Kitabı oku: «Demokratie unter Schock», sayfa 2
Die Pastorin
Die CDU hat also die Möglichkeit, sich an der Macht zu halten – aber offenkundig nicht unter Althaus. Denn mit ihm will SPD-Landeschef Christoph Matschie nicht einmal reden. Er verlangt nach einem neuen Ansprechpartner. Auch deshalb tritt der Ministerpräsident, der sich zudem erstmals offener Kritik in der eigenen Partei ausgesetzt sieht, überstürzt von allen Ämtern zurück. Er verschwindet ins heimische Eichsfeld und unterlässt es dabei, seine Nachfolge im Sinne Mohrings zu regeln. Dank des Chaos, das er damit produziert, kann sich eine Frau durchsetzen, die viele immer wieder unterschätzt hatten.
Die einstige Pastorin Christine Lieberknecht war seit 1990 alles Mögliche gewesen, Kultusministerin, Staatskanzleiministerin, Landtagspräsidentin, Fraktionschefin, Sozialministerin. Doch in die Nähe des Regierungsvorsitzes gelangte sie nie. Hier standen stets genügend Männer vor ihr.
Hinzu kam ihr Image als Intrigantin. Noch in den letzten Monaten der DDR, im Spätsommer 1990, hatte Lieberknecht dafür gesorgt, dass CDU-Landeschef Willibald Böck, der auf Platz 1 der Landesliste stand, nicht als Spitzenkandidat in den Landtagswahlkampf ziehen durfte. Statt ihm inthronisierte sie den Zweitplatzierten Josef Duchač als Ministerpräsidenten – nur um ein gutes Jahr später einen erfolgreichen Putsch gegen ihn anzuführen. Seitdem galt sie als Verräterin.
Doch nun, im Herbst 2009, nach dem Spontanrücktritt von Althaus, ergibt sich ihre Chance. Man kann Lieberknechts späteren Beteuerungen glauben, dass sie das höchste Regierungsamt nie wirklich anstrebte. Gleichzeitig spricht vieles dafür, dass sie es sich seit Langem zutraute und darauf hinarbeitete. Unumstritten ist jedenfalls: Als Finanzministerin Diezel, die als stellvertretende Partei- und Regierungschefin wieder Althaus vertritt, ihr nach einem Geheimtreffen die Kandidatur für das Ministerpräsidentenamt anbietet, greift sie entschlossen zu.
Die beiden Frauen lassen zu diesem Zeitpunkt noch offen, wer den Vorsitz der CDU übernehmen soll. Lieberknecht drängt Diezel, die aber das ruhigere Amt der Landtagspräsidentin vorzieht. Damit scheint für Mohring zumindest der Weg an die Spitze der Landespartei frei. Doch jetzt stellen sich ihm Mario Voigt und Christian Carius entgegen. Die beiden Landtagsabgeordneten sind seit ihrem Studium in Jena eng befreundet – und Mohring seit Jahren in gegenseitiger Abneigung verbunden.
Mario Voigt, 1977 in Jena geboren, hatte dort auch Politikwissenschaft studiert. Nebenbei führte er für ein Jahr den RCDS und durfte in Bonn den Granden der CDU im Bundesvorstand zuschauen. Nach einem mehrmonatigen US-Praktikum promovierte er über den zweiten Präsidentschaftswahlkampf von Georg W. Bush und arbeitete als Berater für die Bundes-CDU.
Im Jahr 2005 wurde Voigt zum Chef der Jungen Union in Thüringen gewählt. In diesem Moment begann auch die Konkurrenz zu Mohring, der bereits Generalsekretär der Landespartei war und eine seiner Vertrauten an die JU-Landesspitze schieben wollte. Doch Voigt siegte nicht nur gegen sie, er installierte auch seinen Freund Christian Carius als Stellvertreter.
Damit besitzen die beiden eine eigene, kleine Machtbasis. Nun, im Jahr 2009, ist Voigt in den Landtag eingezogen – und organisiert mit Carius in der Fraktion, die gar nicht für Parteifragen zuständig ist, eine Mehrheit für Lieberknecht als CDU-Landesvorsitzende. Mohring muss ohnmächtig dabei zusehen, wie ihn die beiden auf seinem ureigenen Feld ausmanövrieren. Selbst Dieter Althaus, der, wie er verspätet feststellt, trotz seines Rücktritts laut Verfassung noch geschäftsführend im Regierungsamt ist und in die Staatskanzlei zurückeilt, vermag seinem Schützling nicht mehr zu helfen.
Spätestens jetzt sind aus den Konkurrenten Voigt und Mohring erbitterte Feinde geworden. Über die Jahre wird sich der Machtkampf zu einer persönlichen Fehde entwickeln, welche die Thüringer CDU für mehr als eine Dekade prägt – bis hin zur Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten. Die beiden Männer misstrauen sich zutiefst, ja, sie verachten sich. Voigt hält Mohring für einen politischen Spekulanten, einen talentierten, aber teamunfähigen Solisten, der dabei ist, die gesamte Landespartei in die Geiselhaft seiner Ambitionen zu nehmen. Für Mohring wiederum ist Voigt nur ein akademischer Westentaschen-Stratege, der glaubt, in Thüringen US-Wahlkampf spielen zu können.
In die gegenseitige Abneigung spielt hinein, dass Voigt promoviert ist, während der Fraktionschef sein Jura-Studium abgebrochen hatte. Ab 2007 belegt Mohring auf Grundlage seiner in Jena erworbenen Scheine insgeheim Kurse an privaten Hochschulen in Innsbruck und Frankfurt am Main – und kann pünktlich im Wahljahr 2009 dem erstaunten Publikum zwei Abschlüsse vorweisen, einen Master of Law und einen Master of International Business & Tax Law. Zu diesem Zeitpunkt bekommen gleich mehrere Journalisten Hinweise, dass irgendetwas mit den Examina nicht stimme. Doch die Recherchen laufen ins Leere, Mohring hat sein Studium ordnungsgemäß abgeschlossen. Er wäre jetzt auch formal bereit für größere Aufgaben.
Aber die Chance ist vergeben. Mario Voigt hat sich, zumindest in dieser Situation, als schneller, energischer und taktisch versierter erwiesen. Christine Lieberknecht zeigt derweil, wie flexibel sie Machtpolitik beherrscht. Sie umschmeichelt die Sozialdemokraten, macht enorme inhaltliche Zugeständnisse, bei Gemeinschaftsschulen oder Gebietsreform. Und sie garantiert der halb so großen Partei die Hälfte der Fachministerien.
Ramelow hält dagegen. In einem spektakulären Schritt verzichtet er gegenüber SPD und Grünen auf den Anspruch der größeren Partei auf das Ministerpräsidentenamt und wirbt für einen parteilosen oder sozialdemokratischen Regierungschef, der am besten nicht aus Thüringen kommen soll. Die Namen des früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse oder des scheidenden Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (beide SPD) werden genannt.
Doch SPD-Landeschef Matschie, der damit in einer rot-rot-grünen Landesregierung zur Nummer 3 degradiert würde, macht da nicht mit. Er nutzt das Zögern innerhalb der Linken, die DDR pauschal als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen, um entgegen dem deutlich erkennbaren Basiswillen eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU durchzusetzen. Hinzu kommt, dass sich der Theologe Matschie mit der beurlaubten Pastorin Lieberknecht, die er längst duzt, menschlich einfach besser als mit Ramelow versteht.
Die CDU-Landeschefin hat also ihrer Partei noch einmal die Macht gesichert. Doch trotz dieses nicht selbstverständlichen Erfolgs präsentiert sich die Fraktion tief gespalten. Die alte Althaus-Gang fühlt sich kollektiv düpiert. Als sich Lieberknecht im Landtag der Wahl zur Ministerpräsidentin stellt, fällt sie in den ersten beiden Wahlgängen durch, obwohl Schwarz-Rot über eine solide Vier-Stimmen-Mehrheit verfügt.
Damit kommt es erstmals bei einer Thüringer Ministerpräsidentenwahl zum Drama des dritten Wahlgangs. Hier reicht nach Artikel 70 der Landesverfassung die relative Mehrheit der „meisten Stimmen“. Die Formulierung hatte in den Wochen vor der Wahl zu langwierigen Debatten geführt. Zählen nur die Ja-Stimmen? Stünde, wenn Lieberknecht als Einzelkandidatin mehr Nein- als Ja-Stimmen erhielte, die Legitimität ihrer Wahl infrage? Muss dann das Verfassungsgericht entscheiden? Die Rechtsgelehrten wirken ebenso uneins wie das zunehmend verwirrte Publikum. Die Formulierung der Landesverfassung war in den Zeiten klarer Mehrheiten niemandem aufgefallen.
Doch bevor die Lebenswirklichkeit eine Antwort geben kann und der entscheidende dritte Wahlgang beginnt, erklärt Ramelow auch zur Überraschung der eigenen Partei, dass er gegen Lieberknecht antrete. Aus der Perspektive des Linke-Fraktionsvorsitzenden ist die Bewerbung ein risikofreier PR-Stunt. Die Sondersendungen werden nun von ihm dominiert.
Aber Ramelow hat noch andere Motive. Zum einen hält er den Streit um die Verfassung für unwürdig. Zum anderen will er Lieberknecht schlicht helfen. Tatsächlich sorgt seine Kandidatur dafür, dass sich im dritten Wahlgang die bürgerlichen Reihen schließen. Die CDU-Kandidatin erhält nun alle Stimmen von CDU und FDP – und kommt damit auf eine stattliche absolute Mehrheit.
Dass ein linker Oppositionsführer eine christdemokratische Ministerpräsidentin dabei unterstützt, gesichtswahrend ins Amt zu gelangen, ist wohl so nur im kleinen Thüringen möglich. Lieberknecht und Ramelow kennen sich seit den frühen 1990er Jahren gut – und sie schätzen sich. Sie duzen sich und sprechen oft miteinander; Ramelow lud Lieberknecht sogar zu seiner zweiten Hochzeit ein.
Die beiden verbindet der gemeinsame evangelische Glaube, der wiederum, etwa bei sozialen Themen, gemeinsame politische Ansichten induziert. Gefühlt standen die lutherische Pastorin und der protestantische Gewerkschafter Ramelow nicht selten in gemeinsamer Opposition zu den Katholiken Vogel und Althaus. Falls sie sich mal im Eifer des politischen Gefechts gegenseitig öffentlich verletzten, folgten sofort danach die Entschuldigungen per SMS.
Aber dies geschieht selten. Selbst nach ihrem Amtsantritt greift Ramelow die Ministerpräsidentin selten persönlich an. Ihre Regierungszeit beginnt auch so schon schwierig genug. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat ihren Höhepunkt erreicht, überall fehlt Geld, das Land muss neue Schulden machen. Gleichzeitig erschwert die CDU-Fraktion das Regieren; Mohring blockiert Reformen und präsentiert stattdessen eigene, unabgestimmte Initiativen.
Lieberknecht scheut die Konfrontation, aus Schwäche, aber eben auch, weil in Thüringen alles so klein ist. Sie wohnt in Mohrings Wahlkreis, und Mohring in ihrem – und sie ist Mitglied des Kreisverbands, den er führt. Christian Carius, den Lieberknecht als Bauminister in ihr Kabinett geholt hat, und Mario Voigt, den Lieberknecht in der Landes-CDU zum Generalsekretär befördert, müssen dabei zusehen, wie der Rivale größere Teile der Agenda bestimmt.
Je näher das Ende der Legislaturperiode rückt, umso nervöser wirkt Lieberknecht. Sie begeht Fehler. Im Vorwahljahr 2013 beginnt eine Kette von Personalaffären, die zwischenzeitlich sogar zu Untreue-Ermittlungen gegen die Ministerpräsidentin führen. Im Ergebnis landet die CDU, die noch im Vorwahljahr in den Umfragen bei bis zu 40 Prozent gelegen hatte, bei der Landtagswahl am 14. September 2014 wieder bloß bei 33,5 Prozent. Das Ergebnis ist kaum besser als das von 2009. In absoluten Stimmen, auf diese Feststellung legt Mohring am Wahlabend großen Wert, fällt es sogar noch schlechter aus.
Mario Voigt, der als Generalsekretär die Kampagne für die CDU organisierte, ahnt schon am Wahlabend, dass das Ergebnis das Ende der Regierung bedeuten könnte. Er, der öffentlich stets kontrolliert und beherrscht auftritt, lässt sich auf der Wahlparty im Erfurter Restaurant „Hopfenberg“ gehen. Vom Alkohol enthemmt lästert er laut über Mohring und die Medien.
Der Extremist
Das, was nach dieser Landtagswahl geschieht, festigt die Grundlage für das, was sich fünf Jahre später ereignen wird. Die Risse im Damm gegenüber der äußeren Rechten bilden sich in diesen Monaten. Denn nun sitzt die „Alternative für Deutschland“ im Landtag. Die mikroskopisch kleine Landespartei, die erst ein gutes Jahr besteht und 350 Mitglieder zählt, hat es aus dem Nichts auf 10,6 Prozent der Zweitstimmen und elf Abgeordnete geschafft.
Ihr Landesvorsitzender, der auch die Fraktionsführung übernimmt, ist 42 Jahre alt und heißt Björn Höcke: ein gebürtiger Westfale, der in Rheinland-Pfalz aufwuchs, einst der Jungen Union angehörte, in Hessen Sport und Geschichte studierte und als Oberstudienrat in einer Gesamtschule in Bad Sooden-Allendorf die Gymnasialstufe unterrichtete. Im Jahr 2008 war er nach Thüringen gezogen, hatte im Dorf Bornhagen im thüringischen Eichsfeld das alte Pfarrhaus gekauft. Hier, unterhalb der romantisch-schönen Burg Hanstein, nur wenige Kilometer von der Landesgrenze zu Hessen entfernt, lebt er mit seiner Frau und vier Kindern.
Höcke, der Wahlkampf-Plakate gegen angebliche „Denkverbote“ kleben ließ, präsentiert sich als rechtskonservativer Freigeist. Sein Modell lautet „Heimat, Volk, Familie“, wobei die Familie aus Mann, Frau und mindestens drei Kindern zu bestehen habe. Er gibt sich gebildet, zitiert Hegel und Heidegger und bedient sich altgriechischer Vokabeln. Er sagt, dass das „Volkswohl“ „keine politische Entropie“ (Informationsmangel) vertrage, dass er über „eine Eschatologie“ (Glaube an die Vollendung des Einzelnen und der Dinge) verfüge und dass er sich selbst in seinen Kindern „transzendiere“.
Der Kern der Höckeschen Begriffswelt ist die Identität. Sie sei „die zentrale Frage der Menschheit im 21. Jahrhundert“, der Schlüssel „zu ökonomischen und ökologischen Homöostasen, also ausgleichenden Selbstregulierungen einer Gesellschaft“. Deutsche und Europäer hätten „die Aufgabe, den Wert ihrer Hochkultur wiederzuentdecken“.
Zur Landtagswahl 2014 ist noch nicht öffentlich bekannt, dass Höcke mit dem NPD-Funktionär Thorsten Heise Kontakte pflegt, dass er mutmaßlich in dessen Blättchen Texte publizierte und dass er 2010 an einer Neonazi-Demonstration in Dresden8 teilnahm. Zudem wissen nur wenige, dass er dem Netzwerk der Neuen Rechten angehört, als dessen geistiger Führer Götz Kubitschek gilt.
Doch ob dies die Wähler abgehalten hätte, für die AfD zu stimmen? Der „Thüringen-Monitor“, eine Langzeitstudie, mit der Jenaer Politikwissenschaftler alljährlich die Wahlberechtigten nach ihren Ansichten befragen, schreibt 17 Prozent der Bürger im Jahr 2014 rechtsextremes Gedankengut zu. Diese Menschen haben nun in der AfD eine Partei, der sie ihre Stimme geben können. Und sie haben mit dem Oberstudienrat Höcke jemanden, der das ausformuliert, was sie empfinden.
Fortan wird der Mann eine von drei Landtagsfraktionen der AfD führen. Nur in Brandenburg und Sachsen, wo gleichzeitig oder kurz zuvor Wahlen stattfanden, sitzt die Partei bisher im Parlament. „Von hier und heute beginnt eine neue Epoche in der Parteiengeschichte der Bundesrepublik Deutschland“9, ruft er auf der Wahlparty ins Mikrofon. Die AfD habe einen „vollständigen Sieg“ errungen, sie sei „eine blaue Bewegung“, die das „Vaterland in eine bessere Zukunft führen“10 werde.
Gleichzeitig, auch das ist Höcke, präsentiert er sich kooperativ. „Natürlich gibt es Schnittmengen mit der CDU, gerade in Thüringen.“11 Aber auch bei der linken Programmatik erkenne er Ähnlichkeiten, etwa beim Thema direkter Demokratie.
Natürlich weiß er, dass die Linke niemals mit ihm reden wird und dass der CDU-Bundesvorstand jedwede Gespräche mit der AfD ausgeschlossen hat. Aber er weiß auch, wie knapp die Mehrheiten sind. Nur weil die FDP im Herbst 2014 aus dem Landtag geflogen ist und deshalb ihre Wähler bei der Sitzverteilung nicht zählen, reicht es im Landtag entweder mit einer Stimme für die Fortsetzung der schwarz-roten Koalition – oder, ebenso knapp, für ein rot-rot-grünes Experiment.
Denn: Die Linke unter Ramelow hat sich nochmals leicht auf 28,2 Prozent verbessert. Trotz Verlusten der SPD würde es für ein Bündnis mit ihr und den Grünen reichen. Und diesmal, das ist der Unterschied zum Jahr 2009, erscheint die SPD ernsthaft dazu bereit, einen linken Ministerpräsidenten zu akzeptieren.
Die Mehrheit der sozialdemokratischen Basis hat damit ohnehin seit Langem kein Problem mehr. Aber auch die Bundespartei hat sich 2013 auf ihrem Leipziger Parteitag gegenüber der Linken geöffnet. Hinzu kommt die Ernüchterung der SPD nach fünf Jahren gemeinsamen Regierens unter der CDU. So wie im Bund musste sie erfahren, dass sie als kleinerer Partner der Union in der Regel verliert.
Das linke Experiment
Auch Bodo Ramelow hat hinzugelernt, genauso wie der Berliner Linke-Stratege Benjamin Hoff, der ihn schon bei den gescheiterten Gesprächen im Jahr 2009 beriet. Deshalb wird die Verhandlungsdelegation diesmal nur mit sorgfältig ausgesuchten Gefolgsleuten besetzt. Die Sondierungen führt eine junge Frau: Susanne Hennig-Wellsow, Mitte 30, frühere Leistungssportlerin und unbelastet von der DDR-Vergangenheit. Sie hatte im Herbst 2013 mit Unterstützung Ramelows den Landesvorsitz der Linken übernommen. Ihr gemeinsames Ziel: die Regierungsmacht.
Entsprechend effizient verlaufen die Gespräche. Die Linke ist rasch zum Schuldbekenntnis als SED-Nachfolgepartei bereit, das SPD und vor allem Grüne vor fünf Jahren vergeblich forderten. Die DDR, konzedieren Hennig-Wellsow und Ramelow, war ein „Unrechtsstaat“.
Währenddessen reden die Sozialdemokraten auch mit der CDU, aber bloß der Form halber und um den Druck auf Linke und Grüne aufrecht zu erhalten. Das gilt umso mehr, da SPD-Landeschef Matschie von Andreas Bausewein abgelöst wird. Der Erfurter Oberbürgermeister war schon 2009 als klarer Befürworter eines Linksbündnisses aufgetreten.
Die CDU macht der SPD den Spurwechsel leicht. Die Partei wirkt wie gelähmt. Alle belauern sich gegenseitig. Obwohl Carius und Voigt die Ministerpräsidentin zum Konflikt mit Mohring drängen, will sie lieber Geschlossenheit demonstrieren und unterstützt die Wiederwahl des Fraktionschefs. Im Gegenzug bringt Voigt Lieberknecht dazu, Carius als neuen Landtagspräsidenten durchzusetzen. Damit soll Mohring, falls man denn in die Opposition muss, ein Gegengewicht bekommen.
Während die CDU mit sich selbst beschäftigt ist, schließen Linke, SPD und Grüne ihre Sondierungsgespräche erfolgreich ab. Danach organisieren die Sozialdemokraten einen Mitgliederentscheid, der Anfang November das gewünschte Ergebnis bringt: Knapp 70 Prozent der Teilnehmer sind für Rot-Rot-Grün. Die Koalitionsgespräche können beginnen.
Doch nun wächst der öffentliche Widerstand. Sogar der Bundespräsident äußert sich. „Ist die Partei, die da den Ministerpräsidenten stellen wird, tatsächlich schon so weit weg von den Vorstellungen, die die SED einst hatte bei der Unterdrückung der Menschen hier, dass wir ihr voll vertrauen können?“12, fragt Joachim Gauck, der sich einst als evangelischer Pastor am DDR-System rieb, rhetorisch in einem Fernsehinterview. Es gebe Teile in der Linkspartei, sagt er, bei denen er wie viele andere auch Probleme habe, dieses Vertrauen zu entwickeln: „Menschen, die die DDR erlebt haben und in meinem Alter sind, die müssen sich schon ganz schön anstrengen, um dies zu akzeptieren.“
Auch auf der Straße formiert sich Protest. Am 9. November, dem 25. Jahrestag des Mauerfalls, versammeln sich 4000 Menschen auf dem Domplatz. Organisiert wird die Demonstration von einem CDU-Mitglied, er ist Vizevorsitzender der Mittelstandsvereinigung der Union im Land13. Viele haben Kerzen mitgebracht, aber es sind auch AfD-Landtagsabgeordnete mit Fackeln zu sehen. „Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen!“14, wird gerufen, oder „Bodo raus!“. Unter den Demonstranten ist auch Generalsekretär Voigt. Dass der 9. November ebenso der Jahrestag der Pogromnacht ist, an dem in Erfurt die Synagoge brannte, wird in Kauf genommen. Eine kurze Gedenkminute muss für die Opfer des Naziterrors reichen.
Am 19. November 2014 ist der rot-rot-grüne Koalitionsvertrag beschlussfertig15. Ein letzter Streit um das grüne Umweltministerium, dessen Abteilungen für Landwirtschaft und Forst ins linke Infrastrukturministerium wandern, wird notdürftig befriedet. Dann stellen Linke, SPD und Grüne gemeinsam den Antrag im Landtag: Ramelows Wahl soll am 5. Dezember stattfinden.
Gegenkandidaten
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik könnte ein Linker an der Spitze einer Landesregierung stehen. Erstmals in ihrer Geschichte seit 1990 droht der Thüringer CDU der Verlust der Macht. Damit steht sie auch erstmals vor der Frage, ob sie bei einer Ministerpräsidentenwahl einen Bewerber gegen den Kandidaten der Mehrheit aufstellen soll. Denn für ihn bestünde die Möglichkeit, von der AfD mitgewählt zu werden – ob nun gewollt oder nicht.
Lieberknecht hat für sich entschieden, dass sie sich dieses Risiko nicht antun wird. Doch Mohring erwägt eine Kandidatur. Er sucht auf verschiedenen Wegen Gespräche mit den Sozialdemokraten, er redet auch mindestens einmal mit Höcke.
Anfang November trifft sich Mohring mit seinem Fraktionsvorstand. Was er nicht weiß: Das Gespräch wird mutmaßlich mitgeschnitten. Angela Merkel, erzählt er seinen Kollegen, habe zu ihm gesagt: „Aber passt auf, dass der Ramelow nicht noch die AfD einkauft.“16 Im Umkehrschluss habe er für sich festgestellt: „Wenn sie zu mir sagt, ich soll aufpassen, dass der Ramelow nicht die AfD einkauft, dann muss sie uns aber auch überlassen, dass wir die AfD einkaufen.“ Aus Mohrings Sicht bedeutet dies: „Wenn sie will, dass Ramelow nicht MP wird, brauchen wir die AfD, ob’s ihr passt oder nicht.“
Er selbst, sagt er, könne sich eine Kandidatur vorstellen, aber nur, wenn es eine Chance auf das Ministerpräsidentenamt gebe. „Mindestens muss klar sein: Die CDU muss stehen, und die AfD muss stehen. Also wenn, muss ich mit 45 Stimmen da rausgehen.“ Die AfD soll für ihn ganz offenbar als Mehrheitsbeschaffer dienen.
Aber das sind nur interne Aussagen. In der Öffentlichkeit spricht er nicht über eine Kandidatur. Und er setzt vor allem auf Abweichler aus SPD und Grünen, um eine absolute Mehrheit Ramelows zu verhindern. Schließlich würde den Linken eine einzige fehlende Stimme aus dem rot-rot-grünen Lager in den dritten Wahlgang zwingen – womit es ihm wie Lieberknecht fünf Jahre zuvor erginge. Träte dann niemand gegen ihn an, könnte Ramelow am Ende mehr Nein- als Ja-Stimmen erhalten.
Mohrings Interpretation lautet, dass der Linke damit nicht gewählt sei und alle Gespräche neu beginnen müssten. Oder der Ministerpräsident wäre halt fortan delegitimiert. Den CDU-Fraktionschef kümmert es wenig, dass er damit ein Verfassungsorgan beschädigte und dass seine Landespartei noch 2009 die exakt gegenteilige Rechtsmeinung vertreten hatte.
Die Reaktion folgt prompt. Der geschäftsführende SPD-Justizminister Holger Poppenhäger beauftragt den Verfassungsrechtler Martin Morlok mit einem Gegengutachten. Der begründet auf 28 Seiten, dass es die ausdrückliche Intention der Verfassung sei, nach einer Landtagswahl eine neue, arbeitsfähige Regierung zu bilden. Deshalb stelle Artikel 70, Absatz 3 der Verfassung sicher, dass in jedem Fall ein Ministerpräsident gewählt werde. Der letzte Satz des Papiers lautet: „Alles in allem: Tritt im Wahlgang […] nur ein Bewerber an, so ist er mit jeder Zahl der für ihn abgegebenen Stimmen gewählt, unabhängig von der Zahl der nicht für ihn abgegebenen Stimmen.“17
Mohring lässt sich nicht beirren. Er bleibt bei seiner Strategie, Ramelow zu beschädigen, zumal der wissenschaftliche Dienst der noch von seiner Partei kontrollierten Landtagsverwaltung ein Gutachten erstellt hat, das Morlok widerspricht. Aber nun mischt sich Lieberknecht ein. Noch ist sie die Landesvorsitzende. „Für das Ansehen Thüringens ist jedoch wichtig, dass es gar nicht zu einer solchen Situation kommt und ein Ministerpräsident eine klare und eindeutige Legitimation hat“, sagt sie.18 Das Amt des Regierungschefs dürfe „nicht zum Fall für Gerichte werden“.
Kurze Zeit später geht bei der Staatsanwaltschaft Erfurt eine anonyme Anzeige ein. Darin wird Mohring beschuldigt, als Vorsitzender des CDU-Kreisverbandes Apolda 119 Scheinmitglieder geführt zu haben, darunter 19 bereits Verstorbene. Der „Spiegel“ berichtet Ende November: „Die Namen wurden den Ermittlern in einer Tabelle geliefert, jeweils mit Vermerk: ‚Austritt‘, ‚verzogen‘ oder ‚verstorben‘. Mehr Mitglieder bedeuten für Kreisverbände mehr Delegierte auf Landesparteitagen und höhere Finanzzuschüsse.“19 Dass Mohring dementiert, nützt ihm wenig: Er steht im Zentrum einer dubios wirkenden Affäre um tote Parteiseelen. Die Ermittlungen beginnen.
Und nun, ganz plötzlich, erklärt Lieberknecht öffentlich ihren Verzicht. Am 2. Dezember – am Tag, an dem Linke, SPD und Grüne offiziell den Vorschlag für die Wahl Ramelows zum Ministerpräsidenten am 5. Dezember einreichen – sagt sie auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz: „Ich gehe am Freitag nicht in die Arena des Löwen.“20
Das Kalkül dahinter: Wenn schon jemand gefressen werden soll, dann doch lieber Mohring. Entweder verlöre er oder die AfD kontaminierte ihn – oder beides. Schließlich hat Höcke verkündet, dass der CDU-Fraktionschef „nach menschlichem Ermessen mit allen elf Stimmen der AfD-Fraktion rechnen“ könnte. Mohring, sagt er, sei „ein profilierter Konservativer“, ein „junger Stürmer und voll im Saft“21.
Der CDU-Fraktionsvorsitzende ahnt die Falle. Er setzt vorerst weiter darauf, dass Ramelow keine Mehrheit erhält, parallel dazu sucht er nun einen Notkandidaten, der statt ihm in einem möglichen dritten Wahlgang in die Arena geht. Zwei Tage vor der Wahl beschließt das Präsidium der Thüringer CDU, im ersten Wahlgang keinen eigenen Kandidaten aufzustellen. Ob die CDU in einem möglicherweise zweiten oder dritten Wahlgang mit einem eigenen Kandidaten antrete, lässt Voigt als Generalsekretär offen. Das werde gegebenenfalls die Fraktion entscheiden, sagt er.
Einen Tag vor der Ministerpräsidentenwahl erläutert Mohring seine Taktik im Deutschlandfunk: „Unser Ziel ist in Thüringen, dass eine bürgerliche Regierung gebildet wird, und deswegen gilt ja nach wie vor unser Angebot an die SPD und auch die Grünen, nicht den Tabubruch zu begehen, mit der Linkspartei zu koalieren, sondern einen anderen Weg für Thüringen einzuschlagen, der auch ein zukunftsfester ist.“
Rot-Rot-Grün solle an sich selbst scheitern, sagt Mohring. „Deswegen haben wir ja auch, ich wiederhole das gern noch mal, bisher keinen Kandidaten für den ersten Wahlgang nominiert, tun das auch nicht, weil wir davon ausgehen, dass sich das dann an sich selbst scheitern lässt, und dann kann man auch die Gemengelage neu ordnen. Wenn das im zweiten Wahlgang nochmal passiert, ist auch klar: Dann findet Bodo Ramelow in dieser Koalition keine Mehrheit.“22
Doch was ist mit dem dritten Wahlgang? Was ist mit dem Kandidaten, den Lieberknecht angekündigt hat, um Mohring zum Antritt zu nötigen? Die Lösung hat Bernhard Vogel vorbereitet, gemeinsam mit seinem vormaligen Vize-Ministerpräsidenten Gerd Schuchardt von der SPD, der seit jeher jede Zusammenarbeit mit PDS oder Linke ablehnte und nun die Ideale von 1989 verraten sieht. Sein Name steht unter einem Appell, dem sich auch bekannte Schriftsteller wie Reiner Kunze angeschlossen haben. Darin heißt es: „Jetzt soll ganz legal stattfinden, was die Kommunisten die Konterrevolution nannten: Die Befreiung durch die Revolution von 1989 soll in Thüringen revidiert werden. Und die Revolutionäre von damals sollen ihnen dabei behilflich sein! Verkehrte Welt!“23
Schuchardt betrachtet sich also ganz offenbar als Kämpfer gegen eine Konterrevolution. Darum sind er und Vogel zum ehemaligen Rektor der Universität Jena gefahren, und haben ihn in langen Gesprächen zu einer Kandidatur überredet. Klaus Dicke, ein aus Rheinland-Pfalz stammender Politikprofessor, soll als überparteilicher Bewerber antreten und im Fall eines Erfolgs eine bürgerliche Expertenregierung bilden.
Vieles von dem, was in diesen Wochen geschieht, wird sich fünf Jahre später wiederholen. Manches muss nur reifen. Noch hat die AfD ihre endgültige Radikalisierung vor sich. Noch existieren jenseits von Linke und AfD knappe Mehrheiten, die bloß nicht genutzt werden. Noch ist Thomas Kemmerich bloß ein ehemaliger Landtagsabgeordneter der FDP.
Doch auf der kleinen politischen Bühne, die Thüringen heißt, haben jetzt sämtliche Menschen, die fünf Jahre später Haupt- oder Nebenrollen erhalten werden, ihre Positionen eingenommen: Mohring, Ramelow, Höcke, Hennig-Wellsow, Voigt, Vogel, Lieberknecht, Gauck. Und die CDU präsentiert sich bereits genau so, wie man sie 2019 und 2020 erleben wird: gespalten, taktierend, überfordert. Nicht wenige ihrer Führungsmitglieder erscheinen bereit, mit allen Mitteln die Wahl des ersten linken Ministerpräsidenten zu verhindern – falls es sein muss, mit Hilfe der AfD.
In diesen Tagen fallen fast unbemerkt zwei Sätze, die heute prophetisch klingen. CDU-Generalsekretär Peter Tauber sagt sie vor der geplanten Wahl Ramelows am 5. Dezember 2014: „Ein Ministerpräsident der CDU darf nie von der AfD abhängig sein. Ein CDU-Kandidat, der dieses Amt nur mit den Stimmen der AfD erreichen kann, sollte diese Wahl nicht annehmen.“24