Kitabı oku: «Demokratie unter Schock», sayfa 3
„Versöhnen statt Spalten“
Am 4. Dezember 2014 unterzeichnen Linke, SPD und Grüne ihren Koalitionsvertrag. Er sieht wenig Umstürzendes vor: ein kostenloses Kindergartenjahr, mehr Geld für den dritten Arbeitsmarkt und die Gebietsreform, die unter anderem am Widerstand Mohrings in der vergangenen Wahlperiode schon in ihren Anfängen gescheitert war. Dass der Verfassungsschutz fast alle V-Leute abschalten soll, ist ein Zugeständnis an die Linken, derweil insbesondere die Grünen, die auch den Migrationsminister stellen, einen Winterabschiebestopp für Geflüchtete erstritten haben. Die SPD hat durchgesetzt, dass sie neben dem Innen- und dem Wirtschaftsministerium auch das Finanzressort erhält und dass keine neuen Schulden aufgenommen werden sollen.
Eine Konterrevolution sieht anders aus. Aber es geht auch nicht darum, was ist. Es geht darum, was war – und was sein könnte. So wie das Trauma der NS-Diktatur die Auseinandersetzung um die AfD bestimmt, wirken die Traumata von Teilung und DDR beim Streit um die Linke nach.
Und so versammelt sich der Protest am Vorabend der Ministerpräsidentenwahl ein letztes Mal vor dem Landtag. Etwa 2000 Menschen sind gekommen, diesmal hat die CDU offiziell mit zu der Demonstration aufgerufen. Wieder brennen Kerzen, auf Plakaten steht „Rettet Thüringen vor Blutrot, Rot und Grün“, einige Protestler rufen „Stasi raus!“ Wie einen Monat zuvor auf dem Domplatz handelt es sich um eine Mischung aus einstigen Bürgerrechtlern, CDU-Leuten, AfD-Anhängern, sogenannten normalen Bürgern – und einigen Dutzend polizeibekannter Rechtsextremisten.
Der nächste Tag. Das Parlamentsgebäude im Süden von Erfurt ist umstellt von Übertragungswagen. Alle wichtigen nationalen Medien sind vertreten, dazu Al Jazeera, der schwedische Rundfunk und das türkische Fernsehen. 315 Journalisten haben sich akkreditiert25.
Der medial-politische Komplex hat das Haus besetzt, ballt sich auf der Tribüne, im Plenarsaal, in der Lobby, der Kantine, den Gängen, den Innenhöfen. Alle sind gekommen, Ex-Minister, geschäftsführende Kabinettsmitglieder, frühere Abgeordnete. Der vormalige Bürgerrechtler Matthias Büchner, der am Abend noch demonstriert hat, hält seinen langen grauen Bart in die Kameras. Der linke Bundestagsfraktionsvorsitzende Gregor Gysi, der eigens aus Berlin angereist ist, eilt zwischen seinen Personenschützern über den Flur. Mohring gibt Interviews im Akkord.
Ramelows dritte Frau, die aus dem oberitalienischen Parma stammt und den Namen Germana Alberti vom Hofe trägt, sitzt gemeinsam mit seiner ersten Frau und dem ältesten Sohn auf der Tribüne, derweil Dutzende Teleobjektive auf sie gerichtet sind. Schließlich betritt der Kandidat der Linken den Saal, auch alle anderen 90 Abgeordneten nehmen ihre Plätze ein. Vorher geht Christine Lieberknecht noch demonstrativ auf Ramelow zu, der ihr ebenso demonstrativ entgegenläuft. Sie gibt ihm ihre rechte Hand, mit der linken umfasst sie seinen Arm. Beide lächeln.
Punkt 10 Uhr eröffnet Landtagspräsident Carius die Sitzung. Tagesordnungspunkt 1: Wahl des Ministerpräsidenten. Die Abgeordneten werden namentlich aufgerufen. Einer nach dem anderen geht zu den Kabinen am Rande des Saals und wirft seinen Stimmzettel ein.
Danach wird ausgezählt. Schließlich referiert Carius als Sitzungsleiter das Ergebnis. 91 Stimmen, davon eine ungültig, eine Enthaltung, 44 Nein und 45 Ja.
Es reicht nicht.
Aus der AfD-Fraktion ist Klatschen zu hören, sonst bleibt es sehr ruhig. Mohring versucht, möglichst gelassen zu blicken. Bisher geht sein taktischer Plan auf.
Der 2. Wahlgang. Namentliche Aufrufe, Kabinengänge, Auszählung. Carius liest vor: 91 Stimmen, davon eine ungültig, 44 Nein und 46 Ja. Das ist sie, die absolute Mehrheit. Ramelow ist gewählt. Er ist der erste linke Ministerpräsident der Republik. Der dritte Wahlgang fällt aus. All die Debatten über die Verfassung, über einen unabhängigen Kandidaten und über die AfD: Sie waren umsonst.
Zumindest für dieses Mal.
Nach Gratulationen und Vereidigung tritt Ramelow ans Rednerpult. Er verweist auf das geteilte Land, auf die großen Emotionen, appelliert an Fairness, an Anstand. Dann zitiert er den Sozialdemokraten und Altbundespräsidenten Johannes Rau: „Versöhnen statt spalten“. Dies, sagt der Ministerpräsident, werde sein Handlungsprinzip sein. Es folgt viel parteiübergreifender Dank, an die Chefs der früheren Regierungsfraktionen, aber vor allem an Christine Lieberknecht. Sie habe, sagt er, mit ihrer Regierung „Akzente gesetzt“.
Das Versöhnungspathos steigert sich aber noch. Ein väterlicher Freund, sagt Ramelow, sei an diesem Tag in den Landtag gekommen, der damals von der Staatssicherheit ins Gefängnis gebracht wurde, nach Bautzen. „Er hat mich mitgenommen zu dem Ort, wo er im Blut gelegen hat.“ Dann kommt die Botschaft, die der Ministerpräsident setzen will: „Lieber Andreas Möller: Dir und allen deinen Kameraden kann ich nur die Bitte um Entschuldigung überbringen.“
Seine Wahl, sagt Ramelow, werde jetzt von einigen als historischer Moment bezeichnet. Doch dies stimme nicht. Der wahre historische Moment, den habe es schon vor 25 Jahren gegeben, am 4. Dezember in Erfurt, als die erste Bezirksverwaltung der Stasi friedlich besetzt wurde.
Der Gang, der vom Plenarsaal zum Fraktionsgebäude führt, ist verstopft von Journalisten, Fotografen, Kameraleuten, Beamten und sonstigen Interessierten. In einem Nebenraum, abgeschirmt vom Trubel, stehen die Menschen zusammen, die gerade die politische Macht in Thüringen übernehmen. Sie sind, für eine kurze Weile, unter sich. Urkunden werden verteilt und Blumensträuße. Es gibt Sekt.
Dann treten sie, es sind je fünf Frauen und Männer, hinaus in das gleißende Licht der Scheinwerfer vor eine blaue Wand, an der, ganz oben rechts, „Freistaat Thüringen“ steht. Das hier ist sie also: die erste rot-rot-grüne Landesregierung, die es je in der Bundesrepublik gab.
Ein Mann, er steht in der Mitte, tritt nach vorne ans Mikrofon und sagt: „Mein Name ist Bodo Ramelow. Sie werden mich noch öfter sehen.“
Ein Widerspruch namens Ramelow
Die Regierung, die nun ihre Arbeit beginnt, ist ohne diesen Ministerpräsidenten nicht denkbar. Ohne ihn hätte seine Landespartei nie diesen Wahlsieg erreicht. Ohne ihn hätten die Verhandlungen kein erfolgreiches Ergebnis gehabt. Ja, ohne ihn gäbe es wohl nicht einmal die Linkspartei in dieser Form.
Gleichzeitig ist der Mann ein einziger Widerspruch. Ein Westdeutscher, der in Ostdeutschland eine Heimat fand. Ein gläubiger Protestant in einer atheistischen Partei. Ein Gewerkschafter, der wie ein Unternehmer denkt.
Geboren wird Bodo Ramelow am 16. Februar 1956 in Niedersachsen, in Osterholz-Scharmbeck. Er hat drei Geschwister, als er elf Jahre alt ist, stirbt der Vater an Gelbfieber, er hatte die Krankheit aus dem Krieg mitgebracht. Für Ramelow ist dies das zentrale Trauma seiner Kindheit. Der Vater sei in seinen Armen gestorben, sagt er später. „Die Dimension war für mich unbegreiflich.“26
Seine Mutter ist eine geborene Fresenius, ihr Urahn Johann Philipp Fresenius taufte Johann Wolfgang Goethe. Doch der große Name zählt nichts, sie muss als Hauswirtschafterin die Familie allein ernähren. Ihr Sohn Bodo bereitet ihr Sorgen. Seine drei Geschwister lernen Instrumente, er kann es nicht. Das Schreiben fällt ihm schwer, in der Schule bekommt er auf Diktate Fünfen. Dass er Legastheniker ist, ahnt niemand. Die Mutter ist überfordert, sie schlägt ihn, auch mit der Peitsche27. Ramelow wird rückblickend von „Gewaltorgien“ sprechen.
Nach dem Abschluss der Hauptschule lernt er bei der Kaufhauskette Karstadt in Gießen Einzelhandelskaufmann – wo übrigens zur selben Zeit der Jura-Student Volker Bouffier aushilft. Die beiden können nicht ansatzweise ahnen, dass sie sich später als Ministerpräsidenten wiederbegegnen werden.
Ramelow ist 19, als endlich die Legasthenie diagnostiziert wird. Er holt die Mittlere Reife nach und erwirbt die kaufmännische Fachhochschulreife. Er will Weinbau studieren, doch während des vorgeschriebenen Praktikums in der Pfalz plagen ihn nach der Weinlese Rückenprobleme. Der Arzt verschreibt ihm ein Korsett und redet ihm die Önologie aus: Mit dieser Wirbelsäule könne er nicht in der Landwirtschaft arbeiten. Und so beginnt Ramelow, in Gießen Betriebswirtschaft zu studieren, die Motivation ist gering. Als er das Angebot einer Kaufhausfirma als Filialleiter in Marburg erhält, verlässt er die Hochschule nach nur einem Semester.
Der Mensch und Politiker Ramelow lässt sich ohne all diese Erfahrungen nicht erklären, ohne den Tod des Vaters, ohne die schulischen Versagensängste, ohne den kaputten Rücken. Der unbändige Wille, es sich und allen anderen zu beweisen, gepaart mit einer großen Verletzlichkeit: Das alles wird in seiner Jugend geprägt.
Hinzu kommt der Einfluss von Marburg, einer Universitätsstadt, die in den 1970er- und 1980er Jahren ein besonders linkes und radikales Studentenmilieu beherbergt. Die von der SED finanzierte Deutsche Kommunistische Partei, die in der restlichen Bundesrepublik eine Splitterpartei ist, gilt als wichtige Stimme in der Stadt und in der Gewerkschaftsszene.
Eberhardt Dähne, ein örtlicher Funktionär der Gewerkschaft für Handel, Banken und Versicherungen (HBV), sitzt für die DKP im Stadtrat.28 Als Ramelow in die Gewerkschaft eintritt, wird der Kommunist zu seinem Mentor, gemeinsam engagieren sie sich gegen den Radikalenerlass, der DKP-Mitglieder aus dem öffentlichen Dienst fernhalten soll. In dieser Zeit beginnt sich auch der Verfassungsschutz für den aktivistischen Filialleiter zu interessieren.
Es dauert nicht lange, bis Ramelow hauptamtlich in die Gewerkschaft wechselt – und den wohl wichtigsten Schritt in seinem Leben vollzieht. Im Herbst 1990 zieht er nach Erfurt, um als Landesvorsitzender die Thüringer HBV aufzubauen. Der Mann aus Marburg macht den wilden Osten zu seinem Revier: Als Macher, der die alte Konsum-Genossenschaft der DDR mit ihren hunderten Lebensmittelgeschäften abwickelt und als Kämpfer, der gegen die Schließung der nordthüringischen Kaligruben streitet.
Ramelows Privatleben hat dramatische Episoden. Er heiratet dreimal, seine beiden Söhne aus erster Ehe, Victor und Philip, erkranken an Krebs, so wie seine Mutter und sein Schwiegervater. Auch aus diesen Erfahrungen heraus tritt Ramelow wieder in die evangelische Kirche ein, die er als junger Mann im Protest verließ.
Politisch nähert Ramelow sich der PDS an, tastend, in vorsichtigen Schritten. 1994 spricht er auf der zentralen Maifeier der Partei in Erfurt. 1997 gehört er zu den Hauptinitiatoren der Erfurter Erklärung, die für eine Politikwende und ein rot-rot-grünes Bündnis wirbt, und die auch Schriftsteller wie Günter Grass oder Walter Jens unterzeichnen. Später wird Ramelow die Erklärung zum Vorläuferdokument von Rot-Rot-Grün erklären, einem Modell von „drei Parteien auf gleicher Augenhöhe“, mit „mehr Demokratie und weniger Parteibuch“.29
Warum wird er nicht Sozialdemokrat? Immerhin ist er Gewerkschafter und vertritt linke SPD-Positionen. Ein Grund ist schlichter Trotz. „Bei der Einstellung in die Gewerkschaft lag immer der Aufnahmeschein der SPD dabei“, sagt Ramelow. „Das stieß mich ab.“ Was ihn noch störte: Der Radikalenerlass und der Korruptionsskandal um den DGB-Wohnungsbaukonzern „Neue Heimat“ in den 1980er Jahren, in den viele sozialdemokratische Gewerkschafter verwickelt waren. Zumal, als Ramelow den Einstieg in die Politik erwägt, haben sich die linken Hoffnungen auf die rot-grüne Politikwende unter SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder zerschlagen. In Thüringen regieren die Sozialdemokraten sowieso unter Führung der CDU.
Dass sich Ramelow schließlich vor der Landtagswahl 1999 für die PDS entscheidet, hat aber auch machtpolitische Gründe. Die SPD würde ihm, dem Quereinsteiger aus dem Westen, kaum Platz 2 auf der Landesliste freiräumen – so, wie es die PDS gerne tut. Das Wahlergebnis wird für die Partei zum Triumph. Sie wächst auf 21,3 Prozent und überholt erstmals die SPD.
Ramelow wird sofort einer der Stellvertreter von Fraktionschefin Gabi Zimmer. Als diese ein Jahr später zur Bundesvorsitzenden aufsteigt, übernimmt er ihren Posten im Landtag. Er ist fortan die unbestrittene Nummer 1 der PDS in Thüringen, die jeweiligen Parteivorsitzenden arbeiten ihm zumeist ohne Murren zu. Fünf Jahre später, 2004, steigert die PDS ihr Ergebnis nochmals um 4,8 Punkte auf 26,1 Prozent. Dies ist das höchste Ergebnis, dass die Partei bis dahin jemals in Deutschland erreichte. Nur weil gleichzeitig die SPD nochmals verliert und die Grünen knapp an der 5-Prozent-Hürde scheitern, reicht es nicht für eine rot-rot-grüne Mehrheit gegen die CDU.
Spätestens jetzt ist Ramelow ein Star in der PDS. Als Kanzler Schröder im Jahr 2005 die Neuwahl des Bundestags einleitet, gewinnt die ein Jahr zuvor gegründete WASG, die bisher nur ein obskures Sammelbecken enttäuschter Ex-Sozialdemokraten war, mit dem Übertritt des früheren SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine an Dynamik. Ramelow stellt sich nach kurzem Zögern mit an die Spitze jener, die aus der SPD-Abspaltung und der PDS eine neue Partei formen wollen. Als Fusionsbeauftragter organisiert er erst eine gemeinsame Wahlliste und später die Gründung der Linkspartei. Und er kandidiert erfolgreich für den Bundestag, wo er die Funktion eines stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden übernimmt.
Die Linke will endlich die gesamtdeutsche Partei sein, welche die PDS nie sein konnte, weil an ihr das Stigma der SED-Vergangenheit und der Ruf einer reinen Ostvertretung haftete. Der Imagewandel gelingt, dank Hartz IV, Gysi und Lafontaine und ihres Vollstreckers aus Erfurt.
Doch Ramelow kommt nie wirklich in Berlin an. Weil er den Zusammenschluss mit harten Ansagen und gelegentlichen cholerischen Ausbrüchen vorantreibt, macht er sich Feinde. Und er reibt sich an den Parteivorsitzenden Lafontaine und Gysi. Bald wächst der Druck aus Berlin und Erfurt, sich wieder daheim als Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2009 zur Verfügung zu stellen. Der Wahlkampf wird auf Ramelow zugeschnitten, der seinen kleinen Ohrring ablegt und fast nur noch im Anzug auftritt. Obwohl die Linke nochmals hinzugewinnt und die Regierungsübernahme einer rot-rot-grünen Koalition greifbar nahe liegt, und obwohl Ramelow auf das Ministerpräsidentenamt verzichtet, entscheidet sich die SPD unter Christoph Matschie für die Koalition mit der CDU.
Der Linke versucht sich als pragmatischer Oppositionsführer, der trotz allem die Verbindung zur regierenden SPD pflegt und gleichzeitig seine Partei strategisch wie personell neu aufstellt. Er entschlackt das Programm und organisiert den Generationswechsel. Im November 2013 übernimmt die 34-jährige Susanne Hennig-Wellsow den Landesvorsitz, ihr Stellvertreter wird der 40-jährige Steffen Dittes. Schon aus Altersgründen gehörten beide nie der SED an. Auch wenn sie eine Nähe zur autonomen Szene besitzen: Sie stehen für den Regierungsanspruch der Partei, die in Ostdeutschland ohnehin deutlich pragmatischer auftritt als im Westen.
Doch die Enttäuschung von 2009 hängt Ramelow lange nach, zuweilen scheint er monatelang aus dem politischen Geschehen abzutauchen. Die Popularität der Ministerpräsidentin in ihren ersten Amtsjahren, die Erholung der CDU, der Aufstieg der AfD, die auch Proteststimmen von der Linken abzieht: Das alles lässt in den Umfragen die rot-rot-grüne Mehrheit erodieren, eine Wechselstimmung ist nicht mehr zu erkennen.
Das ändert sich im Vorwahljahr. Ab dem Sommer 2013 führt das personelle Missmanagement Lieberknechts dazu, dass die CDU in den Umfragen geradezu abstürzt. Ramelow wirkt fokussiert, er führt einen erfolgreichen, komplett auf sich zugeschnittenen Wahlkampf – an dessen Ende es ein Foto-Finish gibt: Es reicht nach der Wahl im September 2014 im Landtag mit genau einer Stimme Mehrheit für Rot-Rot-Grün. Hätte die CDU nur ein paar tausend Wählerstimmen mehr erhalten: Ramelow wäre zur historischen Fußnote geschrumpft.
KAPITEL 2
ROTES LAND
Doch nun, mit seiner Wahl am 5. Dezember 2014, hat sich der Linke Bodo Ramelow einen Platz in den Geschichtsbüchern erobert. Er ist der erste linke Ministerpräsident der Bundesrepublik, an der Spitze der ersten rot-rot-grünen Koalition.
Sein Kabinett besteht aus Mitgliedern dreier Parteien und jeweils zur Hälfte aus Männern und Frauen. Ein Drittel der Ministerinnen und Minister stammt ursprünglich aus Westdeutschland, ein Drittel wurde in Sachsen und Berlin angeworben, ein Drittel ist konfessionslos. Finanzministerin Heike Taubert und Innenminister Holger Poppenhäger gehörten schon Lieberknechts Kabinett an. Neu ist Wirtschafts- und Wissenschaftsminister Wolfgang Tiefensee, der frühere Leipziger Oberbürgermeister und Bundesverkehrsminister der SPD, der es mit knapp 60 noch einmal in der Provinz versuchen will – und der fünf Jahre zuvor schon mal als möglicher Thüringer Ministerpräsident gehandelt worden war.
Bei den Grünen hat die bisherige Fraktionschefin Anja Siegesmund das gestutzte Umweltressort übernommen, der Richter Dieter Lauinger führt das um Migration und Verbraucherschutz erweiterte Justizministerium. Für die Linke besetzt die frühere sächsische Landtagsabgeordnete Heike Werner das Sozialressort. Landtagsvizepräsidentin Birgit Klaubert wird Kultusministerin, die Nordhäuser Landrätin Birgit Keller übernimmt das Bau- und Verkehrsministerium, das nun auch für Landwirtschaft und Forst zuständig ist.
Im strategischen Zentrum der Regierung steht Staatskanzleichef Benjamin Immanuel Hoff, der zusätzlich als Minister für Bundesangelegenheiten, Europa und Kultur amtiert. Er gilt als linkes Wunderkind: 1990, da ist er noch Schüler, tritt er in Berlin in den sozialistischen Jugendverband ein und gelangt so in die PDS. Mit 19 wird er erstmals ins Abgeordnetenhaus der Hauptstadt gewählt. Nebenher studiert er Sozialwissenschaften und promoviert30.
Im Jahr 2006, fast parallel zur Gründung der Partei Die Linke, wird Hoff im zweiten rot-roten Berliner Senat Staatssekretär für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz. 2009 beruft ihn Ramelow in Thüringen in sein Schattenkabinett. 2011 erlebt Hoff in Berlin mit, wie Rot-Rot nach Fehlentscheidungen und inneren Konflikten die Mehrheit verliert. Inzwischen ist er, der nebenbei eine Honorarprofessur an der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin übernommen hat, ein überzeugter Realpolitiker. Mit dem Linksaußen-Flügel seiner Partei kann er genauso wenig anfangen wie dieser mit ihm.
Der Staatskanzleichef betrachtet Thüringen als Modellversuch. Sein Ziel ist, frei nach Antonio Gramsci, eine linke Hegemonie in Deutschland. In einem Buch, das er 2014 veröffentlicht, klingt schon im Titel eine alte Doktrin Lenins an: „Die Linke: Partei neuen Typs?“31 Darin entwirft Hoff das Bild einer Organisation, die über eine kulturelle Hoheit in der Gesellschaft zur politischen Herrschaft gelangt. Zugleich distanziert er sich jedoch von den totalitären Tendenzen Gramcis, ja, er kehrt ihn sogar strategisch um.
Es ist die Linke-Vorsitzende Katja Kipping, die Hoff im Vorwort des Buches besorgt fragt: „Du meinst, Rot-Rot-Grün muss nicht von Anfang an als ‚hegemoniales Projekt‘ angelegt sein – als ein Projekt mit dem gemeinsam geteilten Anspruch, grundlegend andere politische Weichenstellungen vorzunehmen.“ Dies sehe sie anders: „So offen die Realisierbarkeit eines solchen Projektes weiterhin ist, so unklar bleibt meines Erachtens, wie ein Politikwechsel auf andere Art und Weise, etwa im Sinne eines ‚business as usual‘, aus der Regierung heraus durchsetzbar sein soll.“32
Doch genau das ist, aus Sicht Hoffs, das Kernziel der Thüringer Koalition. Im Alltag linker Regierungspolitik, aus der Selbstverständlichkeit eines linken Ministerpräsidenten heraus, soll die geistig-moralische Hegemonie erlangt werden. Dies ist auch der strategische Ansatz von Ramelow. Die Linie führt über die „Erfurter Erklärung“ bis zurück zum „Erfurter Programm“ der SPD von 1891. Darin stand: Die Arbeiterklasse könne „den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein“ – dies aber über freie Wahlen sowie den friedlichen Kampf um soziale und gesellschaftliche Rechte.
Am 6. Dezember 2014, einen Tag nach der Wahl, trifft sich Ramelow in Elgersburg mit dem Bundesvorstand der Linken. In dem Dorf am Rande des Thüringer Wald besitzt die Partei eine Immobilie aus KPD-Zeiten, die nun als Hotel dient. Nachdem der Sekt mit Katja Kipping und ihrem Co-Vorsitzenden Bernd Riexinger getrunken ist, sagt er zu ihnen: „Ich bin der Ministerpräsident aller Thüringer.“ Denn er halte es mit Bernhard Vogel: Zuerst komme das Land, dann die Partei, dann die Person. An diese Reihenfolge sollten sie sich gewöhnen.
Ramelows Einschätzung ist realistisch genug. Mit linker Ideologie wird die Koalition weder zusammenhalten noch Wahlen gewinnen. Ohne die „Augenhöhe“ gegenüber den kleineren Partnern von SPD und Grünen, von der Ramelow ohne Unterlass redet, ist die knappe Mehrheit im Landtag gefährdet. Ohne den Nimbus der Überparteilichkeit würde er seine bürgerlichen Wähler verlieren.
Und dann ist natürlich das Ego. Ramelow sieht sich inzwischen selbst als historische Figur. „Meine Wahl besiegelt das Ende der DDR.“33