wurden. Wie ich, das sechsjährige Mädchen, nach St. Gallen gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass mein Gastvater Ernst Fick mir sehr sympathisch war, während seine Frau Erika mir etwas Angst einjagte. Doch das legte sich.

Die Zeit verging wie im Flug, ich hatte kaum Heimweh, schon bei der Abreise in Berlin war ich voller Vorfreude gewesen. Ich lebte bei meiner Großmutter in einem hübschen Häuschen in einem Berliner Vorort, praktisch seit meiner Geburt. Meine Mutter war auch da, aber sie hatte kaum Zeit, sie musste arbeiten. Mein Vater war die ganzen Kriegsjahre an der Front. Ich hatte über ihn kaum eine Vorstellung, wusste nicht, wie er aussah oder wie er roch. Er war ein Fremder. Auch mein 1942 geborener Bruder wurde von Oma betreut. Von meiner Mutter sind mir aus diesen Jahren nur die langen Streitereien mit meiner Großmutter in Erinnerung geblieben, die nicht für unsere Ohren bestimmt waren. Aber wir lebten auf engem Raum. In den Kriegsjahren ging es uns vergleichsweise gut, wir hatten dank unseres Gartens genug zu essen, und die von den schweren Erschütterungen der Bombardements geprägten vielen Stunden im Keller verbrachte ich auf Omas Schoß. Mein Bruder quietschte fröhlich, wenn Wände und Decken zitterten. Dabei hatten wir noch Glück. Die Bomber zielten auf das Feuerwehrhaus in dem Vorort, in dem wir lebten. Berlin, das ich trotz der kurzen Entfernung kaum kannte, wurde viel heftiger bombardiert.

Nach dem Krieg wurde es schwieriger. Es fehlte an allem, vor allem aber an Nahrung. Ich weiß nicht, ob wir über die Runden gekommen wären, hätten uns nicht regelmäßig Pakete mit Lebensmitteln aus der Schweiz erreicht. Die Familie Fick aus St. Gallen schickte sie. Sie hatten uns nicht vergessen aus der Zeit der Vorkriegsjahre, als der Textilkaufmann Ernst Fick regelmäßig in Berlin weilte und dabei an einem Badesee Bekanntschaft mit meiner Mutter schloss. Er hatte sich in sie verguckt, machte ihr aber keine Avancen, als er erfuhr, dass sie schon in festen Händen war. Sie wurden Freunde, und Ernst Fick ging bei ihr und meiner Oma ein und aus, wenn er in Berlin war. Er unterstützte jüdische Familien, deren Schmuck und Wertgegenstände er in die sichere Schweiz brachte. Oma und er musizierten gerne zusammen. Im Krieg riss dieser Kontakt gezwungenermaßen ab. Als Fick nach dem Krieg vorschlug, er nehme mich und meinen Bruder für je ein halbes Jahr in die Schweiz auf, schlugen Mutter und Großmutter rasch ein. Es ging uns sehr schlecht, der Alltag war zum Überlebenskampf geworden, auch Vater war damals noch in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Die Eltern waren schon geschieden. So kam ich für ein halbes Jahr in die Schweiz, und als ein Jahr daraus wurde, machte es mir gar nichts aus.

Ich war wohlbehütet in einer kinderlosen, wohlhabenden Familie. Meine Mutter sei schwer krank, sagte man mir, und kurz darauf wurde mir mitgeteilt, sie sei gestorben. Da war ich sieben Jahre alt. Es vergingen nochmals sieben Jahre, ehe ich erfuhr, dass sie sich das Leben genommen hatte, wohl aus Liebeskummer. Ihr Arbeitgeber, ein Zahnarzt, in den sie sich verliebt hatte, erfüllte das Versprechen seines besten Freundes, dessen Frau zu heiraten, sollte er umkommen. So war das damals. Man arrangierte sich, und manche, wie meine zu depressiven Schüben und Hysterie neigende 27-jährige Mutter, blieben auf der Strecke. So lebte ich, als ich aus der Schweiz zurückkam, bei meiner Großmutter, und es war die glücklichste Zeit meines Lebens. Mein Bruder war nun dran, er ging für ein Jahr in die Schweiz, und ich hatte Oma ganz für mich. Doch dieses Glück währte nur kurz, meine Oma starb, auch sie viel zu jung, sie war gerade fünfzig geworden. So kamen ich und mein Bruder zu meinem Vater nach Frankfurt in ein hartes, entbehrungsreiches Leben, wir hatten kaum Platz, mein Bruder schlief auf einem Schrank, ich in der Küche. Die Beziehung zu Vater und seiner Frau war schwierig.

Der Kontakt in die Schweiz blieb, die Ficks besuchten uns, und als Ernst Fick vorschlug, uns Kinder wieder für ein Jahr zu sich zu nehmen, wurde man sich rasch einig. Wir wurden nicht gefragt. Und so waren wir 1950 wieder in der Schweiz, im St. Galler Quartier St. Georgen, und wurden sofort eingeschult. Ich war zehn Jahre alt, mein Bruder acht. Wir lebten uns gut ein, und ich blieb, während mein Bruder nach einem Jahr nach Frankfurt zurückgeschickt wurde. Ich habe bis heute keine Ahnung, wie es möglich war, dass ich bleiben durfte. In den Unterlagen meines Pflegevaters, der mir zum Vater wurde, fand sich nichts dazu. Er muss sie irgendwann entsorgt haben. Man hatte sich wohl mit den Behörden arrangiert.

Ich verbrachte eine glückliche, sorgenfreie Jugend, es fehlte mir an nichts, und ich dachte keine Sekunde daran, nach Deutschland zurückzukehren. Ich habe einen Schweizer geheiratet, ich wurde Schweizer Staatsbürgerin. Wir lebten viele Jahre im Tessin und handelten mit Textilien. Kurz vor meiner Pensionierung kehrte ich allein nach St. Gallen zurück. Wir hatten uns getrennt. Der Kontakt zu meiner Familie in Deutschland war nie ganz abgerissen, aber er beschränkte sich auf das Wesentliche. Man telefonierte ab und zu und traf sich bei Gelegenheit. Als ich meinen Vater kurz vor seinem Tod in seinem 96. Lebensjahr nochmals sah, machte er mir Vorhaltungen, warum ich nicht zurückgekehrt sei, als ich volljährig wurde. Er hätte mir eine Karriere als Schauspielerin ermöglicht. Davon hatte er nie gesprochen. Ich verstand es als eine Art Reuebekenntnis, aber ich wäre auch nicht zurückgegangen, wenn er mich eingeladen hätte.

Ein Kreis hat sich geschlossen. Es war das Rote Kreuz gewesen, das mir meinen ersten Aufenthalt in der Schweiz ermöglicht hatte. Nun bin ich seit bald zwanzig Jahren ehrenamtlich als Fahrerin für das Rote Kreuz unterwegs. Ich bin zufrieden und dankbar. Schweizerin im Herzen bin ich dennoch nicht geworden, auch als Deutsche sehe ich mich nicht. Ich bin Europäerin.«

Monika Gyr, Jahrgang 1940, lebt in Gossau im Kanton St. Gallen.

Zweites Kapitel
Von 1950 bis in die Gegenwart
Ein langer Weg zu den Kinderrechten

Das Chaos des Zweiten Weltkriegs beraubte 13 Millionen Kinder ihrer Väter und, in kleinerer Zahl, auch Mütter – und ihrer Kindheit. In Polen waren es rund 1,1 Millionen, in Deutschland wurden 2,5 Millionen Halbwaisen und 100’000 Vollwaisen gezählt. Es gab viel mehr Waisenkinder als Familien, die bereit oder in der Lage gewesen wären, sie aufzunehmen. Um zu überleben, schlossen sie sich oftmals Banden an. Unzählige Kinder wurden unter teils entsetzlichen Bedingungen in Heime gesteckt. Der Schweizer Schriftsteller Walter Robert Corti erkannte früh, dass sich hier ein menschliches Drama abzeichnete. Im August 1944 skizzierte er in der Monatszeitschrift Du die Vision eines Dorfs »für die leidenden Kinder«. Er schrieb: »Tag und Nacht, zu jeder Stunde löschen die kleinen brot- und liebeshungrigen Lebensflammen aus. Von Angst, Krankheit und Verwahrlosung verfolgt, fallen sie in das Dunkel des Todes.« Und er forderte: »Diese Kinder sind zum größten Teil zu retten. Ihrer ein Riesenheer wartet auf unsere helfende Tat. Wir wollen helfen, und wir können helfen, möge jeder doch an seiner Stelle die Hilfe fördern und sie steigern.« Aus Militärbaracken, die nach dem Krieg nicht mehr gebraucht wurden, bauten sechshundert Freiwillige das Kinderdorf Pestalozzi in Trogen auf, wo Ende 1946 die ersten zweihundert Waisenkinder aus acht Nationen einzogen. Jeweils 16 bis 18 unter 13-Jährige der gleichen Nationalität lebten mit ihren Hauseltern, die aus ihrem Heimatland stammten, in einem Gebäude zusammen, wo sie bis zum Alter von zwölf Jahren in ihrer Muttersprache unterrichtet wurden. Danach wurde die Schule international, Deutsch die verbindende Sprache. Die Kinder wurden nach Abschluss ihrer Ausbildung in ihr Heimatland zurückgeschickt. Nur wenige Kinder der ersten Jahre blieben dauerhaft in der Schweiz.

Das Kinderdorf Pestalozzi war nicht die einzige Institution dieser Art. Basierend auf reformpädagogischen Überlegungen aus den USA und England, entstanden nach dem Krieg überall in Europa sogenannte Kinderrepubliken. Mit diesem Begriff sollte herausgestrichen werden, dass diese Institutionen über ein hohes Maß an Autonomie verfügten, was aus Sicht der betroffenen Jugendlichen folgerichtig war. Sie hatten zuvor eine Erwachsenenwelt erlebt, die komplett versagt hatte. Die Kinder waren seelisch und oft auch körperlich verletzt, aber notgedrungen sehr selbständig und erwachsen. Denn viele hatten gelernt, sich jahrelang durchzuschlagen.

Die Kinderrepubliken unterschieden sich voneinander. Mal war der Aufbau von Pfarrern initiiert und folglich religiös motiviert, mal waren sie politisch geprägt wie etwa die Kinderrepubliken der Falkenbewegung. Hatten sie vor dem Krieg neben der Beherbergung von Waisenkindern auch die Funktion von Ferienlagern – wo die Kinder entsprechend temporäre Bürger einer Kinderrepublik waren –, zählte nach dem Krieg das schiere Überleben. Bei der Gründung der Nachkriegs-Kinderrepubliken spielte neben Walter Corti die Reformpädagogin und Friedensaktivistin Elisabeth Rotten eine wichtige Rolle. Sie war nicht nur Mitbegründerin des Kinderdorfs Pestalozzi, sondern initiierte über die Schweizer Spende (Don Suisse) auch den Aufbau zahlreicher Kinderrepubliken im Ausland. In Trogen wurde 1948 die Internationale Konferenz der Direktoren von Kindergemeinschaften (FICE) gegründet, der die meisten Kinderrepubliken angehörten. Die Organisation hat heute ihren Sitz in Genf und widmet sich der Entwicklung von Qualitätsstandards bei der außerfamiliären Betreuung. Erwähnenswert sind die Kinderrepubliken in Spanien und Italien. 1956 gründete Padre Jesus Silva Méndez, der später der Befreiungstheologie nahestand, bei Ourense in Galizien die Ciudad de los Muchachos Benposta. Benposta wurde zu seiner großen Lebensaufgabe. Hier wählten die Jugendlichen ihre Organe von Anfang an demokratisch – 22 Jahre bevor dies im Rest von Spanien möglich war. General Franco ließ die Institution gewähren, weil sie ihm soziale Probleme vom Hals hielt. Padre Silva und sein »verwahrloster Haufen Zigeuner- und Waisenkinder« wurden lange nicht ernstgenommen. Die Republik emittierte eine eigene Währung, die Corona, und baute eine Zirkusschule sowie den Circo Sol auf, der zu einem Exporterfolg und einer Einnahmequelle wurde. Die Jugendlichen traten vor vollen Sälen etwa im New Yorker Madison Square Garden auf, sie waren in Las Vegas und Tokio zu sehen, aber auch in den europäischen Metropolen. Kunstgrößen wie Salvador Dalí luden sie ein. In den verschiedensten Ländern, darunter Japan, Belgien, Kolumbien und Venezuela, entstanden weitere Benpostas.

In Italien gab es in den 1950er Jahren zwanzig Kinderrepubliken. Einige waren eher herkömmliche Kinderdörfer, andere entwickelten demokratische Ansätze der Selbstverwaltung, wie etwa das Dorf, das der Priester Don Guido in der Nähe von Pescara aufbaute. Am Weihnachtsabend 1945 fand er in einer zerstörten Kaserne eine Bande von zwanzig elenden und frierenden Jungen. Er besorgte Kleidung und Essen, und gemeinsam machten sie das Gebäude bewohnbar. Mit jedem Tag wuchs die Anzahl der Jugendlichen. Dann beschlossen sie, ein ganzes Dorf aufzubauen, dem sie eine demokratische Struktur gaben. Um die Finanzierung zu sichern, organisierte Don Guido mit dem 15-jährigen Jungen-Bürgermeister internationale Hilfe. Auch die Schweiz schickte Baumaterial. Gemeinsam betrieben die Jungen eine Baugenossenschaft. Auf einer Vollversammlung mit 130 Jungbürgern wurden eine Regierung, Richter und Finanzverantwortliche gewählt.

Die bekannteste Kinderrepublik Italiens liegt vor den Toren Roms in Civitavecchia. Gegründet wurde sie in Rom vom Iren John Patrick Caroll-Abbing, einem Kardinalssekretär, der im kirchlichen Auftrag eine Reihe von Projekten initiierte. Eine dieser von ihm gegründeten Hilfsorganisationen war die Opera per il Ragazzo della Strada, die allein in Italien 180’000 Straßenkinder nährte und kleidete. Er motivierte die Jugendlichen, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, und sorgte seinerseits für Beschäftigung und Struktur im Tagesablauf. Sie kochten, sorgten für Ordnung und begannen sich als familienähnliche Gemeinschaft zu begreifen. Diese begann in einer Kellerwohnung, die sie ironisch Shoeshine-Hotel nannten – in Anspielung an ihre Tätigkeit als Schuhputzer. Als der Keller zu eng wurde, kaufte John Patrick Caroll-Abbing mit Geldern eines amerikanischen Hilfswerks zwei heruntergekommene Häuser, wo schon Ende Oktober 1945 die ersten Jungen einzogen. Gleichzeitig stellte die Schweizer Hilfsorganisation Don Suisse 25 vorfabrizierte Häuser inklusive Einrichtung zur Verfügung. Sie wurden ganz in der Nähe in Santa Marinella aufgestellt. Während das Shoeshine-Hotel von Salesianern weitergeführt wurde, entwickelten sich die beiden Standorte in Civitavecchia zu einer Kinderrepublik.

Es gibt noch heute eine Città dei Ragazzi und eine Città dei Ragazze, also für Buben und Mädchen. Die Kinderrepublik hat sich weiterentwickelt: Für 15- bis 20-Jährige gibt es die Città Industriale. Sie besteht aus vier Wohnhäusern, einem Versammlungsraum, einem Basar, einer Bank, einem Stadtrestaurant und diversen Sportanlagen. Auch die kleinere Città Giardino, die ebenfalls älteren Jugendlichen eine Heimat bietet, ist gut ausgerüstet. Die Jungen sind nicht nur zum reinen Vergnügen in dieser selbstverwalteten Struktur. Sie werden auf die Arbeitswelt und den Übertritt in die reale Gesellschaft vorbereitet. In Begleitung von Fachleuten lernen sie im eigenen Garten und dem Bauernhof landwirtschaftliches Arbeiten. In einer alten Dorfküche wurde eine Pizzeria eingerichtet. Die Jugendlichen können sich so quasi unter Laborbedingungen auf den schwierigen italienischen Arbeitsmarkt vorbereiten.

Kinderrepubliken sind dort ein Bedürfnis, wo es an staatlichen Institutionen fehlt und viele Kinder ohne Eltern sind. Das ist vor allem in Kriegsgebieten der Fall. Weil es aber seit sieben Jahrzehnten in Westeuropa keinen Krieg mehr gegeben hat, wurden die meisten Kinderrepubliken aufgelöst. Obwohl Benposta in Spanien von einem katholischen Geistlichen geleitet wurde, stand dort die einzige Moschee weit und breit. Toleranz, Friedfertigkeit, Gleichwertigkeit, Großzügigkeit und Menschlichkeit gehörten in den meisten Kinderrepubliken zu den pädagogischen Prinzipien. Und vor allem: der Respekt vor der Menschenwürde und dem Kinderwillen. Insofern sind sie noch heute ein Vorbild. Trotzdem steht das Ende Benpostas stellvertretend für andere Kinderrepubliken. Die modernen Staaten verlangen die Einhaltung von Lehrplänen, machen Kontrollen und Vorschriften. Das verträgt sich nicht mehr mit dem pionierhaften Charakter, den die Kinderrepubliken aus ihrer Gründerzeit mitgenommen haben. Immerhin: Die Kinderrepublik in Civitavecchia gibt es noch, und sie hat sich unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen geöffnet. Auch das Kinderdorf Pestalozzi gibt es bis heute. In den 1960er Jahren wurde der Kreis der aufgenommenen Kinder auf Asien, namentlich Tibet und Afrika, erweitert. 1992 wurden für zwei Jahre zum letzten Mal Kriegskinder aus Bosnien-Herzegowina aufgenommen. Das Kinderdorf widmete sich danach vor allem der interkulturellen Kommunikation und der Integration. Dazu zählen auch Erholungsaufenthalte für Kinder aus Krisengebieten. 2014 wurde mangels Nachfrage die letzte Wohngruppe aufgelöst und die Schule geschlossen. 2016 wurden zwei Wohnhäuser dem Kanton Appenzell Ausserrhoden zur Verfügung gestellt, um bis zu 30 unbegleitete minderjährige Geflüchtete unterzubringen.

Die alliierte Zweckgemeinschaft, die Nazi-Deutschland besiegt hatte, brach schon wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg auseinander. Die in der Konferenz von Jalta im Februar 1945 vereinbarte Teilung Europas in Interessenssphären der Sowjetunion und der westlichen Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich hatten nach und nach zu harten, zunehmend unüberbrückbaren Grenzen geführt, an denen die Ideologien der Supermächte USA und UdSSR aufeinanderprallten. Ein Eiserner Vorhang ging nieder. Der Kalte Krieg begann im Juni 1948 mit der fast ein Jahr dauernden Blockade West-Berlins durch die Sowjets. Schon sehr bald sollten regionale, von den Supermächten befeuerte Konflikte für neues Flüchtlingselend sorgen. Doch das Grauen des Weltkriegs hatte auch die Einsicht genährt, mit internationalen Abkommen Flüchtlingen einen Status zu gewähren, der es ihnen ersparte, als Staatenlose auf Gedeih und Verderb vom Goodwill des Gastlands abhängig zu sein. Die 1951 von 19 Signaturstaaten beschlossene, 1954 in Kraft getretene Genfer Flüchtlingskonvention schuf erstmals einen völkerrechtlichen Rahmen und definierte einen Flüchtlingsbegriff, der bis heute für die inzwischen 146 beigetretenen Staaten gilt. Die Schweiz ratifizierte die Konvention 1955. Sie galt damals ausschließlich für Europa und hatte die aus der sowjetischen Einflusszone Geflüchteten im Blick. 1967 wurde der Geltungsbereich auf die ganze Welt ausgeweitet.

Die Situation geflüchteter Kinder war jedoch ein blinder Fleck in der Flüchtlingskonvention. Dabei hatte bereits der Völkerbund, die Vorläuferorganisation der UNO, 1924 in der rechtlich unverbindlichen Genfer Erklärung festgehalten: »Die Menschheit ist ihren Kindern das Beste, was sie zu bieten hat, schuldig.« Betont wurde dabei das Recht auf Entwicklung, Fürsorge, Unterstützung und Schutz. Mit der Auflösung des Völkerbunds 1946 verlor das Dokument seine Wirksamkeit. Mit der – rechtlich ebenfalls unverbindlichen – Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurde 1948 die Schutzbedürftigkeit von Kindern indirekt anerkannt. In Artikel 25 Absatz 2 heißt es: »Mütter und Kinder haben Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung. Alle Kinder, eheliche wie außereheliche, genießen den gleichen sozialen Schutz.« Wie dieser gewährleistet werden sollte, blieb den Vertragsstaaten überlassen. In Artikel 26 wird das universelle Recht auf eine unentgeltliche Bildung postuliert. Doch die Genfer Erklärung ging nicht vergessen. Die 1946 gegründete UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, trieb eine Neuauflage voran, die von der Generalversammlung 1959 als »Erklärung der Rechte des Kindes« verabschiedet wurde. Darin heißt es in Artikel 2: »Das Kind genießt besonderen Schutz und erhält kraft Gesetzes oder durch andere Mittel Chancen und Erleichterungen, sodass es sich körperlich, geistig, moralisch, seelisch und gesellschaftlich gesund und normal und in Freiheit und Würde entwickeln kann. Bei der Einführung von Gesetzen zu diesem Zweck sind die Interessen des Kindes ausschlaggebend.« Die Erklärung blieb rechtlich unverbindlich, und für die Schweiz, die damals noch kein Mitglied der Vereinten Nationen war, galt noch nicht einmal dies. Es sollten noch einmal dreißig Jahre vergehen, bis die Vereinten Nationen mit der Kinderrechtskonvention einen völkerrechtlich verbindlichen Rahmen schufen.

In der Schweiz der 1950er Jahre vollzog der für die Asylgewährung nach wie vor allein zuständige Bundesrat einen allmählichen Kurswechsel. Mit der Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtete sich die Schweiz, politische Flüchtlinge innerhalb Europas aufzunehmen. Als sowjetische Truppen im November 1956 die ungarische Reformregierung stürzten und ein Marionettenregime installierten, flohen 200’000 Menschen aus dem Land. Eine Solidaritätswelle schwappte durch die Schweiz. Mitte November trafen die ersten Züge mit 4000 ungarischen Flüchtlingen, unter ihnen sehr viele junge Leute, an der Grenze in Buchs ein. Sie waren vom Roten Kreuz aus österreichischen Lagern abgeholt worden, wurden ohne individuelles Verfahren als politische Flüchtlinge anerkannt und in Gruppen von 50 bis 100 Personen auf die Kantone verteilt. Dort kümmerten sich Gemeinden, Kirchen und verschiedene Hilfsorganisationen um sie. Die Eidgenossenschaft leistete Finanzhilfen. 565 Studenten erhielten unbürokratisch Studienplätze an den Hochschulen. Doch die Schweizer Willkommenskultur zeigte schon bald Risse. Die 6000 ungarischen Flüchtlinge, die Ende November 1956 empfangen wurden, erhielten nur noch eine »vorübergehende« Aufnahme. Sie sollten, wie im Zweiten Weltkrieg, in ein anderes Land weiterreisen. Um ihre Betreuung kümmerte sich die Armee, die sie in Kollektivunterkünften in Kasernen unterbrachte. Über 5000 Ungarn reisten schliesslich wieder aus, 7000 blieben in der Schweiz. Sie integrierten sich weitgehend problemlos. Valéria Stichnothe-Szilágyi war mit sechzehn Jahren mit ihrem Vater, einem während acht Jahren inhaftierten, liberalen Aktivisten, in die Schweiz geflohen, wo er sich kurz danach das Leben nahm. Ihre schwerkranke Mutter blieb in Ungarn. Sie kam bei einer Gastfamilie im Toggenburg unter, »nette Menschen«, wie sich die inzwischen verstorbene Stichnothe-Szilágyi (die Schwiegermutter des Autors) erinnerte. »Es ging ihnen nicht ums Geld. Aber sie zeigten uns schon, dass wir anders waren. Als ich einmal eine politische Bemerkung machte, sagten sie, ich soll still sein, ich sei schließlich keine Schweizerin.« Sie blieb bis an ihr Lebensende überzeugte Europäerin.

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