Kitabı oku: «SPES», sayfa 4
Draußen vor dem Reichstag war es heiß. Es würde nicht nur ein Sommertag werden, sondern ein besonders heißer Tag. Ein derart heißer Tag, wie sich Jenny an einen solchen nicht erinnerte. Doch sie bekam etwas Appetit trotz der Hitze. Hunger war es nicht. Eher das Verlangen nach etwas Wohlschmeckendem auf ihrer Zunge. Zuvor aber war ihr ein anderer Ort eingefallen, den es sich bei diesen Temperaturen aufzusuchen lohnte. Diesen Weg kannte sie schon immer, und ohne das Stimmengewirr in ihrem Ohr konnte sie sich auch darauf konzentrieren. Erleichtert lächelte sie in sich hinein. Es war schön, wieder allein in ihrem Kopf zu sein. Sie musste die Wilhelmstraße entlanglaufen und dann die Stresemannstraße nehmen. Sie schätzte, dass sie acht Kilometer unterwegs sein würden und das würde sie mehr als eine Stunde kosten. Aber was hieß für einen Engel schon Zeit? Sie hatten sicherlich genug davon.
Die Eindrücke der Straße lenkten sie ab. Auf dem Weg würde sie das eine oder andere ausprobieren. Irgendwo würde es einen Stand geben, einen Imbiss vielleicht und sie würde sich ein Würstchen vom Grill klauen. Darauf freute sie sich.
Engel konnten nicht zahlen. Engel hatten kein Geld. Engel mussten sich nehmen, was sie brauchten. aber Engel würden auch geben, war sich Jenny sicher. Ob Engel mal zum Klo mussten? An ihr war ja alles dran, was ein Mensch so hatte. Der einzige Unterschied war, dass sie nicht zu sehen war, genauso wie Rocco. Das hatten sie nach der Dusche wieder festgestellt. Die neuen Klamotten hatten nichts daran geändert, dass sie unsichtbar waren und durch alles hindurchliefen. Außer, es war massiv. Steine zum Beispiel konnten sie nicht durchqueren, wie war es mit Stahl? Zu was war ein Engel noch so fähig? Waren unsichtbar zu sein und die Gedanken der Menschen zu lesen das Einzige? Ohne es selbst zu bemerken, schüttelte sie ihren Kopf. Aber sie würde es erfahren. Spitzbübisch grinste sie in sich hinein. Es würde bestimmt mehr als genug lustige Dinge geben, die Engel so draufhatten. Aber würde sie sich trauen, all das auszuprobieren, über die Stränge zu schlagen, zu riskieren, entdeckt zu werden? Sie wusste von sich selbst: sie war kontrolliert und oft auch schüchtern. ›Wäre es jetzt nicht an der Zeit, das zu ändern?‹, fragte sie sich. ›Ob nun Engel oder nicht.‹
Sie schielte auf Rocco, der neben ihr lief, zufrieden mit sich selbst schien und darüber, am Leben zu sein. Er hatte wahrscheinlich nicht solche zaudernden Gedanken. Sie zuckte die Schulter, als ihr einfiel, dass sie glatt vergessen hatte, ihm zu erzählen, wohin sie unterwegs waren. »Wir gehen nach Kreuzberg«, sagte sie unvermittelt. »Dort in einem Park, dem Viktoriapark, gibt es einen sehr schönen Wasserfall. Da können wir uns abkühlen!« Denn Jenny war warm, sehr warm.
»Du findest es heiß? Na ja, wenn du eine Abkühlung brauchst. Ich finde es eigentlich ganz normal warm«, stellte er für sich fest. »Aber Wasser ist immer schön. Kann man da baden?«
»Der Wasserfall mündet in einen ganz kleinen See«, erklärte ihm Jenny, »zum Plantschen jedenfalls reicht er allemal!« Rocco nickte zufrieden. Er schien nicht so die Plaudertasche zu sein, stellte sie für sich fest.
Während ihres Weges fing sie wieder die Gedanken der Menschen auf, die ihnen entgegenkamen. Es waren Fetzen von Überlegungen wie: ›Schulden, wie Schulden bezahlen? Nicht mehr spielen.‹ Der junge Mann aus dem Nahen Osten, irgendwo dort drüben. Das kleine Mädchen mit den schwarzen Zöpfen lachte. ›Eine Eins in Deutsch, eine Eins in Deutsch!‹ Jenny lächelte sie an und dachte: ›Das hast du wirklich gut gemacht!‹ Sie sah sich nach dem kleinen Mädchen um, als es schon an ihnen vorübergegangen war. Ihre Botschaft war wohl angekommen. Das kleine Mädchen hüpfte vor Freude über den Asphalt, bis sie aus Jennys Reichweite war. Da war Jenny klar, dass sie Einfluss auf die Gedanken der Menschen nehmen konnte, auch wenn sie noch nicht wusste, wie weit dieser ging. Ihr neues Leben war ihr selbst so fremd. Fragend sah sie Rocco an. Offensichtlich hatte er nichts mitbekommen. Zweifelsohne war auch er ein Engel. Aber hatte er möglicherweise andere Aufgaben? Diesen jungfräulich gelebten Augenblick ihrer neuen Existenz fand Jenny zwar spannend, aber lieber wäre sie wieder ein Mensch gewesen. Ihr altes Leben schien so ungelebt. In diesem Moment sah sie Rocco in die Augen. Er fing ihren Blick auf und nickte nur, eine kaum merkliche Bewegung. Sie lächelte – ein wenig verlegen, und sah wieder weg.
Neugierig wie ein kleines Kind fokussierte Jenny wieder ihre gesamte Aufmerksamkeit auf das Trottoir und die Menschen, die dort waren. Viele Leute waren unterwegs. Schon am späten Vormittag gab es zwar auf dem Gehsteig kein Gedränge, aber es waren viel mehr Menschen als damals, als sie noch lebte. Wieder fiel ihr auf, wie viele Leute ganz offensichtlich aus anderen Ländern kamen. Sie konnte die Menschen nicht einzelnen Ländern zuordnen, wohl aber Kontinenten. Afrikaner wie Rocco waren klar zu erkennen wie auch Asiaten, Menschen vom indischen Subkontinent mit einem Turban auf dem Kopf oder mit einem Sari bekleidet und mit merkwürdigen Zeichen auf der Stirn, und andere Menschen, bei denen ihr eine Zuordnung überhaupt nicht gelang. Jenny sah sich erstaunt die Menschen an, die ihr entgegenkamen. Schon damals war Berlin multikulti gewesen. Aber heute? War Berlin der Mittelpunkt der Welt geworden? Waren diese Menschen Flüchtlinge, die geflohen waren, weil das Meer die Länder unwiederbringlich geflutet hatte? Oder wieso waren sie hier? Ihre Augen wollten sich an jeden Einzelnen von ihnen heften, ihre Geschichte hören, dabei kannte sie ja noch nicht einmal Roccos Geschichte.
Brave New World
Ein unkonzentrierter Blick zur Seite auf die Wilhelmstraße ließen ihre Augen groß werden. Sie hatte es nur am Rande ihres Bewusstseins bemerkt: der Straßenverkehr, diese Schlangen von Autos auf der Straße waren wie immer. Stau auf der Wilhelmstraße, Auto an Auto. Beruhigend, dass manche Dinge sich nicht geändert hatten. Diese Fahrzeuge jedoch waren kaum zu hören! Deswegen sah sie sich die Autos genauer an. Sie sahen aus wie Eier. Menschen saßen in ihnen, die auf Bildschirme starrten. In einigen Autos saß niemand vorn. Sie bremsten automatisch, wenn sie anfuhren und der Abstand doch zu kurz wurde, und dann fuhren sie wieder los. Das war im Stopp-and-Go-Verkehr gut zu beobachten. Selbst die Lastwagen waren geräuschlos.
An einem Auto blieb ihr Blick noch länger haften. Es war ein SUV, wenn man ihn so nennen konnte, denn auch er war recht eierig. Das aber war nicht das wirklich Erstaunliche. Der Mensch in diesem Auto, ob es eine Frau war oder ein Mann, konnte sie nicht erkennen, schien gerade wie nach einem kurzen Schläfchen aufzustehen. Dieser Mensch war erst nicht zu sehen, vermutlich weil er gelegen hatte, und dann hatte er sich, als der Wagen vor der roten Ampel stand, im Fahrzeug aufgerichtet. Die Ampel schaltete auf Grün und plötzlich saß er deutlich sichtbar auf einem Sessel mit hoher Lehne, wo doch noch eben sich das Etwas befunden haben musste, auf dem er gelegen hatte. So ein SUV war groß. Aber so groß? Oder hatte er sich im Inneren selbst umgebaut?
Was ging hier eigentlich ab? Nicht auf den ersten Blick war alles anders. Auf den ersten Blick war hier Berlin. Aber auf den zweiten? ›Mit dem Zweiten sieht man besser‹, fiel ihr ein, und weil das die so profane Werbung des ZDF war, sah sie nach oben zum Himmel und rollte die Augen über sich selbst und entdeckte die über der Straße gespannten Leitungen und Stromleitungen, an denen sie hinunter sah. Unter der Leitung fuhr ein Lastwagen, der mit einem Stromnehmer mit der Stromleitung über der Straße verbunden war wie früher die Züge. Jenny schnüffelte in Richtung der Straße. Sie roch keinerlei Abgase. Das war es also. Elektromobilität 2.0, die mittlerweile schon wieder gegen eine Wand gefahren war. Jenny musste grinsen.
Dann kam doch noch ein Auto die Wilhelmstraße entlanggefahren, das Geräusche produzierte. Sie kannte diesen Wagentyp. Ein aktueller Porsche, der gerade herausgekommen war. Sie hatte dieses Automagazin auf dem Nachttisch ihres Vaters gesehen.
Mit einem Mal, ganz unerwartet, hatte sie den Nachttisch vor Augen. Erst diesen Nachttisch, dann das Bett und ihren Vater darin, zunächst seinen Körper, umhüllt von der Bettdecke, und dann sein Gesicht. Jenny musste stehen bleiben, sie konnte nicht weitergehen, denn ihr Blick verschwamm und eine Träne lief über ihre Wange. Eine einzelne, einsame Träne. Rocco umarmte überraschend ihre Schultern, beugte sich zu ihr hinab und seine Augen fragten, was mit ihr los war. Er schien ein untrügliches Gespür für Menschen zu haben, denen es nicht gut ging oder die in Not waren. Doch sie reagierte nicht gleich auf ihn und seine Aufmerksamkeit. Sie brauchte Zeit, Zeit das Gesicht ihres Vaters vor ihrem inneren Auge zu zeichnen, erst die Umrisse, die Augen, den Mund, so lange, bis sich das Gesicht mit Farbe füllte und ihr Vater war. Ein aufgeschwemmtes Gesicht, grau und mit blutleeren, fahlen Lippen, die sie mit freundlicher Zugewandtheit schwach anlächelten.
Sie erinnerte sich an ihn und an diesen einen Gedanken, als sie diesen Porsche damals auf dem Titelblatt gesehen hatte, und ihre Scham darüber, was sie imstande gewesen war zu denken. Ihr Vater liebte Porsche, das war sein unerfüllter Traum! ›Keine Beine, kein Porsche‹, hatte sie damals gedacht, den Titel vor Augen. Jenny hasste bisweilen ihren Vater für seine Krankheit. Aber sie erinnerte sich daran, weil sie sich danach ihres Zynismus so sehr geschämt hatte. In diesem Moment ihrer Abwehr gegen das Schicksal ihrer Familie, dessen Grund nicht nur in papiernen medizinischen Expertisen, sondern zum Anfassen körperlich vor ihr lag, hatte sie gespürt, wie sich in ihrem Inneren ihr Herz zusammenzog. Dieses ewige Mitgefühl mit ihrem Vater war Napalm auf die Dynamik ihrer Familie, ähnlich einer Verstrahlung, die jedoch abgestellt worden war, wie man damals Atomkraftwerke abstellte. Doch ihn konnten sie nicht abstellen. Ein Abstellgleis vielleicht, hatte sie damals gedacht, für eine kaputte Lokomotive. Die Krankheit war Napalm, es entlaubte sie und machte ihre Seelen nackt, schutzlos angreifbar, angreifbar für das ganz normale Leben. Doch die tragische Schuld ihres Gedankens ließ damals ihr Herz verkrampfen.
Jenny fasste sich an ihre Brust. Sie spürte den gleichen Krampf ihres Herzens, als wäre er nie vorbei gewesen. Fast alle Gedanken von damals waren wieder da. So hatte sich Jenny das Leben vorgestellt, wenn man sich trennte. Wenn sich ihre Mutter vom Alkoholnebel des Schlafzimmers trennte. Für immer. Sie ihre Töchter mitnähme in eine andere Wohnung irgendwo in Marzahn. Sie wusste schlagartig wieder, wo sie gelebt hatten, nicht gelebt – gewohnt. Marzahn. Im öden Plattenbau nicht weit entfernt vom Industriegebiet, das ›Clean Tech Business Park‹ hieß, aber eigentlich fast nur aus einer riesigen leeren Steppe bestand.
Wenn sie ihn verstießen, irgendwo hinsteckten, ihn sich selbst überließen wie das Gnu, das dem Biss des Löwen entronnen war, aber am Blutverlust der Wunden stürbe, weil es nicht mehr auf die Beine käme. Wenn sie ihn ausstießen, stürben sie selbst einen emotionalen Tod, weil der Verrat an ihm ihr Inneres ausbrennen würde. Das war für Jenny der wahre Inhalt des Begriffs ›Tragik‹. War sie deshalb wieder hier, war sie genau genommen aus diesem Grund gestorben?
Jenny konnte sich nicht mehr auf ihren Beinen halten und war zugleich irritiert. Das konnte gar nicht sein: sie hatte sich immer unter Kontrolle! Ihr Wille ließ ihre Lippen schmal werden und trotzig steckte sie eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. Doch der Krampf ihres Herzens wollte und wollte nicht aufhören. Sie gab nach und setzte sich auf den Asphalt. Rocco beugte sich zu ihr hinunter, fühlte ihren Puls, ihre Stirn, sah sie an, als würde er sie untersuchen. Er legte seinen Arm um sie, streichelte über ihr glänzendes Haar. Er sprach ganz automatisch davon, sie ins Krankenhaus zu bringen, was doch aber Unsinn war für Engel, und Jenny schüttelte heftig ihren Kopf. Rocco setzte sich neben sie. Er nahm ihren Arm, kontrollierte noch einmal ihren Puls, schüttelte den Kopf. Ihr Puls raste. »Kein Krankenhaus!«, sagte sie. Es war eine mechanisch geäußerte Bitte. »Versuch, meine Gedanken zu lesen, das würde mir helfen, wenn du mich verstehst, vielleicht kannst du das!«
Rocco ließ ihr Handgelenk nicht los, das er sanft umfasst hielt, und versuchte tatsächlich, sich zu konzentrieren. Las er ihre Gedanken? Ging das? Doch er las nichts, keine Worte. Stattdessen sah er Bilder. Bilder, die sie in ihrem Kopf hatte.
Er richtete seinen Blick leer auf die Straße. Die Menschen gingen achtlos an ihnen vorbei. Afrika war anders, dachte er. Diese Achtlosigkeit gab es dort auch. Es war die Achtlosigkeit der Mächtigen gegenüber den Machtlosen. Aber auf der Straße zwischen gewöhnlichen Bürgern, war sich Rocco sicher, wäre er öfter gefragt worden: »Ey, was ist los, Mann? Was ist los mit der Kleinen da? Kann ich helfen?« Oder so etwas eben. Hier fragte keiner, was vermutlich daran lag, dass keiner sie sehen konnte, aber spürten sie denn das Leid nicht, das Jenny ausstrahlte? Er konnte ihre Verzweiflung und Trauer ganz deutlich wahrnehmen.
Jenny war nicht mehr im Hier und Jetzt. Ihr Puls hatte sich beruhigt und Rocco ließ ihr Handgelenk los. Sie saß zusammengekauert auf dem Boden, ihren Kopf auf ihren verschränkten Armen. Rocco blickte nach oben. Die Markise eines Shops spendete ein wenig Schatten. Aber sie würden etwas zu trinken brauchen.
Sie hatte hier gelebt, in dieser Stadt, in Berlin, da war sie sich sicher, Marzahn … es war in ihrem Kopf wie eine Erinnerung, das war deutlich. Denn oft war sie an diesem Gebäude vorbeigekommen, meist in einem Bus. Sie hatte Bilder vor Augen, wenn sie aus dem Bus auf den Reichstag sah. Aber es gab noch mehr Bilder, die mit diesem Gebäude zusammenhingen. Da gab es die Bilder von Partys, die vor diesem Gebäude stattgefunden hatten, und andere Partys, das Brandenburger Tor zu Silvester, als sie eine glückliche Familie waren, und dort standen sie mit tausenden von Leuten und ihre Eltern, die glücklich beschwipst von Bier und Sekt nach Hause stapften, ihre Kinder nie aus den Augen lassend.
Als ob das Brandenburger Tor eine Einfallsschleuse in ihre Erinnerung wäre, war plötzlich alles wieder da – ihre Geschichte, die ihre Vergangenheit war.
Rocco, der nicht wieder aufgestanden war, konnte ihre Gedanken nicht lesen wie ein Buch, so sehr er sich auch bemühte. Aber Rocco verfolgte ihre Gefühle in Bildern vor seinem geistigen Auge, Bilder ihrer Gedanken.
Er blieb stumm neben ihr auf dem Asphalt sitzen und ›sah‹ dieser Bilderflut zu, die er von ihr empfing. Wie durch eine unerwartete Eingabe wurde ihm angesichts dessen klar, was er für Jenny sein würde: der Fels in der Brandung und ihr Beschützer. Bei den Demonstrationen in Karthoum war er nur ungern in den Vordergrund getreten; er hielt sich gern in der zweiten Reihe auf. Er war der stille Beobachter, ein Mediator, der einschritt, um zu vermitteln oder auch zu motivieren. Er würde hinter ihr stehen, um sie zu unterstützen, anzuschieben, nach vorn zu bringen, und er würde vor ihr stehen, würde sie mit Dreck beworfen oder bedroht werden. Nicht nur deswegen, aber auch aus diesem Grund hatte ihn Gianna geliebt und Se ihn respektiert. Seine tiefe, bestätigende Stimme als Bestätigung und Schutz und sein Körper als stählerner Schild, das waren seine Stärken – die er auch als Engel einsetzen konnte.
Er folgte Jenny in ihre Erinnerungen und Gefühle: Sie hatten Silvester am Brandenburger Tor gefeiert, ihr Paps war erst dagegen gewesen und ihre Mutter war sofort begeistert dafür. Sie hatte ihn nie gefragt, warum er dagegen zu sein schien. Sie war Feuer und Flamme und er bemühte sich, kein Spielverderber zu sein – Jenny bemerkte es –, ein Umstand, der sich in letzter Zeit immer häufiger andeutete. Das ging so, bis er seiner Frau endlich seine Schmerzen in den Beinen offenbarte, die ihn schon nach wenigen Jahren an den Rollstuhl fesselten. Die Nervenkrankheit schlich von unten nach oben, bahnte sich immer mehr ihren Weg durch seinen Körper.
Paps’ Krankheit kostete viel Geld, die Krankenversicherung sträubte sich, wo sie nur ein Schlupfloch sah, weshalb die Familie in Marzahn blieb. Das war nicht der Plan ihrer Mutter gewesen. Sie wollte eigentlich nichts wie weg, raus aus Marzahn! Jenny verstand sie, ihr war wie ihrer Mutter nichts lieber, als Marzahn den Rücken zu kehren. Aber sie verstand, dass es nicht ging.
Schließlich war ihr Vater die meiste Zeit ans Bett gefesselt gewesen; er konnte sich kaum bewegen, wurde von einer Krankenschwester am Morgen notdürftig versorgt, sodass seine Frau sich nicht so sehr um ihn kümmern musste. Jenny kam nachmittags aus der Schule und Paps schlief. Er schlief, weil er mittags von den Schmerzen aufgewacht war. Dann nahm er die Schmerzmittel, die seinen Körper betäubten. Er nahm viel zu viel davon. Doch nur so wirkten sie, dass er seine Gliedmaßen nicht mehr spürte. Er hatte einen schmalen Zeitkorridor, in dem er sich ohne Pein rühren konnte, den er nutzte, um nach unten zu rollen bis ganz nach unten ins Erdgeschoss und dann fuhr er ein paar Meter bis zum Kiosk. Mit dem Fusel betäubte er nachmittags die Schmerzen in seinem Herzen und seinen Gliedmaßen. Eine große Flasche, selbst wenn der Beipackzettel der Medikamente vor Alkoholkonsum deutlich warnte. Dann rollte er wieder in die Wohnung, im Schlafzimmer ans Fenster, starrte hinaus und trank, bis er wieder ins Bett fiel und weiterschlief.
Selbst wenn der Alkohol bis zum nächsten Morgen in seinem Körper abgebaut war, würde er noch von den Schwaden, die sich im Schlafzimmer ausgebreitet hatten, betäubt bleiben. Jenny bewunderte ihre Mutter, die Nacht für Nacht das Schlafzimmer mit ihm teilte. Andererseits hatte sie jedoch kaum eine andere Wahl, war die Wohnung doch ziemlich klein und ihre beiden Kinder sollten ein eigenes Zimmer haben.
Jennys Mutter schien ihren Mann nicht zu verachten – ganz im Gegenteil. Wenn sie seine eigene Schlafmedikation missbilligte, verstand sie ihn. Denn oft bekam sie mit, wie er fühlen musste, sie spürte den Schmerz fast an ihrem eigenen Körper. Sie fühlte, welche Höllenqualen ihr Mann durchlitt, Stunde um Stunde und Tag für Tag. ›Ach, Jenny, die Schmerzen deines Vaters sind eine furchtbare Pein!‹, erinnerte Jenny sich an eine Aussage ihrer Mutter. Aber ihre Mutter blieb dennoch eine Realistin. Für die reinen Realisten jedoch war das Leben oft nur eine ›Truman-Show‹ – Jenny hatte den Film gesehen: Ihre Mutter führte dabei Regie, doch sie war eisig, es ging nur ums Überleben. Sie musste sachlich bleiben, sonst gab es kein Überleben. So einfach war das. Was die Krankenkasse nicht zahlte, finanzierte Jennys Mutter. Sie arbeitete für zwei und kam immer spät und ausgelaugt zurück, fünf Putzstellen waren schlicht zu viele.
Jenny tat ihre kleine Schwester leid, die erst zehn Jahre alt war. Sie hatte kaum etwas von ihrem Papa gehabt in ihrem Leben. Die beiden Schwestern lagen zwölf Jahre auseinander und Jenny wunderte sich gelegentlich, dass ihr Vater der Erzeuger ihrer kleineren Schwester sein sollte. Denn schon zur Zeit ihrer Zeugung hatte er im Rollstuhl gesessen und ab mittags geschlafen. Ihre Schwester war auch irgendwie ganz anders als sie. Sie hatte blonde Haare und blaue Augen und sie war schon jetzt fast so groß wie sie. Doch letztlich war das gleichgültig, solange die Liebe blieb. Denn er hatte die Kleine immer geliebt, auch wenn er dabei immer ausdrucksloser zu werden schien. Die Liebe musste angeschlagen worden sein, denn die Krankheit war wie ein Boxer, der unaufhörlich auf ihre Familie eindrosch. Dennoch blieb ihr Vater das Zentrum der Familie. Und war sein Lächeln auch noch so farblos geworden, es blieb sein Lächeln, das die Familie zusammenhielt, auch wenn er nicht mehr tun konnte, als den Versuch zu unternehmen, sie anzulächeln.
Noch tragischer wurde die Situation, als die Ärzte ihren Irrtum bemerkten. Sehr wohl litt ihr Vater an dieser Nervenkrankheit, die ihn zur Bewegungslosigkeit verdammte. Und sie hatten sich gewundert, warum die Medikation so schlecht anschlug, doch bei dieser Feststellung hatten sie es belassen. Bis ein junger Assistenzarzt, neu in der Klinik, weitere Tests veranlasste. Er war dem eigentlichen Grund der Krankheit auf der Spur und fand ihn schließlich auch. Ein Tumor im Gehirn war der Auslöser für die Fehlsteuerung der Nerven. Nur dass die Zeit inzwischen abgelaufen war, um ihn zu entfernen. Der junge Arzt war so freudestrahlend, als er das CT-Bild ansah, weil er den eigentlichen Bösewicht entlarvt hatte. Jenny, die wie der Rest der Familie hinter dem Arzt stand und auf den Bildschirm starrte, verstand ihn. Vom Hausarzt bis zu den spezialisierten Klinikärzten war niemand auf die eigentliche Ursache gekommen. Für ihn war das ein voller Erfolg. Aber für seinen Patienten nicht.
Und kurz nach dem überbordenden Gefühl seines Erfolgs merkte auch der junge Arzt, dass er der vollständig anwesenden Familie erklären musste, dass der Tumor nicht operabel sein würde. Er druckste ziemlich herum, als es um diesen Punkt ging, die Augen ihrer Mutter waren starr auf den jungen Arzt gerichtet, während ihr Vater auf den Boden sah und Jenny seinem Blick folgte und ihre kleine Schwester Playmobil spielte. Der Arzt war sichtlich überfordert mit der Situation und stammelte, er war rot im Gesicht und dennoch war seine Haut im Grundton merkwürdig grau, als er dann ergänzend die Tatsache formulierte, dass Tumore dieser Art erblich sein konnten.
Ihre Mutter hakte ein: »Wie viel Prozent, wie wahrscheinlich ist das?« Sie blickte ihre Töchter an.
Der junge Arzt begriff sofort. »Fünfzig, vielleicht dreißig, die Forschung ist noch nicht so weit bei dieser Art von Tumoren …« Jennys Hand suchte die ihrer Mutter, um ihr das Gefühl zu geben, bei ihr zu sein.
Doch da war ihre Mutter schon aufgestanden, griff nach dem Rollstuhl ihres Mannes, hatte Tränen in den Augen. Jenny folgte ihr nach draußen. Jennys Hand lag sanft auf seiner Schulter. Nur ihre kleine Schwester hing an den Playmobil-Figuren. Sie blieb sitzen, um weiterzuspielen.
»Nur mit dem Alkohol …, das sollte er …«, der junge Arzt sprach nun wieder sicherer weiter, »… lassen.«
Sie waren fast aus der Tür, hörten noch diesen letzten Satz und standen schließlich hilflos auf dem kalten Klinikflur. Sie warteten auf ihre kleine Schwester. Der junge Arzt hatte sich zu ihr gehockt, saß nun vor dem kleinen Mädchen, das gedankenverloren spielte, und wusste offenbar nicht so recht, was er tun sollte. Bis Jenny sie aus dem Behandlungszimmer holte, ihr über den Kopf streichend die kleinere Kinderhand in ihre nahm, sie anlächelte.
Auch wenn in der Familie Liebe und Rücksicht herrschten, war die Liebe dabei eine Regentschaft, die das Elend kaschierte wie das Präsentpapier das darin liegende unerwünschte Geschenk. Jenny wollte heraus aus diesem jahrelang anhaltenden Schlamassel, in dem sie aufwuchs. Sie strengte sich daher in der Uni an. Das war für sie der ›Stairway to Heaven‹. In den letzten beiden Jahren musste sie oft weinen, wenn sie sich zu sehr anstrengte. Die Tränen versiegten bald wieder und ihr Erfolg gab ihr Recht und war die Rechtfertigung dafür, die Tränen nicht zu ernst zu nehmen, obwohl die Tränen von einem stechenden Schmerz in ihrem Kopf rührten. Aber ihre Schmerzen verschwanden stets schnell wieder. Es war sogar recht hübsch anzusehen, wenn die glasklaren gläsernen Perlen sich mit dem rötlichen Lidschatten am unteren Wimpernkranz vermischten. Seit einiger Zeit verschönerte sie sich mit dem rötlichen Lidschatten. Sie sah darin vor dem Spiegel einen wunderbaren Kontrast zu ihrem dunkelbraunen Haar und einen noch schöneren Kontrast zu ihren graugrünen Augen.
Die Jungen mochten sie so. Jenny aber mochte die Jungen nicht. Jungen würden ihr bei keinem ihrer Probleme helfen können, ganz im Gegenteil. Sie würden ihr nur weitere Scherereien bringen, Liebesprobleme. Ihr Leben war an sich schon kompliziert genug. Ein ganzer Sack voller Schwierigkeiten bis zum Abwinken. Sie ahnte den Spaß und die Lust, die sie mit einem Jungen erleben könnte, sah das bei den anderen Mädchen ihres Alters. Aber es würde nicht funktionieren bei ihr, da war sie sich sicher. Niemals. Jedenfalls nicht, bis sie heraus war aus dem Ganzen und ihr eigenes Leben hatte. Das Harte ihres bisherigen Lebens hatte sie zu einer Realistin werden lassen. Die Realität erkennen, um zu überleben. Romantik war Quatsch aus dem Kino: Schön anzusehen, wenn sie mal Zeit hatte. Aber, wenn sie die Tür des Kinos nach draußen aufstieß, spürte sie den kalten Windzug ihrer Realität im Gesicht.
Und dann war da dieser Morgen, an dem Jenny verschlafen hatte. Sie hatte zu lange bis in die Nacht für die Matheklausur an der Uni gelernt. Sie wachte auf und wunderte sich nicht darüber, fast eine Stunde zu spät zu sein. Kopfschüttelnd und schlapp und verschlafen zum Bad schlurfend, missbilligte sie ihre Disziplinlosigkeit und zunächst den Spiegel vor ihr an der Wand. Sie hustete. Instinktiv schnellte ihre Hand zu ihrem Mund, doch sie bemerkte ihren Husten nicht einmal. Sie fühlte, dass ihre Stirn warm war, als ihre Hand darüber fuhr, während sie mit der anderen ihre Zähne putzte. Für einen gesunden Menschen war ihre Stirn befremdlich warm, aber eigentlich auch nicht wärmer als am Vortag. Sie wischte sich eine Strähne aus ihrem Gesicht. Sie hatte gestern bis in die Nacht gelernt. Sie zuckte die Schulter und spuckte aus. Erst jetzt spürte sie einen Druck auf ihrer Brust, keinen stechenden Schmerz beim Atmen. Nein, aber irgendjemand hatte ihr einen schweren Hammer auf die Brust gelegt. Das musste der Stress sein. Sie grinste sich verlegen im Spiegel an, sah eigentlich nur ihre Verlegenheit: das war die anstehende Matheklausur. Sie musste aufpassen. Bislang hielt sie sich eigentlich für resistent gegenüber irgendwelchen Psychomacken.
Sie hatte sich im Spiegel ansehend nur überflogen. Sie hatte ja keine Zeit für eingehende Betrachtungen ihrer selbst. Es kam darauf an, den Bus nicht zu verpassen, die Klausur nicht zu verpassen, das alles nicht zu verpassen, um Marzahn zu verlassen. Es stand für sie immer alles auf dem Spiel. Denn ihre Grundlage war ein schmaler Grat und kein breites Fundament. Das Fundament waren ihr geliebter kranker Vater und ihre Mutter – auch wenn es manches Mal schwer mit ihr war. Es war ihr Vater, den sie hinabgebeugt zu seinem Rollstuhl umarmte, wenn sie früh nach Hause kam, und der mit leerem Blick durch das Fenster auf die Straße sah. Das war sein Leben. Und die Gleichförmigkeit der Zehnliter-Putzeimer symbolisierten das Dasein ihrer Mutter. Jenny nahm auch sie in ihre Arme – aber seltener. Denn jedes Mal fühlte sie, wie der Körper ihrer Mutter stocksteif wurde. Trotz dieser Distanz zu ihrer Mutter gab es eine Liebe zu ihr, die tiefer unter ihrem Respekt für sie verborgen lag. Sie wusste, dass ihre Mutter all ihre Hoffnung in sie legte, dass Jenny für sie der Weg aus Marzahn heraus war, und das war okay für sie.
Von links nach rechts wischte ihr Blick über den Spiegel. Aber ungefähr in der Mitte des Spiegels sah sie sich für einen Moment ganz genau wie ein Standbild auf dem Bildschirm des Spiegels. Rote Ränder entdeckte sie um die Iris ihrer Augen. Rote Ränder, wie sie die von den Augen ihres Vaters am Vormittag kannte, sie kamen von der täglichen Alkoholmedikation gegen die unerträglichen Schmerzen am Vorabend. Sie betrachtete ihre Augen genauer und schließlich dieser prüfende Blick in den Spiegel ließ sie zusammenfahren. Sie erschrak so sehr, dass sie die Zahnbürste gedankenlos zu dem Gedanken an ihren Vater und an die Wischeimer zum Rand des Waschbeckens schob.
Während der letzten Tage hatten alle Sender nur noch und andauernd von einer beginnenden Epidemie berichtet, ausgelöst von irgendeinem neuen Virus – sie hatte nicht so genau hingehört, hatte aber eine Sprecherin im Kopf, die sagte, dass sich das Ganze zu einer Pandemie ausweiten könne. Jenny schüttelte verständnislos ihren Kopf und drückte ihr Kreuz vor dem Spiegel durch, eine Bewegung, die sie zufrieden im Spiegel betrachtete. ›Na also, geht doch! Ich lasse mich doch nicht von Fake News, Social Bots und Filterblasen in den Medien verrückt machen!‹, dachte sie. Sie hatte sich eine Grippe eingefangen, höchstens, eher eine Erkältung. Sie stand da, stramm wie ein Soldat. Ihr eigener Befehl sich selbst gegenüber war klar: antreten zur Klausur! Sie stand in der Dusche, das warme Wasser prasselte auf sie nieder, und sie fühlte sich auch gleich viel besser. Sie rekapitulierte die Formeln, die sie in der Nacht immer und immer wieder gelernt hatte.
Ihre kleine Schwester schlief noch, als sie das Bad verließ, und ihr Vater sowieso. Jeden Tag machte sie das Frühstück für ihre kleine Schwester, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, sie damit liebevoll weckend. Auch an diesem Morgen küsste sie ihre Stirn, das Frühstück für ihre Schwester fiel jedoch aus. Jenny selbst hatte kaum Zeit dafür, denn ihr Frühstück bestand aus kaltem Toastbrot vom Vortag mit darauf geklatschter Marmelade und einem Rest an kaltem Kaffee. Es war ihr nicht wichtig, wann dieser Kaffee durch einen Filter getröpfelt war, er sollte, musste nur wach machen. Sie schmeckte weder den Toast noch den Kaffee.
Wenig später eilte sie durch das schmutzige und an den Wänden bekritzelte Treppenhaus des Plattenbaus nach unten, immer wieder auf die Uhr sehend: würde sie den Bus noch kriegen? Die Türen des Busses schlossen gerade, als Jenny außer Atem wenige Meter von ihm entfernt war. Der mächtige Dieselmotor brummte tief und das Fahrzeug fuhr an. Jenny lief neben dem Bus her, ihre Fäuste trommelten gegen die vordere Tür. Sie sah die Busfahrerin, die grinste und den schwerfälligen Bus anhielt. Mit einem Zischen der Hydraulik öffnete sich die Tür.