Kitabı oku: «SPES», sayfa 3
Handyamputation und Identitätskrisen
Ich muss mich waschen«, sagte Rocco mit seiner dunklen Stimme, als sie im Erdgeschoss des Reichstages angekommen waren.
»Es ist ein Reihenfolgeproblem«, erwiderte Jenny mit einer folgerichtigen Präzision, als ob sie über eine mathematische Aufgabe nachgedacht hätte. So kam es ihr auch wirklich vor. Als ob das Letzte, was sie damals getan hatte, das Lösen einer mathematischen Aufgabe gewesen wäre.
Auf dem Weg nach draußen gingen sie einfach durch Schlangen von Besuchern des Reichstages hindurch. Wenn sie schon ein Engel geworden war und nicht mehr Mensch sein durfte, war diese Eigenschaft zumindest sehr vorteilhaft. Nirgendwo mehr anstehen. Nur durchgehen. Klappte das immer? Mit einem Fetzen ihres Gedankens erinnerte sie sich an die steinerne Stele. Die Berührung hatte ein wenig weh getan.
»Reihenfolgeproblem?« Sie unterhielten sich inmitten der Menschen munter und niemand bekam davon etwas mit, keiner schien sie zu hören.
»Du kannst dich nicht waschen und dann wieder in diese Sachen springen. Wir brauchen erst eine Jeans und ein Shirt oder so etwas für dich. Dann kannst du dich waschen und die neuen Sachen anziehen«, erläuterte Jenny ihre Überlegung.
»Ah«, machte er. Solch profane Fragestellungen hatte immer seine Frau für ihn beantwortet und dann unternommen, was nötig war.
»Könnte ich mal Ihr Handy benutzen?«, fragte Jenny einen jungen Mann inmitten einer Besuchermenge im Erdgeschoss, der ziellos dastand, wohl zu einer Schülergruppe gehörte und gedankenverloren daddelte. Erst in diesem Moment, als sie sich auf den jungen Mann konzentrierte, fiel ihr auf, dass er merkwürdige Klamotten trug.
Ganz schwarz war er gekleidet, die Haare hochgegelt wie bei einem Irokesenschnitt. Er stach aus der Masse der Menschen hier heraus. Er wirkte wie ein Punk. Gab es Punks noch? Aber so ein richtiger Punk war er nicht, fand Jenny. Denn ein bisschen sah er auch aus wie ein Held aus ›Star-Wars‹, einer Serie, der sich Jenny mit Leidenschaft hingegeben hatte. Die Helden konnten von Sonnensystem zu Sonnensystem springen, sie beherrschten hervorragende Technologien, aber die Planeten, auf denen sie lebten, waren entweder ›High-End‹-gespickt mit merkwürdigen Abgründen oder sie waren so seltsam, primitiv, dass es sie bei dem Gedanken schauderte, dort leben zu müssen.
Doch nicht er, dieser Punk oder Nicht-Punk, war das Besondere, sondern die anderen. Er stach nur heraus, weil die anderen so merkwürdig uniform waren. Denn zahlreiche der Leute trugen so etwas wie Funktionskleidung: Die Hose über und über mit Taschen besetzt, die Jacke in derselben Farbe. Jenny sah sich um. Viele der Besucher hier trugen solche Kleidung, wenn auch in unterschiedlichen Farben. Es gab Leute, die Jeans anhatten und ein Shirt darüber. Und noch andere waren mit Röcken, Blusen, Hosen und Sakkos bekleidet, ganz normal, wie sie es kannte. Das waren aber nur ein paar und die wirkten älter als die Funktionskleidungsträger – nicht richtig alt, ihre Gesichter, ihre Körper waren zwar nicht jugendlich, aber eben nicht wirklich alt. Und doch kamen ihr die Gesichtszüge wie ein Fake vor, eine Täuschung ihres wahren Alters.
Der junge Mann blieb die richtige Wahl. Er war der Einzige in greifbarer Nähe, der auf den Bildschirm eines Smartphones starrte. Er hatte das Gerät gerade auseinandergefaltet und eingeschaltet, was Jenny etwas seltsam vorkam, denn faltbare Smartphones hatte sie noch nie gesehen. Doch es musste so etwas wie ein Smartphone sein, war sie sich sicher. Sie schaute Rocco fragend an, aber Rocco starrte auf das Ding, als sei es ein Ufo in der Hand des jungen Mannes.
Dieser blieb derweil unbeeindruckt von Jennys Ansprache. Er hörte sie nicht und er sah sie nicht. Von was sollte er beeindruckt sein? Von einem Nichts, das vor ihm stand? Wäre ja seltsam gewesen, wenn sie durch die Leute hindurchgehen konnte, diese sie aber dennoch sahen. Dann hätten Rocco und sie schon vorher reichlich erstaunte Blicke geerntet. Und trotzdem war es einen Versuch wert: Sie griff nach diesem Smartphone-Ding und bekam es tatsächlich zu fassen. Der junge Mann mit der angedeuteten Punkfrisur staunte nicht schlecht, als sein Smartphone für einen Moment regungslos in der Luft hing und dann spurlos verschwand. Er konnte sich nicht erklären, was passiert war. Hektisch suchte er auf dem Boden, aber dort war sein Smartphone nicht. Es war einfach weg. Und doch war es da. Jenny hielt es in ihrer Hand. Aber er entdeckte es nicht, in der Annahme, dass es ihm heruntergefallen war, starrte er suchend auf den Boden.
Jenny stand weiterhin direkt neben ihm und suchte Google auf dem Display, jeder hatte Google, und damit würde sie klarkommen, um zu finden, was sie brauchte. Aber Google fand sie nicht auf der Oberfläche. Überhaupt hatten fast alle Programme seltsam fremde Namen. Sie kam erst gar nicht zurecht. ›Commuelook‹ gab es, sie vermutete einen Nachfolger des ›Outlook.‹ ›Climate-Prognos‹ kannte sie noch nicht – aber es war klar, was sich dahinter verbarg. ›Guck an‹, dachte sie, als sie ›Vidtube‹ las, und: ›mal sehen, was ›Scribble‹ ist!‹ Scribble konnte passen. Eine Schmierskizze, etwas Dahingeschmiertes, schnell Eingegebenes, weil man etwas suchte, verband sie damit. ›Wobei‹, erinnerte sie sich, ›war das nicht ein Spiel, mit dem man irgendetwas zeichnete?‹ Sie versuchte es trotzdem und öffnete das Programm. Tatsächlich. Scribble gab ein Suchfeld frei und die Tastatur zeigte sich, so wie sie es von Google gewohnt war. Ob es Google nicht mehr gab? Oder, ob Scribble der Nachfolger war?
Jenny googelte ›Jeansladen‹, obwohl es nun vermutlich ›scribbeln‹ hieß. Ein Geschäft namens Weekday war nicht weit entfernt. Den Weg zur Friedrichstraße kannte sie. ›Scribble-Go-To‹ berechnete etwas mehr als zwei Kilometer. In etwa vierzehn Minuten zu erreichen. Scribble bot auch gleich die schnellste Route zu Fuß an, denn es schien erkannt zu haben, dass sie zu Fuß unterwegs waren. Bei ›Maps‹ wählte man, ob man sich mit dem Auto, dem Zug oder zu Fuß bewegte. Aber egal: die Route stand! Ein Klacks – und für einen Engel sowieso.
Sie merkte sich, die Paul-Löbe-Allee entlangzulaufen, und zwar in Richtung des Platzes der Republik, nach rechts abzubiegen, um zum Reichstagsufer zu kommen, um dann wieder nach rechts in die Friedrichstraße abzubiegen. Es war einfach. Scheinbar hatte sich hier nichts geändert. Die Straßennamen waren immer noch die, die sie kannte, auch wenn sich das Auftreten der Leute, die Technik und das Klima verändert zu haben schienen. Jenny fand das interessant. Und sie fragte sich, wie weit sie wohl in der Zukunft gelandet war.
Rocco stand an einer Sandsteinsäule gelehnt, dort, wo sie ihn abgestellt hatte. Hinter ihm klebte ein Plakat, das Jenny kaum beachtete. Ein weißer Untergrund und darauf nur vier Buchstaben in fetter roter Farbe: ›SPES.‹
Das war ja spannend, stellte sie für sich fest, als sie zu ihm trat. Obwohl sie Rocco nicht sahen, machten die meisten Menschen einen Bogen um ihn. Vielleicht ging etwas von ihm aus, das sie einen Abstand wahren ließen. Wahrscheinlich, so mutmaßte sie, war das sein durchdringender Geruch, den er verbreitete. Irgendetwas aus der Welt der Engel kam also doch bei den Menschen an. Jenny spürte eine kleine Hoffnung auf einen Weg zurück in die Welt der Lebenden.
Der junge Mann, dessen Smartphone sie geklaut hatte, hatte sich einige Meter entfernt. Doch er war sofort zu erkennen, denn die Hände des vermeintlichen Kopfgeldjägers aus Star-Wars gestikulierten wild einer Ordnungskraft gegenüber herum, seine Augen waren gerötet und er schien so abgrundtief verzweifelt, dass Jenny fast lachen musste, so lächerlich wirkte er, wäre er wirklich ein Kopfgeldjäger. Dabei war er doch gar nicht gestorben, nicht einmal verletzt, keine Gliedmaße war ihm im Reichstag abhandengekommen, obwohl er so am Boden zerstört wie nach einer Amputation wirkte. Seine linke Hand wies immer wieder auf seine rechte, die ja noch da war, aber die Verlängerung der rechten Hand fehlte. Dabei hatte er doch nur sein Smartphone verloren. – Na ja, sie hatte es ihm geklaut.
Sie sah Rocco an. Seine Augen waren in erstaunter Missbilligung weit offen und sein Blick klebte abschätzig auf dem jungen Mann. Als ob er sich festhalten musste, griff Rocco nach Jennys Arm.
»Was hat er für ein Problem? Sein Handy ist seit vielleicht zwei Minuten verschwunden! Er verhält sich, als ob er Mutter und Vater verloren hätte, nein schlimmer!« Rocco sah ihr in die Augen, doch sie war ebenso ratlos wie er und gab ihm keine Antwort. Stattdessen sandten ihre Augen ihm eine andere Botschaft, von der sie selbst nichts wusste. Da sah er Jenny ganz genau an, ohne selbst zu bemerken, wie er sie anstarrte. Er musterte sie: Schlank war sie und von mittlerer Größe, es war das erste Mal, dass ihm ihre braunen, wunderbar glänzenden langen Haare auffielen und ihre grünen Augen mit ein wenig Grau darin. Der Glanz ihrer Augen war ein weicher Glanz, ein empfindsamer Blick, ein feines Radar, um kleinste Impulse aufzunehmen. Ihre schmalen Lippen, die Entschiedenheit und Gewissheit ausstrahlten, ihre hohe Stirn, die ihm Intelligenz vermittelte, sie aber auch etwas kindlich wirken ließ. Wie alt sie wohl war – oder gewesen war?
»Ich muss es ihm wiedergeben. Er dreht sonst ganz durch!«, sagte Jenny schließlich, um dem Leiden des jungen Mannes ein Ende zu bereiten. Das aber war gar nicht so einfach. Er war nun in Tränen ausgebrochen und zappelte unkoordiniert suchend. ›Wo ist mein Handheld, wo ist mein Handheld?!‹, las Jenny aus seinen Gedanken.
Jenny stutzte. ›Warum heißt das Gerät Handheld?‹, fragte sie sich. Sie zögerte nun, ihm das Gerät zurückzugeben, und beschloss, noch schnell den Begriff ›Handheld‹ zu suchen. ›Europädia‹ las sie auf dem Startbildschirm, was wie ›Wikipedia‹ klang und etwas Ähnliches war, und sie gab ›Handheld‹ ein. Sie überflog den Text, fasste das Wichtigste zusammen und berichtete Rocco gleich, um was sich bei einem ›Handheld‹ handelte: Man sprach allgemein von ›Handhelds‹, weil sie mit einer Hand zu halten waren und alle Funktionen einhändig ausgeführt werden konnten. Doch das war nicht der wahre Grund. Der Begriff ›Smartphone‹ lag in seiner Bedeutung zu dicht bei ›Apple‹ und der angebissene Apfel war auch in der Technikwelt zum Sinnbild der Verführung geworden, nachdem Apple, saturiert, aber nicht mehr kreativ, vor zehn Jahren begonnen hatte, Minderjährigen Finanzierungsangebote für immer noch beneidenswertere Topmodelle eines Smartphones zu senden – was arme Familien mit mehreren Kindern in ernste Schwierigkeiten brachte, nachdem die Kinder das Angebot angenommen hatten und aus den Verträgen nicht mehr herauskamen. So hatte Apple ›Jobs‹ retten wollen, den Gründer und seinen Nimbus – nicht die Arbeitsplätze.
Rocco nickte nachdenklich, während sie referierte. Der arme junge Mann ohne Handheld saß zusammengekauert in der Hocke, er weinte hemmungslos. Die Ordnungskraft tippte Ziffern in ihr Handheld. Der Rettungsdienst, vermutete Rocco.
Jenny beschloss, ihn zu erlösen. ›Hier ist es‹, sagte sie ihm wortlos und hielt ihm das Handheld mit zwei Fingern entgegen, sodass es wieder in der Luft schwebte. Schlagartig richtete er sich auf und sah das Gerät ungläubig an. Gierig griff er danach und atmete erleichtert aus. Das so wichtige Körperteil war wieder angenäht.
›Wann waren zehn Jahre zuvor?‹, schoss Jenny plötzlich noch diese für sie wichtige Frage erschrocken durch ihren Kopf. Das Handheld zeigte ganz sicher das aktuelle Datum wie die Smartphones zu ihrer Zeit. Sie hatte einfach darüber hinweggesehen. Doch das Gerät war weg! Sie selbst hatte es zurückgegeben. Was für ein Mist! Jenny stampfte ihren Fuß, ihr Kreuz durchgedrückt, trotzig auf den Betonboden. Rocco legte seine Hand beruhigend auf ihre Schulter, auch wenn er nicht wusste, was sie aufregte.
Die Ordnungskraft steckte ihr eigenes Handheld ein und legte ihre Hand tröstend auf den Arm des jungen Mannes. »Sie haben es in einer Tasche gehabt, in Ihrer Thermo-Funktions-Scanner-Hose vielleicht«, versuchte sie den jungen Mann zu beruhigen, da sie offenbar nicht gesehen hatte, wie es zu ihm zurückgekommen war.
Doch er war geistesgegenwärtig. Schließlich hatte er sein Gehirn ja nun wieder. Er sah sich an, was zuletzt gescribbelt worden war. Das war ein Jeansladen, nicht weit weg. So etwas hatte er nicht gesucht. Hier ging etwas vor, das er sich nicht erklären konnte. Ratlos schüttelte er seinen Kopf. Er steckte das Handheld mit spitzen Fingern in seine Jackentasche, als ob es verseucht wäre. Jenny neigte ihn beobachtend ihren Kopf zur Seite. ›Vielleicht vermutet er fremde Krankheitserreger auf seinem Gerät?‹, dachte sie. So wie er das Gerät kaum berührt hatte, musste seine Angst vor Viren und Bakterien sehr ausgeprägt sein. Ob diese Angst auch zu dieser Zeit gehörte?
Jenny machte sich mit Rocco auf den Weg. Langsam wurde es unerträglich heiß in Berlin. Sie hatte also ihre Körperlichkeit nicht ganz verloren, denn sie spürte die Hitze und sie schwitzte. Ein beruhigendes Gefühl. Es musste ein besonderer Sommer sein.
»Du kannst da nicht rein!«, erklärte sie ihm, als sie vor dem Jeansladen angekommen waren. »Du stinkst zu sehr!«
»Das merkt doch keiner!«
»Eben doch«, sagte sie im Brustton der Überzeugung. Er fragte nicht nach. »Welche Größe hast du?«
»Keine Ahnung, hat immer Gianna gemacht.« Der Ton in seiner Stimme war verunsichert, nicht gerade verzweifelt, aber ein wenig beunruhigt.
»Deine Frau?«, fragte sie nach und Rocco nickte langsam. »Warst du also so einer, der sich nicht allein versorgen konnte, was, oder sogar ein Chauvi?«, neckte sie und stieß ihn an. Rocco sah auf sie hinab, doch es schien, als wüsste er nicht recht, was er dazu sagen sollte, und Jenny wandte sich ab.
Sie stand neben ihm vor dem Jeansladen, beiläufig erkannte sie im Vorübergehen einen A1-großen Aufkleber mit ›SPES‹ auf der Scheibe, weißer Grund und der in Rot fett gedruckte Eindruck, wahrscheinlich eine Werbung für irgendwas. Sie wollte gerade den Jeansladen betreten, da schoss eine junge Frau, eine Schwarze, sehr schlank, großgewachsen, in brauner Funktionskleidung, vermutlich aus Nordafrika, nach ihrem Äußeren zu urteilen, an ihr vorbei und riss das Plakat ab, um es in einen Rucksack zu stopfen, der ihr auf dem Rücken überzuquellen schien.
›XL oder XXL werden schon passen, bei der Jeans und beim Shirt‹, dachte Jenny, nachdem die Frau verschwunden war und sie den Laden betreten hatte und sich an den Schildern der Größen orientierte. Bei den Shirts war es simpel. Was die Jeans anging, war es komplizierter. Die Hosen hatten immer zwei Größenangaben, eine für die Bundweite und die andere für die Länge.
Jenny kannte Jeansläden gut. Für die eigene Attraktivität war es wichtig, einen Jeansladen des Vertrauens zu haben. Auch wenn sie mit ihrer Attraktivität augenblicklich nichts anzufangen wusste. Wichtig war es aber dennoch. Weil es früher wichtig gewesen war. Und weil nicht alles plötzlich eine ganz andere Bedeutung haben konnte! Oder doch?
Der Laden war um diese frühe Uhrzeit recht gut besucht. Hier gab es Jeans, aber es gab zudem etwas, das Jenny nie zuvor gesehen hatte. Die Hinweise darauf, alles auch online kaufen zu können, kannte sie schon. Das war old-school. Aber die Abteilung hinter den Jeans weckte ihr Interesse. Dort gab es diese Funktionskleidung. Hosen, Shirts und Jacken, Schuhe und Mäntel nach Farben sortiert.
Sie wandte sich um, um sich orientieren zu können. Die angebotene Bekleidung für Asien war hellbraun. ›Asian‹ besagte das Schild, das über dem ganzen Angebot thronte. ›Pacific‹ war blau, wie das Meer und das Angebot für ›South America‹ erschien in einem erdigen Braun. Diese Kleidung war ihr völlig neu und warum die Farben Kontinenten zugeordnet waren, verstand sie nicht. Aber sie hatte nicht genug Zeit, es herauszufinden. Draußen wartete Rocco auf sie. Wahrscheinlich gab es in der Tiefe des Raums noch mehr Funktionstextilien in weiteren Farben, die anderen Kontinenten oder einzelnen Ländern zugeordnet waren.
Jenny schnappte sich einen Stapel unterschiedlich geschnittener Jeans und ging damit zu Rocco zurück. Vor dem Laden hielt sie ihrem Mit-Engel eine Jeans nach der anderen an, bis sie die richtige Größe gefunden hatte. Der Fußweg vor dem Laden war gut frequentiert. Unsicheren Blicks prüfte sie aus den Augenwinkeln, ob die Leute sahen, wie sie die Jeans Rocco anhielt. Denn die Unaufmerksamkeit der Menschen war ihr nicht sicher, konnte einer oder eine unter ihnen doch bemerken, wie eine Jeans haltlos in der Luft hing. Sanft drückte sie Rocco zum Schaufenster. Er öffnete fragend seine Arme vor ihr. Was machte sie mit ihm? Sie justierte ihn in Höhe einer der männlichen Schaupuppen und hielt ihm die Jeans an. Sie hoffte darauf, die eilig an ihr vorbeihetzenden Menschen würden nicht bemerken, dass die Jeans vor dem Schaufenster hing und nicht im Schaufenster. Besorgt sah Rocco sich zum Schaufenster um. Doch dann grinste er, als er sich nach hinten umsah. Seine Jeans vor dem Schaufenster unterschied sich kaum von der Jeans im Schaufenster. Und die eilenden Menschen fielen auf das Trugbild herein. Sie gingen achtlos an den beiden vorbei. Nur eines fiel ihr auf: so viele Menschen verschiedener Hautfarben hatte sie in Berlin noch nie gesehen.
Hellblau und verwaschen stand ihm besser als dunkelblau, stellte Jenny fest. Ein hellgraues Shirt in XL würde ihm passen. Rocco nickte dazu, es war ihm offensichtlich recht egal, was er trug.
In dem Gewusel im Laden fiel überhaupt nicht auf, dass Jeans unbemerkt die Stapel verließen und zurückkehrten, dafür andere Jeans ihren Weg auf die Straße vor dem Laden nahmen. Als Jenny ihre Wahl getroffen hatte, verpackte sie ihren Einkauf, die Jeans und das Shirt wie auch mehrere Slips und T-Shirts zum Wechseln, in einer Papiertüte, die sie von der Kasse gemopst hatte und auf Bodenhöhe an ihren Fingern baumeln ließ. Sie hielt die Tüte unten, fast über das Trottoir schleifend. Dort sah niemand hin und niemand interessierte sich dafür. Selbst wenn da ein Mensch von Krämpfen geschüttelt und mit Schaum vor dem Mund am Boden im Sterben läge, würde kaum jemand mit diesem Anblick etwas zu tun haben wollen. Denn dass die Menschen ebenso ignorant gegenüber Unterschichten waren wie zu ihrer Lebenszeit, nahm Jenny ganz selbstverständlich an. Diese seltsame Funktionskleidung schien ihr ein starker Hinweis darauf. Also war es am sichersten, die Beute weit unten zu tragen. Jenny atmete erleichtert aus, als sie ungesehen die Friedrichstraße verließen, wie sie gekommen waren. Von der merkwürdigen Funktionskleidung erzählte sie Rocco nichts. Er war bestimmt auch so schon genug verunsichert, sich unvermutet in Berlin wiedergefunden zu haben.
»Ich habe im Reichstag Hinweisschilder auf Waschräume für Mitarbeiter gesehen«, erklärte sie Rocco. »Da kannst du duschen und ich werde mich auch waschen, wird Zeit, ich fühle mich echt eklig.«
Der Reichstag war ein Gewerbebetrieb wie jeder andere und selbstverständlich gab es Waschräume für die Beschäftigten. Es war nur ein glücklicher Zufall, dass sie vorhin ihren Weg nach unten durch das Treppenhaus genommen hatten, denn die Waschräume lagen in Höhe der Zwischengeschosse – dort, wo die gesamte Logistik des Reichstages geschützt vor den Blicken der Besucher untergebracht war. Am späten Vormittag waren sie die Einzigen in den Duschen, worüber beide froh waren, denn so ganz waren sie sich ihrer Unsichtbarkeit noch nicht sicher. Was war, wenn sie halbsichtbar wurden, wenn sie die frischen Klamotten anhatten? Oder wenn ihre alte Kleidung herumlag und dadurch von den Lebenden gesehen wurde?
Rocco duschte und wurde den Gestank des Massengrabs los. Irgendjemand hatte ein Duschgel mit Moschusaroma stehen gelassen, mit dem er sich lustvoll einrieb, bevor der Wasserstrahl alles wieder abspülte, aber den Geruch des Moschus zurückließ. Er passte zu ihm und zu seiner Herkunft, fand er. Er atmete tief ein, seine Hände strichen über die Kleidungsstücke, ein Genuss, saubere Sachen auf seiner Haut zu fühlen. So tot konnte er gar nicht sein, wenn er das alles fühlte und roch.
Sie trafen sich wieder vor der Tür der Mitarbeiterwaschräume. »Ich habe Hunger«, sagte Jenny und schnüffelte mit einem Lächeln in seine Richtung. Er roch so wundervoll.
Rocco sah sie von der Seite fragend an und meinte: »Seit ich wieder lebe, kenne ich das Gefühl von Hunger und Durst gar nicht mehr. Glaube ich jedenfalls. Aber sicher bin ich mir nicht.«
»Ich möchte etwas schmecken. Ich habe Lust auf einen Geschmack auf meiner Zunge«, ihr Lächeln war zaghaft, das eines kleinen Mädchens, »aber, ob ich überhaupt essen kann, weiß ich nicht. Ausprobieren. Wäre schade, wenn ich nicht mehr essen könnte!« Aus ihrem Lächeln formte sich ein süßer Schmollmund. Er nickte beifällig. Ihr schien er ein wortkarger Mann zu sein, er erzählte wenig von sich. Das sollte sie irgendwann ändern!
Im Erdgeschoss des Reichstages war es laut, denn viele Menschen aus vielen Ländern waren hier, um das Gebäude zu besichtigen. Jenny sah sich ängstlich um und hielt sich die Ohren zu. Doch die Hände auf ihren Ohren halfen nicht, denn sie hörte nicht nur die Vielzahl an Stimmen, sondern auch die Gedanken der Menschen. Diese Menschen sprachen nicht nur, sondern dabei dachten sie auch noch! Und das, was sie sagten, passte zudem oft nicht zu ihren Gedanken. Es war eine schreckliche Kakophonie in ihrem Kopf.
Sie versuchte, sich auf einzelne Personen zu konzentrieren. Aber der Schwall aus Stimmen und Gedanken schien fast übermächtig. »Das ist ja wirklich ein beeindruckendes Beispiel deutscher Geschichte! Dass ich dieses Erlebnis in meinem Alter von hundertfünf Jahren überhaupt noch haben kann …«, fabulierte die grell geschminkte übergewichtige Dame vor sich hin, die ihrer Sprache nach aus den USA kam – wie auch immer verfügte Jenny über eine Fähigkeit, die verschiedenen Sprachen ausmachen und zugleich zu verstehen – und mit Rock und Bluse die Ausnahme bezüglich ihrer Bekleidung in ihrer Gruppe war. Ob das ihre Begleiter aus Texas hören wollten, schien ihr egal. So nahm Jenny auch die Gedanken ihrer Begleiterinnen und Begleiter der Reisegruppe auf: ›Soll sie endlich ihre Klappe halten, sie nervt, seit sie dabei ist‹, dabei lächelten die meisten die Dame jedoch freundlich an. Noch während die ältere Dame diesen Satz gesagt hatte, fing Jenny ihren wahren Gedanken auf: ›Ein Steak oder ein Burger und eine Riesencola, das wäre es jetzt! Dieser Reichstag ist doch einfach nur langweilig!‹
Jenny verstand die Stimmen aller im Foyer des Reichstages versammelten Menschen. Ihr schien der Kopf zu platzen, es trieb sie hier heraus – sofort!
Rocco bemerkte ihre Blässe und stieß sie fragend an. »Boah, ich höre die Stimmen dieser ganzen Menschen und gleichzeitig ihre Gedanken. Zumindest der Menschen um uns herum. Mein Kopf dröhnt. Ich halte das nicht aus!«, kodderte sie heraus, biss sich auf ihre schmalen Lippen. Sie mochte es gar nicht, wenn sie sich nicht im Griff hatte. Daraufhin sah sie ihn verwundert an: Hörte er das alles denn nicht?
Er verstand sofort, was sie meinte: »Ich höre nur das Stimmengewirr hier; ist nichts Außergewöhnliches. Aber klar, es nervt ziemlich, wir sollten hier heraus.« Er stockte kurz und schien über das nachzudenken, was sie erzählt hatte. »Wenn ich das alles hören könnte, was du hörst, würde mir der Kopf platzen!« Er lächelte sie an, ein weiches, mitfühlendes Lächeln.
Es stand außer Zweifel, dass Rocco ein Engel war wie sie. Aber es stand auch fest, dass er anders war. Er hörte keine Gedanken, die versehen mit den Stimmen der Menschen in seinen Ohren landeten. Sie lächelte ihn erleichtert an, als er sie durch Massen zum Ausgang des Reichstages nach draußen schob. Weil sie so lächelte, ergriff er ihre Hand und drückte sie zärtlich und zuversichtlich, um sie nach draußen zu führen. Er lenkte sie mit Bedacht, das gemeinsame Ziel im Blick. Sie sah nach oben in seine Augen und spürte etwas in ihrem Leben bislang nie Dagewesenes. Sie konnte gar nicht anders, als ihren Blick von unten nach oben gleiten zu lassen, wie zufällig, auch wenn es nicht zufällig war, ein Blick hilfesuchend nach Beistand wie ein streunender Hund. Aber in ihrem Blick lag noch viel mehr.
Kurz bevor sie den Ausgang erreicht hatten, ließ eine dröhnende Lautsprecherstimme das babylonische Stimmengewirr versiegen. Ein Sprecher sagte mit durchdringender tiefer und etwas hallender Stimme: »Wir begehen heute den Globalen Trauertag. Dies ist eine Minute des Gedenkens.«
Die Ankündigung wiederholte sich in fünf Sprachen. Stille war im Reichstag eingekehrt. Das allein war der Grund, weshalb für einige Minuten die Kirchenglocken in der Stadt selbst noch im Reichstag zu hören waren. Tatsächlich schienen die meisten Besucher in ihrer Bewegung für einen Moment zu erstarren, so machtvoll wirkte der Klang der Vielzahl an Kirchenglocken. Aber in ihrer Macht merkwürdig hohl, wie Jenny fand. Sie hatte in diesem Moment nicht nur die Glocken, sondern die Stimmen von der Straße im Ohr. Kinderstimmen, Geschrei und Gepose von Jugendlichen, herausgerotzt in vielen Sprachen, hier in Berlin waren sie.
Die der Gedenkminute nachfolgende Sprecherin aus dem Lautsprecher klang wie Britney Spears in ›Oops, I did it again‹. ›I played with your heart, got lost in the game. Oh Baby, Baby‹, kam Jenny sofort in den Sinn. Die Stimme klang billig. Zunächst überrascht und etwas verwirrt von der Ansage sah sich Rocco immer wieder auf der Suche nach dem Lautsprecher um. Ein technikversessener großer Junge, der eindeutig noch nicht angekommen war in ihrer neuen Welt.
»Fünfundzwanzig Jahre«, flötete die Britney-Spears-Stimme seltsam fröhlich aus den Boxen, »nach dem Pariser Klimaabkommen ist es nicht gelungen, den Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperatur auf eins Komma fünf Grad zu begrenzen. Die rettenden Verfahren zur Entnahme von CO2 kamen zu spät. Wir trauern um die Toten, die durch Überflutung der Meere, Versteppung fruchtbarer Böden und Wälder und durch Staubstürme in Metropolen ihre Heimat verloren haben und ums Leben gekommen sind, und mit denen, die deswegen seit Jahren auf der Flucht sind. Wir bitten um Vergebung bei Völkern, die wir auf der Suche nach Rohstoffen ausgebeutet haben, wie vor noch gar nicht langer Zeit die Bevölkerung der Anden, deren Süßwasservorräte wir abpumpten, um an das Lithium in den Salzwasserseen zu kommen, damit unsere Autos mit Batterien elektrisch fahren können. Das ist umso bedauerlicher, als die Elektromobilität sich als ein fataler Irrtum herausgestellt hat.« Die Stimme machte eine kurze Betroffenheitspause und fuhr dann mit neuer Verve fort, die nicht zu dem Inhalt ihrer Worte passen wollte. Jenny verzog leicht angewidert das Gesicht. »Pandemien der letzten Jahre kosteten die Bevölkerung mehr Menschenleben als jeder Krieg, der jemals stattgefunden hat. Die Globalisierung hat die Welt zu einem Kontinent zusammenwachsen lassen. Die Viren sind stets mitgereist und damit zu einer globalen Bedrohung geworden. Wir verneigen uns vor den Opfern von AIDS, SARS, CORONA, XY-5, HOUSE und FIVE. Aber sie waren nur Ausdruck eines grundlegenden Fehlers, der nach wie vor ein Verbrechen an der Schöpfung ist.
Denn es fehlte uns an Respekt gegenüber anderen Völkern und Kulturen, als wir begannen, sie mit dem Beginn der Kolonialisierung auszubeuten. Heute erkennen wir in der Globalisierung das Erbe der Kolonialisierung als nicht wieder gutzumachenden Fehler. Wir können mit den Folgen dieser Fehler nur dann eine Zukunft haben, wenn wir Gerechtigkeit in der Welt schaffen. Denn der Virus sind wir selbst.«
Es waren deutliche und erstaunliche Worte, die zu einer kollektiven Betroffenheit aufriefen. Und doch war dieser Lautsprecherstimme die Trauer fremd. Sie verkaufte Katastrophen wie Sex an Touristen. Vielleicht war die Stimme sogar gut gewählt, wenn Sex in Wirklichkeit ein Trauerspiel war oder sich zu einem auswachsen konnte. Jenny wähnte eine Erinnerung, ohne sie greifen zu können. Mit ihr hatte die Erinnerung jedenfalls nichts zu tun. Da war sie sich sicher.
Danach unterbrach eine sehr traurig wirkende Lounge-Melodie Jennys Gedanken und beendete den Vortrag. Nach fünf Minuten war die angebliche Feierstunde abgeschlossen, die Glocken schwiegen bis zum nächsten Krippenfest und kein Imam war zu hören, der eine Sure vom Turm einer Moschee sang.
Rocco sah Jenny fragend an, immer noch auf der Suche, die Sprecherin mit dieser Stimme zu finden, aber Jenny grinste nur über ihn und über diese seltsame angeordnete Trauer.
Einige Menschen jedoch hatten die Ansprache ernst genommen. Sie standen da im Reichstag und weinten. Während andere Menschen aller möglichen Nationen einfach weitermachten und an ihnen vorbeigingen, um das Gebäude zu bestaunen.
Energisch zog Rocco Jenny durch den Ausgang. Wieso grinste sie so blöd bei einem so wichtigen Thema, das ihn selbst bislang zu wenig interessiert hatte? Wie weit es mit dem Planeten gekommen war. Im Sudan waren solche Themen nicht wichtig. Was in der Welt passierte, war so viel kleiner, so viel unwichtiger als das, was vor seiner Haustür an Unrecht geschah. Nie hätte er das ernst genommen ohne diese interessante Stimme! Und Jenny grinste!
»Das war so billig abgefuckt, diese Stimme allein!«, prustete sie los, sobald sie draußen standen, schob sich eine Strähne aus ihrem Gesicht ordentlich hinter ihr Ohr, räusperte sich und hatte sich einen Augenblick später wieder im Griff.
»Ich mag sexy Stimmen von Frauen und du hast auch so eine!«, erwiderte Rocco leicht angesäuert, aber ruhig.
Jenny fühlte die Hitze in ihr Gesicht steigen. »Lass den Quatsch Rocco, hab ich nicht!« Und wieder war ihr eine Strähne ins Gesicht gefallen.
Er lächelte bloß und sah sich um. Sie war jung und hatte entschiedene Ansichten. Es lohnte nicht, darüber zu streiten, dass sie diese Stimme unterschiedlich wahrgenommen hatten.