Kitabı oku: «Westend 17», sayfa 3

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03 Arslan hatte fast die ganze Nacht kein Auge zugetan. Wieder einmal. Nicht nur, dass ständig Züge vorbeirumpelten, es waren vor allem die Ratten, die ihn nicht schlafen ließen. Er hatte sie gesehen. So groß und fett, wie er sich Ratten immer vorgestellt hatte, waren sie zwar nicht, aber dennoch. Und so viele waren es auch nicht. Aber es reichten schon die zwei, drei, die er gesehen hatte. Vielleicht war es auch nur eine einzige gewesen, die mehrfach vorbeigekommen war. Aber Arslan verdrängte den Gedanken. Wo zwei, drei waren, waren bestimmt auch zwanzig, dreißig. Arslan fürchtete sich davor, einzuschlafen und dann von den Tieren angeknabbert zu werden. Zwar hatte ihm Tayfun versichert, das sei nur Geschwätz, denn Ratten würden vor Menschen Angst haben, doch was wusste Tayfun schon. Der musste ja nicht in einem selbst gebastelten Zelt an einem Bahndamm übernachten. Nein, Tayfun hatte weiterhin sein warmes, weiches Bett und ein Dach über dem Kopf.

Und dann die ständige Angst, entdeckt zu werden. Was, wenn jemand kommen würde mitten in der Nacht? Was, wenn ein Obdachloser ihm diesen Platz streitig machen würde? Neben seinem Zelt stand ein leeres, backsteinernes Bahnwärterhäuschen, oder was das auch immer früher gewesen sein sollte. Eingeschlagene Fensterscheiben, bröckelnder Putz und Graffiti. Arslan hatte sich zuerst darin sein Nest einrichten wollen, doch dann die Spuren von mehr als einem anderen Bewohner gefunden. Faulige Matratzen, Müll und kaputte Schlafsäcke. Zwar war in den beiden letzten Nächten niemand aufgetaucht, dennoch wollte Arslan mögliche Scherereien um den Schlafplatz vermeiden und hatte sein Zelt aus alten blauen Planen hinter dem Häuschen aufgestellt. Zuvor hatte er die Umgebung genau abgesucht, um nicht zufällig in die Exkremente seiner Vorgänger zu treten oder sich sich darin zu betten.

Arslan hasste das Gedankenkarussell, das ihn wach hielt.

Und dann auch noch dieses Geschrei. Es kam immer wieder vor, dass die Betrunkenen unten an der Straße herumgrölten oder sich lautstark verabschiedeten, wenn sie aus der »Zur Gruam« getorkelt kamen. Arslan kannte die Kneipe gut. Er war hier auch schon mehr als einmal abgestürzt. Doch nun machten ihm die Stimmen Angst. Vor allem, da es sich offenkundig um eine Frauenstimme handelte, die nun laut um Hilfe rief. Und die Stimme kam näher! Das bedeutete, dass diese Frau (und womöglich Männer, die sie bedrohten) die kleine Mauer unten an der Thalkirchner Straße hochgeklettert war und nun den Trampelpfad hinauf zu den Gleisen folgte.

»Verpiss dich!«, schrie die Frauenstimme. »Lass mich los! Nein!«

»Stell dich nicht so an!«, brüllte eine Männerstimme.

»Nein! Du tust mir weh! … Du Scheißarsch! Nein!«

»Halt endlich deine blöde … Aaaarghhh … Scheißdrecksschlampe! Das wirst du büßen!«

»Nein!«

Arslan hörte das Getrappel der Schritte, hörte zurückschnalzende Zweige, hörte die Schläge und das Reißen von Stoff. Und die Frau schrie immer nur »Nein!«. Schließlich hielt es Arslan nicht mehr aus. Er befreite sich aus seinem Schlafsack, schlüpfte in seine Schuhe und krabbelte aus dem Zelt. Er spähte um die Ecke des Bahnwärterhäuschens und sah im fahlen Morgenlicht einen Mann und eine Frau zwischen den Büschen im Clinch. Sie waren beide jung, höchstens Anfang zwanzig. Er zerrte an ihrer dünnen Sommerjacke, die nur noch in Fetzen an ihr hing. Sie schlug und trat nach ihm, verfehlte ihn aber meist. Beide hatten erhebliche Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten, weil sie betrunken oder auf Droge oder beides waren. Schließlich warf er sich auf sie und zerriss endgültig ihre Jacke. Er drückte ihr seinen Ellbogen auf die Kehle und keuchte: »So, du Dreckstück, jetzt kriegst dus!« Er kniete breitbeinig über ihr.

Arslan sprintete von hinten heran und trat dem Kerl mit Schwung zwischen die Beine. Vor Schmerz jaulend wälzte sich der Mann zur Seite und presste die Hände in den Schritt. Arslan trat ihm in den Magen.

»Ey, was soll der Scheiß!«, quiekte der Kerl, Sabber lief ihm aus dem Mund.

»Lass die Frau in Ruhe«, sagte Arslan laut und bestimmt.

»Ey, das geht dich doch gar nix an«, wimmerte der Kerl. »Scheiße, tut das weh.« Mühsam robbte er herum und versuchte, auf die Beine zu kommen.

»Verpiss dich«, sagte Arslan und gab dem Kerl, der schwankend zum Stehen gekommen war, einen Schubs, dass der vornüber in den nächsten Busch kippte und schließlich den kleinen Abhang hinunter zur Thalkirchner Straße kullerte.

»Bist du okay?«, fragte Arslan besorgt die junge Frau, die sich aufgesetzt hatte und zitternd ihre Knie mit den Armen umschlang.

»Hab dich nicht gebeten, mir zu helfen, oder?«, giftete sie am ganzen Leib schlotternd.

Arslan runzelte die Stirn. »Äh, ’tschuldigung? Hab ich da was missverstanden?«

»Allerdings«, raunzte sie und strich sich die rosa gefärbten Haare aus dem Gesicht. Sie hatte ein Lippenpiercing, an dem sie hektisch herumkaute.

»Der Scheißkerl wollte dich vergewaltigen«, sagte Arslan, fassungslos über ihre Reaktion.

»Ach der!« Sie winkte ab und versuchte ihr Zittern unter Kontrolle zu kriegen. »Mein Ex. Mit dem wäre ich schon fertig geworden.«

»Sah nicht danach aus.«

»Was geht dich das denn an?« Das Mädchen sprang auf.

»Entschuldige bitte, dass ich dich gerettet habe!«

»Du mich gerettet?« Sie lachte bitter. »Klar. Danke. Du mich gerettet!«

»Wenn das so ein krankes Spielchen von euch ist, wenn ihr diese Gewaltnummer als Kick braucht, dann kannst du mir echt leidtun.« Arslan wandte sich ab und stapfte zu seinem Zelt zurück. »Schönes Leben noch.«

»Ey, jetzt sei doch nicht gleich sauer«, rief das Mädchen mit den rosa Haaren und lief ihm nach. »Warte doch mal.« Sie holte ihn ein. »Mein Ex ist ein Arsch, und danke, dass du mir geholfen hast. Aber der hätte mir nichts getan. Ehrlich. Wir sind nur besoffen.«

»Okay«, sagte Arslan.

»Wie heißt du?«

»Nnnääh … Arslan.«

»Da musst du nachdenken? Oder weißt du das nicht so genau?«

»Arslan.«

»Krass. So heißt doch der Löwe in den ›Chroniken von Narnia‹.«

»Der heißt Aslan ohne r.«

»Ach?«

»Ja, klingt ganz ähnlich. Ist wohl Absicht, denn Arslan heißt Löwe!«

»Echt? Ich bin Kiki. Eigentlich Kirsten, aber das ist ein Scheißname.« Sie deutete auf das improvisierte Zelt aus blauen Plastikplanen hinter dem Bahnwärterhäuschen. Ihre Arme waren übersät mit blauen Flecken – und Arslan war sich sicher, dass er auch Einstiche sah. »Wohnst du hier? Krass!« Sie bückte sich und schielte in das Zelt hinein. Dann lief sie zum Backsteinhaus und sah durch die zerschlagenen Fenster hinein. »Krass!«, rief sie wieder. »Da wohnen bestimmt Illegale, oder?«

»Kann sein«, sagte Arslan.

»Bist du auch illegal?«

»Nein!« Arslan zögerte. »Und ich bin eigentlich auch nicht obdachlos.«

»Schon klar.« Kiki lachte. »Eigentlich. Ne, ne, Mössjöh ist eigentlich nicht obdachlos. Riecht nur so.«

Betreten schnüffelte Arslan an seinen Klamotten und unter seinen Achseln. Sie hatte so was von recht. Und das, obwohl er fast jeden Tag ins Schyrenbad drüben in Untergiesing ging und sich dort duschte. »Bin echt nicht obdachlos!«

»Und warum übernachtest du dann hier auf einem Bahndamm. Weil du schon immer mal mit Aussicht auf die Großmarkthalle pennen wolltest?«

Arslan setzte sich auf den Erdboden und sah hinüber zur Großmarkthalle. »Ich brauche gerade ein bisschen Abstand. Von allem.«

»Kenn ich! Brauch ich auch manchmal.« Kiki setzte sich neben ihn und zündete sich eine Zigarette an. Auch sie roch obdachlos. »Auch eine?« Arslan nahm an. »Und? Was machen wir jetzt?«

»Ich weiß nicht, was du machst, aber ich treff mich bald mit einem Freund.«

»Ja klar!«, sagte Kiki spöttisch und blies zwei Rauchringe zu Arslan.

»Ist so. Bald macht vorne an der Lindwurmstraße der erste Bäcker auf, da treff ich mich mit meinem Freund auf nen Kaffee.«

»Hast du Geld? Ich komm mit.«

»Nein. Denk nicht mal dran.«

»Bist du Türke?«

»Nein, ich bin Deutscher.«

»Klar, sieht man sofort, Spacko.« Sie lachte. »Tippe eigentlich fast schon auf Araber oder Ägypter oder so.«

»Spinnst du? Ich bin doch kein Araber! Meine Eltern sind Türken, falls du das meinst.«

»Alles klar.« Kiki schnippte ihre nicht einmal halb gerauchte Zigarette in einem hohen Bogen weg und zündete sich eine neue an. »Dein türkisches Machogehabe kannst du dir bei mir auf jeden Fall sparen. Ich mach, was ich will, Alter. Und wenn ich mit zum Bäcker will, dann will ich das eben.«

»Geh zum Bäcker, wann du willst und wo du willst. Aber du gehst nicht mit mir zum Bäcker.«

»Oh, jetzt aber! Machoarsch.«

»Leck mich.«

Sie begleitete ihn zum Bäcker in der Lindwurmstraße, der schon um halb sieben aufmachte. Ein paar Frühaufsteher lehnten schon an den Stehtischen und schlürften Kaffee. Weil Tayfun noch nicht da war, spendierte Arslan Kiki einen Cappuccino zum Mitnehmen und eine Butterbreze. Zu seinem Erstaunen wurde er sie damit tatsächlich los. Sie biss herzhaft in die Breze, zwinkerte ihm zu und flitzte davon.

Als es sieben Uhr war und die Bäckerei sich richtig füllte, bekam Arslan eine Nachricht von Tayfun auf sein Handy: »Sorry, schaffs net, was dazwischengekommen, melde mich später. T.«

Arslan konnte sich gut vorstellen, was dazwischengekommen war. Besser gesagt: wer. Sie hieß Saida. Saida war Tayfuns »Hase«, wie er immer zu sagen pflegte. Wobei sich Arslan gar nicht so sicher war, dass das Saida auch so sah.

Arslan bestellte sich noch einen Latte zum Mitnehmen und eine kalte Leberkässemmel. Wenn er etwas in München lieben gelernt hatte, dann Leberkässemmeln, ob warm oder kalt. Dann trottete er zu seinem Versteck zurück. Als er am Zelt ankam, musste er feststellen, dass sein Rucksack mit seinen Klamotten weg war. Arslan streckte sich, ballte die Fäuste und brüllte aus Leibeskräften. Ein vorbeiratternder Güterzug verschluckte den Schrei.

04 Pfeffer ließ einen Espresso aus seiner chromblitzenden High-Tech-Espressomaschine, die er sich extra aus Italien hatte kommen lassen. Niemand außer ihm durfte sie auch nur anfassen. Außer vielleicht Bella Scholz, aber selbst die nur, wenn es unbedingt sein musste. Als er sich auf den Stuhl setzte, richteten sich gierige Augenpaare auf seine kleine Tasse, die angenehmen Kaffeeduft verströmte. Die Augenpaare schauten anschließend enttäuscht in die Pappbecher mit Labberkaffee vom Automaten draußen im Flur.

»Gut«, begann Pfeffer. »Danke, dass ihr alle gekommen seid. Wie ihr wisst, soll es eine Soko geben. Eine kleine Soko, wohlgemerkt. Ich muss dazu allerdings sagen, dass das erst dann fix sein wird, wenn wir definitiv einen Selbstmord ausschließen können. Dazu erwarte ich bald die Ergebnisse aus der Rechtsmedizin. Es deutet aber bisher alles auf einen Mord hin, genauer gesagt auf eine Art Hinrichtung. Als ich oben an der Brücke war, konnten mir die Kollegen von der Spurensicherung bestätigen, dass niemand über die Absperrung geklettert sein kann. Ein Selbstmörder hätte das tun müssen. Es sind aber keine Spuren am Drahtgitter. Das Drahtgitter selbst ist auch nicht eingedellt, wie es sein müsste, wenn ein erwachsener Mann daraufgeklettert wäre. Es sieht also nach Mord aus.«

»Aber wie haben sie dann den Mann über die Absperrung bekommen, wenn sie nicht draufgeklettert sind?«, meldete sich die helle Männerstimme von Erdal Yusufoglu. Yusufoglu ins Team aufzunehmen, war Bella Scholz’ Idee gewesen. Pfeffer kannte den jungen Kollegen nicht wirklich gut, dazu war er zu neu, aber er machte seine Arbeit bisher recht flott und gewissenhaft.

»Das Seil war oben an einem der Stahlträger verknotet. Den Mann werden der oder die Täter dann wohl über die Absperrung geworfen haben.«

»Geworfen?«, flüsterte Kommissar Erdal Yusufoglu leicht schockiert.

»Das bedeutet«, sagte Bella Scholz, »unser Täter ist entweder sehr kräftig, oder es waren mehrere Täter.«

»Richtig. Tippe auf Letzteres. Unser Opfer ist, das können wir bereits mit Sicherheit sagen, ausländischer Herkunft«, fuhr Pfeffer fort.

»Woher wissen wir das?«, fragte Erdal Yusufoglu.

Pfeffer hielt ein Foto von der Leiche hoch. Kräftiger schwarzgrauer Schnurrbart, ein ebenso schwarzgrauer Haarkranz, dunkler Teint und buschige schwarze Augenbrauen.

»Okay«, sagte Kommissar Yusufoglu. »Schon klar. Dann bin ich also die Quote. Euer persönlicher Migrationshintergündler.«

»Bingo«, sagte Bella Scholz, und alle lachten.

»Wir wissen noch nicht, wer unser Opfer ist«, sagte Pfeffer. »Er hatte keine Papiere bei sich. Für mich hat momentan neben der Tätersuche alleroberste Priorität, wer unser Opfer ist. Gehen Sie die Vermisstendateien durch, München und Umgebung, dann bundesweit, dann von mir aus europaweit. Wenn Sie da nichts finden, dann vergleichen Sie bitte die Fingerabdrücke mit den entsprechenden Karteien. Sie werden im Wesentlichen Hauptkommissarin Scholz zuarbeiten, damit meine ich Sie, Herr Yusufoglu. Wer ist unser Toter?!« Pfeffer trank mit einem Zug seinen Espresso aus. »Und treiben Sie mir dann Zeugen auf, irgendjemand muss doch an so einer prominenten Stelle was beobachtet haben. Es kann mir keiner erzählen, dass die Hackerbrücke irgendwann mal völlig menschenleer ist.«

Es klopfte an Pfeffers Bürotür. Ohne ein »Herein« abzuwarten, platzte Kriminaldirektorin Jutta Staubwasser mit einem verbindlichen Lächeln um die Lippen herein. »Entschuldigen Sie, wenn ich störe«, sagte sie einen Tick zu fröhlich. »Ich bin auch gleich wieder weg. Ich wollte Ihnen nur schnell einen Kollegen vorstellen, der auf Bitten der Staatsanwaltschaft Teil der Soko sein wird.« Ein großer, schlacksiger Mann mit dramatischen Geheimratsecken betrat den Raum. »Ich glaube, Sie kennen sich zum Teil bereits. Hauptkommissar Paul Freudensprung vom LKA. Wie gesagt, ich wollte nicht stören und bin auch schon wieder weg.« Die Kriminaldirektorin verließ den Raum.

»Ach, der Gaudi«, entfuhr es Bella Scholz. Sie kannte den Kollegen von früher, als er noch ihr Kollege war. Alle hatte seinen Nachnamen zu Gaudihupf verballhornt, kurz Gaudi. Einen Spitznamen, den Paul Freudensprung nicht sehr mochte, mit dem er aber zu leben gelernt hatte. Widerstand dagegen war zwecklos. Außerdem, das wussten im Büro auch fast alle, war Gaudi eine Zeit lang quasi Bellas Schwager gewesen. Damals war Bella Scholz mit Levent Demir liiert gewesen, dem bekannten Schauspieler und Tatort-Kommissar – und außerdem Bruder von Paul Freudensprungs Frau Aische, geborene Demir. Bella und Levent hatten sich über Paul und Aische kennengelernt und verliebt. Von Levent Demir hatte Bella Scholz auch ihr erstes Kind. Nur Levent Demir hatte sie nicht mehr.

»Auf ein Wort, Frau Staubwasser.« Max Pfeffer folgte seiner Chefin in den Flur und zog die Tür hinter sich zu.

»Hatten Sie nicht mir die Anweisung gegeben, eine Soko zusammenzustellen?«, fragte er.

Jutta Staubwasser, die ohnehin eine gewisse Ähnlichkeit mit Angela Merkel hatte, zog ihre Mundwinkel nach unten, was sie der Bundeskanzlerin optisch sehr nahebrachte. Ihre Augen suchten Halt an einem Punkt irgendwo hinter Max Pfeffers rechter Schulter. Wenn sie sich nun in seinen kuscheligen Augen verlieren würde, was sie manchmal durchaus bewusst machte und genoss, würde sie nicht standhaft bleiben können. Sein Bart war für sie schon ein Kraftakt für sich, denn sie stand auf Männer mit Dreitage- oder kurzen, gepflegten Bärten. Dummerweise hatte Jutta Staubwasser das Max Pfeffer einmal erzählt, als sie noch nicht seine Chefin war und sich beide bei einer Weihnachtsfeier ziemlich angeschickert unterhalten hatten. »Ich weiß, Kollege Pfeffer, ich weiß. Aber was soll ich machen?«

»Mich machen lassen, Frau Staubwasser.«

»Jetzt sein Sie doch nicht so empfindlich, Kollege Pfeffer. Niemand will Ihre Kompetenz untergraben. Oberstaatsanwalt Bauer sieht es als essenziell an, dass wir in diesem Fall behördenübergreifend arbeiten und es dieses Mal mit der Kommunikation auch wirklich klappt. So ein Desaster wie bei den NSU-Morden können wir uns keinesfalls mehr leisten.«

»Wir haben einen Erhängten. Einen. Wir stehen noch ganz am Anfang der Ermittlungen, da brauchen wir keine künstlich konstruierten Parallelen zu einer Mordserie von rechten Terroristen. Ich habe wirklich nichts gegen den Kollegen Freudensprung. Im Gegenteil. Wenn Sie mir gesagt hätten, ich soll mir einen Kollegen vom LKA dazuholen, hätte ich ihn vermutlich ausgesucht.«

»Sehen Sie!« Die Kriminaldirektorin strahlte. »Da habe ich Ihnen einfach in der Entscheidung ein klein wenig vorgegriffen. Alles kein Drama, oder? Ich sehe, wir verstehen uns.« Sie tätschelte Max Pfeffer kurz den Arm. »Eine Frage noch: Hätten Sie ein Problem damit, wenn wir diesen Fall erst am kommenden Montag auf der Pressekonferenz vorstellen? Ich finde, wir haben angesichts der Umstände gute Gründe, den Fall zunächst unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu bearbeiten und nicht schon im Frühstadium der Ermittlungen schlafende Hunde zu wecken.«

»Mir solls recht sein«, antwortete Pfeffer. »Allerdings wissen wir nicht, wer der Tote ist und Zeugenaufrufe könnten uns …«

»Ab Montag, Kollege Pfeffer, ab Montag. Ehrlich gesagt, wäre mir Dienstag oder Mittwoch noch lieber …«

Max Pfeffer ahnte, was seiner Chefin Sorgen bereitete. »Ich hoffe auch, dass unsere Täter weder aus der rechten Szene noch aus dem Migrantenmilieu kommen.«

»Richtig. Die Öffentlichkeit wird uns nur dann halbwegs in Ruhe lassen, wenn die Täter Deutsche sind, die aus Geldgier oder Eifersucht oder so gehandelt haben. Drücken Sie uns die Daumen, Kollege. Ach, und danke, dass Sie das mit dem Sohn des Zweiten Bürgermeisters so gut hingekriegt haben«, sagte Jutta Staubwasser noch, bevor sie eilig davonrauschte.

Max Pfeffer hatte keinerlei Ahnung, was er wie und warum mit Benno Althaus hingekriegt haben sollte. Er hatte den Burschen wie jeden normalen Zeugen behandelt – und zu dessen eigenem Glück hatte der Junge nicht den Bürgermeistersohn heraushängen lassen.

»Servus, Gau…, Paul«, sagte Pfeffer, als er ins Büro zurückkam und klopfte seinem Kollegen vom LKA auf die Schulter. »Für die, die ihn noch nicht kennen, Paul Freudensprung war früher einmal ein Kollege hier bei der Kripo und in meinem Team.« Dass Paul und er auch privat Kontakt hatten, spielte hier keine Rolle. Richtig eng befreundet konnte man es eh nicht nennen. Max Pfeffer war kein Typ für enge Freundschaften. »Wir kennen uns also schon ein paar Jahre, ebenso Kollegin Scholz. Ich gehe also davon aus, dass wir gut und vertrauensvoll zusammenarbeiten werden.«

Das Telefon klingelte. Pfeffer sah auf das Display, dann hob er ab.

»Gerda«, sagte er und setzte sich auf die Schreibtischkante. »Das passt. Was gibt es von unserer Leiche?« Er schaltete auf Lautsprecher, damit alle mithören konnten.

»Sie gehört dir«, antwortete Gerda Pettenkofer am anderen Ende der Leitung. »Eindeutig kein Selbstmord. Er hat noch gelebt, als er das Seil um seinen Hals bekam. Tod durch Erhängen, also eine Fraktur des Dens axis …«

»Gerda! Bitte allgemeinverständlich!«

»Immer dasselbe mit euch ungebildetem Pack. So macht das keinen Spaß. Also.« Sie holte so dramatisch rasselnd Luft, dass nun auch der neue Kollege ahnte, dass die Rechtsmedizinerin schwere Kettenraucherin war. »Genickbruch, den der Ruck mit sich brachte. Es ist geradezu klassisch. Der Genickbruch hat durch die Verschiebung der Bruchstücke dieses Knochens die Medulla oblongata durchtrennt, die sowohl den Kreislauf als auch die Atmung reguliert. Verlängertes Rückenmark, für alle an diesem Telefongespräch beteiligten Nichtmediziner. Der Tote hatte eine postmortale Erektion mit Ejakulation. Passiert häufig beim Erhängen, wenn sie sich nicht vollbieseln und -kacken. Habt ihr mal nachgeschaut, ob unter ihm schon eine Alraune gewachsen ist?«

»Gerda, du faselst Unsinn«, seufzte Pfeffer.

»Mitnichten. Die Alraune wächst der Legende nach besonders gut unter Galgen, da sie vom Urin und Sperma der Erhängten lebt. Kann ich doch nix dafür, dass sich solche netzückenden Sagen um die Alraune ranken! Da an der Hackerbrücke müssten eh etliche solcher Pflanzen seit Urzeiten gedeihen, denn der kleine Hang dort an der Landsberger Straße war früher der Galgenberg … Ich merke schon, wie fasziniert du meinen Ausführungen lauschst.«

»Nein, nein«, sagte Pfeffer langsam. »Rede ruhig weiter. Wäre nur schön, wenn du zum Eigentlichen zurückkommen könntest.«

»Der oder die Täter müssen sich recht gut mit der Methode des Erhängens ausgekannt haben, denn der Strick ist so um die zwei Meter lang, also nicht zu lang, und nicht zu kurz.«

»Können Henkersstricke denn zu lang sein?«, fragte Pfeffer.

»Sicher. Wenn der Strick zu lang ist, wird in der Regel durch den Ruck der Kopf abgerissen. Ist das Seil zu kurz, wird dem Delinquenten nicht nur nicht das Genick gebrochen, er wird meist nicht einmal bewusstlos und strampelt sich langsam zu Tode. Das sieht man doch häufig in Western so. Diese Opfer können ja auch noch gerettet werden, wenns die Dramaturgie im Film will. Unser Opfer hatte also einen klassischen Henkerstod. Er hat zudem ein paar kleinere Hämatome am Nacken und am Hinterkopf. Er ist also geschlagen, vermutlich niedergeschlagen worden. Das klären wir noch.«

»Identität?«

»Da habe ich keine Ahnung. Beschnitten ist er. Die Fettschichten sind gelblich bis orange, also vermutlich Türke. Wahlweise vorderer Orient, Naher Osten.«

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