Kitabı oku: «Von einem, der auszog, einen Staat aufzubauen», sayfa 2

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Eine Lautsprecherdurchsage forderte zum Einsteigen auf und riß mich aus meiner Lektüre. Ich blickte um mich und sah die Gebirgsjäger in Reih und Glied antreten und in das Flugzeug einrücken. Ich begab mich an das Ende der Abteilung und nickte meinem wortkargen Gesprächspartner noch einmal zu – ohne Reaktion.

Offensichtlich war ich aber doch nicht der einzige Zivilist auf dem Flug nach Priština: Zwei bewaffnete Gendarmen in Schutzwesten kreuzten auf einmal auf und begleiteten einen jungen, verwegen blickenden Mann mit dunklen Haaren, schwarzglühenden Augen und einer scheußlichen Narbe quer über dem Gesicht zum Einstieg. Es mußte sich um einen jener Bürger des neuzugründenden Staates handeln, die nicht nur in Österreich hin und wieder unangenehm aufzufallen die Angewohnheit hatten und der deshalb zurück in die Heimat expediert wurde. Wenn auch vermutlich nicht für lange. Kosovo-Albaner genießen überwiegend nicht den Ruf von Liebenswürdigkeit, und etwas bange war mir dann doch, daß ich nun in einen Flieger stieg, der mich mit niemand anderem als zahlreichen Soldaten und dieser zumindest zweifelhaften Person meinem Bestimmungsort für diesen neuen Abschnitt meines Lebens zuführte.

2 Ankunft auf dem Amselfeld

Die Flugroute beschrieb einen weiten Bogen über die blau in der Wintersonne glitzernde Adria. Der direkte Weg hätte über serbischen Luftraum geführt, aber, wie mir eine von den Soldaten mit wohlwollenden Blicken bedachte Flugbegleiterin auf meine Frage hin erklärte, der serbische Luftraum war für uns gesperrt. Unser Ziel, der Flugplatz von Priština, befand sich nämlich aus Sicht Belgrads auf serbischem Territorium, war aber nicht von der serbischen Luftsicherheitsbehörde zertifiziert. Also konnte die serbische Flugaufsicht auch kein Flugzeug dorthin leiten. Einleuchtend und logisch kam mir dies vor, und ich erlebte den ersten von vielen Fällen, in denen eine bestechende politische Logik das Leben auf dem Balkan erschwerte.

Nach derselben Logik zum Beispiel war es einem Ausländer auch unmöglich, mit einem kosovarischen Stempel im Paß von Priština auf direktem Wege nach Belgrad zu fahren. Hinter der – aus serbischer Sicht illegalen – Grenze befand sich nämlich ein serbischer Kontrollpunkt, der jeden Reisenden erbarmungslos zurückschickte, dessen Papiere eben nur den kosovarischen und keinen gültigen serbischen Stempel aufwiesen. Der Kontrollpunkt war selbstredend kein Grenzübergang, denn man befand sich ja bereits, aus Priština kommend, auf serbischem Boden. Also hatte man gefälligst einen serbischen Stempel im Paß zu haben. Dieser wiederum könnte allerdings nur dann gültig sein, wenn das Datum seiner Ausstellung jünger als dasjenige des kosovarischen Stempels wäre, schlechterdings unmöglich, weil man ja direkt aus Priština anreiste. Denn ein kosovarischer Zöllner würde sich eher die Hand abhacken lassen, als einen serbischen Stempel auszustellen. Statt dessen drückte er einem den kosovarischen in den Ausweis und entwertete diesen nebenbei für jegliche Fahrten hinter die Grenze in serbisch kontrolliertes Territorium. Dies galt auch, um die Verwirrung zu komplettieren, für dasjenige serbisch kontrollierte Territorium, das formell zwar zum Kosovo gehörte, sich aber außerhalb seines Einflusses befand, nämlich den Norden. Also schien es dem Fremdling auf den ersten Blick unmöglich, von Priština nach Belgrad zu fahren. Und tatsächlich, ein später einmal von mir angestrebter Besuch des für sein freudiges Treiben berühmten Musik-Festivals von Niš inmitten Serbiens scheiterte exakt auf diese Weise, als sich an dem besagten Kontrollpunkt herausstellte, daß einer meiner Mitreisenden keinen gültigen Stempel für Serbien vorweisen konnte.

Auf dem Balkan aber lernt man schnell, mit den Folgen solcher politischen Logik zurechtzukommen. Es gab mindestens zwei probate Möglichkeiten, was die Fahrt nach Belgrad betraf: Entweder man fuhr einen Umweg und steuerte zuerst Richtung Skopje, bis man mazedonischen Boden unter den Füßen hatte. Zur Belohnung gab es folgerichtig einen mazedonischen Stempel, denn der mazedonische Zöllner scherte sich nicht darum, ob man nun aus einer Entität namens Republic of Kosova oder aus Serbien proper anreiste. Dieser mazedonische Stempel, mit jüngerem Datum als der kosovarische, neutralisierte den Paß für den strengen Blick eines serbischen Grenzers. Am Übergang von der sich damals als Mazedonien und jetzt als Nordmazedonien bezeichnenden Republik nach Serbien, also etwas weiter östlich im Vergleich zur Einreise aus dem Kosovo, nämlich hinter Kumanovo, konnte man die serbische Grenze problemlos überschreiten und ungestört sein ursprüngliches Ziel – Belgrad, Niš oder einen beliebigen anderen Ort in Serbien – ansteuern. Wenn man die Zeit hierfür hatte, lohnte der Umweg durchaus, denn nie wieder habe ich köstlicheren Wabenhonig erstanden als von den mazedonischen Imkern am Rande der Hauptverkehrsstraße.

Die andere Möglichkeit bestand schlicht darin, sich einen zweiten Paß zuzulegen, beispielsweise einen sogenannten Dienstpaß, wenn es zum Diplomatenpaß nicht reichte. Das eine Dokument nutzte man für serbische Kontrollpunkte, das andere für kosovarische Grenzposten. Nach wenigen Wochen hatte jeder von uns Internationalen im Kosovo einen zweiten Paß. Dieser zweite Paß ist die Rache eines jeden freigeistigen Reisenden an der jeweiligen politischen Logik, und seine einfache, aber effektive Wirkungsweise erfreut mich als stolzen Besitzer seither rund um den Globus, so daß ich ihn jedermann wärmstens empfehlen kann, der ihn sich verschaffen kann und möglichst von politischer Logik unbehelligt reisen möchte: Den einen Paß für Zöllner aus Israel, den anderen am Flugschalter nach Teheran. Einen für Kuba, den anderen wiederum zum Eintritt nach New York usw. Ein kleines Schnippchen, das man der verworrenen Weltpolitik schlagen kann, denn ein europäischer, zumal deutscher, Paß ist auf dem ganzen Globus willkommen wie kein anderer – nur jeweils falsche Stempel können ihn entwerten.

Noch war mein Reisepaß gleichsam jungfräulich, ohne kosovarischen Stempel, und befand sich hoch über der Adria in meiner Brusttasche. Von Westen her überquerten wir rasch das kleine, schon dem Namen nach dunkelbergige Montenegro, dann begann auch schon der Sinkflug über eine ausgedehnte Ebene hin. Das also, dachte ich, ist das Amselfeld. Kosovo Polje auf serbisch. Hier irgendwo, las ich in der Zeitung, hatte sich am Veitstag, dem 15. Juni, des Jahres 1389 das Heer des serbischen Prinzen Lazar den osmanischen Eroberern unter Sultan Murad I. entgegengestellt, um den türkischen Vormarsch auf Byzanz zum Stehen zu bringen. (Der Veitstag liegt nach dem gregorianischen Kalender auf dem 28. Juni.) Die Schlacht auf dem Amselfeld ist das Nationalepos des serbischen Volkes als dem letzten, sich selber wie der Heiland! zum Opfer hingebenden Verteidiger des Christentums gegen den immer weiter vordringenden Islam. Einem serbischen Adligen gelang es zwar noch, den Sultan zu töten, doch Lazar verlor die Schlacht gegen Bayezid, den Sohn des Sultans, und wurde geköpft. Der Balkan wurde für Jahrhunderte osmanisch, und Byzanz war eingekreist. Unsere Provinz Kosovo und Metochien nennt jeder Serbe das Territorium, dessen Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit nun deklariert werden sollte; kurz: Kosmet. Metochien bezeichnet den Landstrich westlich des Amselfeldes, das sogenannte Klosterland, ein ehemaliger Kirchenstaat, dessen uralte Klöster mit dem Patriarchat von Peć nichts anderes als die Muttererde des serbisch-orthodoxen Glaubens darstellen. Dies ist der ideelle Ursprung Serbiens, so wie die Kiewer Rus einer heutigen Ukraine der ideelle Ursprung Rußlands sind. Doch was wissen wir im Westen schon davon. Terra sancta, dachte ich, wie Palästina. Kein Wunder, daß sie es nicht einfach hergeben wollen, bloß weil man das in Washington für angebracht hält.

Wo mögen sich die beiden Heere begegnet sein, fragte ich mich, als der Boden näher und näher kam. Das Amselfeld war schneefrei und von staubigem Grün. Einige Felder waren bestellt, aber das meiste Land schien brach zu liegen. Schotterpisten durchzogen die Fläche, die beim Näherkommen aus der Luft über und über zersiedelt wirkte. Phantasielose Rohbauten aus roten Steinen in quadratischen, hellgrauen Betonskeletten waren wie von einer Riesenhand über die gesamte Gegend gewürfelt, grundsätzlich ohne Putz und meist auch ohne Dach. Nackte Stahlträger ragten aus den oberen Betonböden wie verrenkte Arme gen Himmel – erst später lernte ich, daß ein unfertiger Rohbau steuerliche Vorteile hatte. Allenthalben wehte die rote albanische Flagge mit dem schwarzen Doppeladler. Der Doppeladler war das Wappentier Skanderbegs, eines albanischen Nationalhelden, der im fünfzehnten Jahrhundert einen Aufstand gegen die Osmanen angeführt hatte. Fünfundzwanzig Jahre lang kämpfte er der Sage nach gegen die Türken und schlug fünfundzwanzig Schlachten, daher hat der Adler auch seine fünfundzwanzig Federn. Einige Schrottplätze konnte ich noch ausmachen, ansonsten war aus der Luft keine wirtschaftliche Aktivität erkennbar. Dann setzten wir auch schon auf. Autoschrott war zu jener Zeit tatsächlich der Exportschlager des Kosovos. Er machte etwa die Hälfte der Ausfuhren aus, Ausweidung alter Automobile war ein wichtiger Wirtschaftszweig des kleinen, gleichwohl an Bodenschätzen nicht armen Landes.

Aus dem Flugzeugfenster sah ich auf dem Vorfeld einige Militärhubschrauber, zwei Transportmaschinen der Nato und eine große Wellblechhalle in abgeblättertem Weiß mit zwei gewaltigen Lettern an Dach und Seite: UN. Dies also war der Flugplatz, den ein russisches Fallschirmjägerbataillon 1999 im Handstreich genommen hatte. Als Student hatte ich damals dieses Husarenstück der Russen live auf CNN mitverfolgt: Während die Nato-Truppen den abziehenden Serben von Westen her nachrückten, durchquerten russische Fallschirmjäger auf Radpanzern den nördlichen, von Serben bewohnten Teil des Kosovos Richtung Priština. Von der serbischen Minderheit wurden die slawischen, orthodoxen Brüder frenetisch begrüßt. Ohne Nachschublinie gewannen sie den unverteidigten Flughafen, lange bevor die Nato-Truppen auch nur in dessen Nähe gelangt waren. Sie sicherten das Gelände, verschanzten sich und brachten dieses für beide Seiten strategisch wichtige Objekt als Faustpfand in russische Hand. Doch die Lage des Bataillons war unhaltbar, denn an eine Luftversorgung war ohne Einverständnis der Nato nicht zu denken. Die westlichen Kommandeure aber betrieben kluge Deeskalation und versorgten das russische Bataillon aus ihren eigenen Beständen. Nachdem die Nato das gesamte Kosovo unter ihre Kontrolle gebracht hatte – mit Ausnahme des wie ein gewisses gallisches Dorf aushaltenden Flugplatzes –, war der Weg für die angestrebte Verhandlungslösung bereitet, die das Kosovo entsprechend dem Friedensplan von Rambouillet unter Uno-Verwaltung brachte. Die Russen gaben erst dann den Flugplatz frei, als sie im Gegenzug sichergestellt hatten, daß die zur militärischen Stabilisierung formierte, internationale Kosovo-Schutztruppe KFOR von Anfang an ein starkes russisches und auch ein ukrainisches Kontingent enthielt.

Während das Flugzeug ausrollte und langsam drehte, blickte ich neugierig auf die fremdartige, abenteuerlich anmutende Umgebung. Unweit des mit UN markierten Gebäudes war eine neue, zivile Abfertigungshalle entstanden. Wie alle modernen Bauten im Kosovo war sie frei von jeder Ästhetik und bot auch im für fertig erklärten Zustand den angesichts der Misere ein wenig tröstlichen Charme des Provisorischen. Auf ihrem Dach wehten mehrere Flaggen: Das hellblaue Tuch der Vereinten Nationen, daneben die amerikanischen Stars and Stripes sowie der europäische Sternenkranz, gefolgt von der zukünftigen, zu diesem Zeitpunkt noch nicht offiziellen, kosovarischen Flagge und einer skandinavischen Flagge, die ich nicht genau zuordnen konnte.

Die kosovarische Flagge war ein Artefakt, das in seiner politischen Korrektheit das Ungemach des internationalen Kunstgriffs, dessen Zier sie sein sollte, geradezu rührend symbolisierte. Ein am Bildschirm entworfener Cocktail, bestehend aus den geographischen Umrissen des Landes und Zitaten europäisch bemühter Symbolik und Farbgebung. Ich konnte es keinem Bürger der Republik Kosova verübeln, der sich lieber an die traditionelle, albanische Fahne mit dem schwarzen Doppeladler vor blutrotem Hintergrund hielt, unter der die Freischärler seit Generationen gegen ihre serbischen Widersacher gekämpft hatten. Weil aber sowohl die im Lande befindliche serbische Minderheit als auch die Albaner des Kosovos sich doch bitte zu diesem neuen Staat bekennen sollten, hatte man ihm als Flagge die inhaltsleere Schnittmenge dessen gegeben, was er für beide Seiten bestenfalls darstellen konnte: Ein Fleckchen Landkarte in den blauen und goldenen Farben Europas und ein Sternchen für jede Volksgruppe, nämlich Albaner, Serben, Roma, Bosniaken und Türken. Außerdem ein sechstes Sternchen für alle übrigen Landsleute, als da wären: Goranen, Torbeschen, Aschkali und Ägypter – um nur die wichtigsten zu nennen.

Ähnlich verhielt es sich mit der neuen Hymne, die den Titel Evropa trug und mir einige Tage später erstmalig zu Ohren kam. Sie existierte vorläufig nur in elektronischer Form und war ganz offenkundig erst vor kurzem ebenfalls am Rechner erstellt worden. Da weder serbisches noch albanisches Liedgut Verwendung finden durfte, mußte man auch hier etwas Neues ersinnen und konnte auf nichts zurückgreifen, was Tradition, Bindung, Hingabe oder irgendetwas von dem vermittelt hätte, was im allgemeinen den Charakter einer Nationalhymne ausmacht. Der Grund lag auf der Hand: Es war eine Nationalhymne ohne Nation. Selbstredend gab es erst einmal keinen Text zur Hymne der Republik Kosova.

Genauso drollig machte sich die bemüht multikulturelle Liste der kosovarischen Feiertage aus: Da gab es vom katholischen Weihnachten über das orthodoxe Osterfest und den als Saint Schuman bespöttelten Europa-Tag bis zum muslimischen Bairam-Fest und freilich dem Tag der Unabhängigkeit so ziemlich alles, was das Herz des Werkschaffenden, auch des internationalen, erfreuen konnte.

Mit der skandinavischen Flagge über dem Flugplatzgebäude hatte es eine Bewandtnis, die ich einige Wochen später in Erfahrung brachte: Dieses waren die Farben Islands, die dort prangten, weil die Lizenz des Flughafens von der isländischen Luftfahrtbehörde ausgestellt worden war. Dort war es rechtlich möglich gewesen; eine europäische Autorität hatte sich nicht dazu hergegeben.

Der Flugplatz selber war immer wieder Gegenstand von Gerüchten und Berichten um Korruption und Vorteilsnahme. Es ging um Visa und Schmuggel, um Bestechung des Betreibers zur Einstellung wiederum bestechlicher Mitarbeiter und um schöne Frauen, die in der Finanzabteilung tätig waren, ohne des Englischen mächtig zu sein, dort aber mit anderen Vorzügen aufwarten konnten. Gelegentlich las man in den Zeitungen von Ermittlungen, einmal gar von der Verhaftung des Geschäftsführers.

Beim Aussteigen bemerkte ich noch eine zweite, kleinere Linienmaschine, die vor uns gelandet war. Sie schien aus Laibach zu kommen, denn ich erkannte den Schriftzug der slowenischen Air Adria. Während die österreichischen Gebirgsjäger noch auf dem Rollfeld Aufstellung nahmen und vermutlich ohne längeres Verweilen auf die bereitgestellten Busse aufsitzen sollten, schloß ich mich den Zivilisten an, die aus der anderen Maschine herabstiegen und zu Fuß der Abfertigungshalle zustrebten. Noch einmal blickte ich mich in der Wintersonne um. Der typische Kerosingeruch hing über dem Flugplatz von Priština, dazu ein eigenartiger Beigeschmack, den ich noch nie zuvor wahrgenommen hatte. Später, in der Stadt, war der süßbittere, an verbranntes Holz oder Torf erinnernde Geruch noch stärker, und ich gewöhnte mich schnell daran, eine Luft einzuatmen, wie man sie vor gar nicht langer Zeit auch in Deutschland noch vorgefunden hätte: gesättigt mit Braunkohle. Hier sogar Lignit, eine besonders unreine Form von Braunkohle, von Fachleuten energy of last resort genannt, die unweit von Priština an einem Ort namens Obilić gefördert und im ganzen Land als Energieträger verwendet wurde. Neben den Schloten des Braunkohlekraftwerks von Obilić, das jedem Industriemuseum Ehre gemacht hätte und oft genug ausfiel, qualmten auch die meisten Kohleöfen der Wohnhäuser ihr Lignit in den Himmel und stießen bräunlichen Rauch aus, der sich an windstillen Tagen als dünngelber Schleier über die ganze Stadt legte.

Drei Monate nach meiner Ankunft, im Mai 2008, nahm ich den Braunkohletagebau und das Kraftwerk gemeinsam mit Kollegen im Rahmen eines Betriebsausflugs in Augenschein. Zwei enorme Bagger standen auf Kettenrädern in der gewaltigen Senke; aus DDR-Produktion, wie unser Führer stolz erklärte. Das eine urzeitliche Ungetüm stammte aus der frühen Nachkriegszeit und diente als Ersatzteillager für das andere, das etwas jünger war und seinen Dienst verrichtete. Der Tagebau klaffte als eine riesige, doppelte Schüssel in der Erdoberfläche, in die sich der stählerne Dinosaurier Lage um Lage tiefer einfressen würde. Nahezu unerschöpflich sei das Vorkommen, versicherte unser Führer. Das Lignit, welches sein kolossales Schaufelrad aus der Erdwand riß, wurde in kleinen Bröckchen von endlosen und bedenklich schwankenden und ratternden Förderbändern durch die staubige, braune Mondlandschaft auf große Halden außer Sichtweite verbracht.

Lange stand ich da, um die Szenerie zu betrachten. Das Zeug faßte sich wie vermodertes Holz an, und wenn man es in der Hand zerbröselte, blieben Fasern übrig, die ihren pflanzlichen Ursprung nicht verbergen konnten. Im Grunde nicht mehr als ein gewaltiger Komposthaufen.

Unweit des Abbaugeländes befand sich das Kraftwerk, das aus zwei Einheiten bestand. Eine davon ging zurück bis zur Stalinzeit, die andere war aus den 1980er Jahren. In großen Hallen standen die beeindruckenden Öfen, Turbinen und Generatoren, die aus dem Lignit Strom machten. Für jemanden wie mich, der sein Berufsleben am Schreibtisch verbrachte, war der Anblick dieser musealen, männlichen Ingenieurkunst geradezu erregend. Nie jedoch liefen alle Turbinen fehlerfrei, und einer der Blöcke war meist zu Wartungszwecken abgeschaltet. So auch während unseres Besuches, so daß wir in der enormen, staubigen Halle von Kosovo A die Turbinen, Boiler und Kamine verschiedener Entwicklungsstufen bis 1962 allesamt sorglos in Augenschein nehmen konnten. Alles wirkte so vorsintflutlich, daß man die Männer, die dieses museale System am Laufen hielten, bewundern mußte und sich im Stillen fragte, wie hier von Zeit zu Zeit überhaupt noch Strom erzeugt werden konnte. Fast noch mehr altbacken wirkte der Verwaltungstrakt der staatlichen Stromfirma KEK, wo wir durch den Direktor empfangen wurden.

Es war wie in einem Film: Holzpaneele und muffige Büros mit unsortierten Schreibtischen, Staub, schadhafter Putz und rein gar nichts, was Effizienz und Modernität ausgedrückt hätte. Kosovo B dagegen war ein recht modernes, russischdeutsch-amerikanisches Konstrukt, das Tito gerade einmal dreißig Jahre zuvor zusammengeschnorrt hatte. Sein wasserfallrauschender Kühlturm wirkte schon deutlich mächtiger als alles an Kosovo A. Die Steuerungseinheit war ein wahrer Zeitsprung in die Moderne, und die beiden Generatoren lieferten mit ihren Siemens-Turbinen zuverlässig je dreihundert Megawatt, indem diese lautstark etwa dreitausend Umdrehungen pro Minute vollführten, kontrolliert über ein Computersystem recht neuer französischer Machart. Da im Winter jedoch circa eintausendzweihundert Megawatt benötigt wurden, wurde uns faßlich, wie es trotz umfangreicher Stromimporte fast täglich zu Ausfällen kommen konnte.

Ein kundiger und sympathischer Ingenieur führte uns zwischen den orangefarbenen Monstren von Turbinen umher und erläuterte seine Ansicht, daß nur zwei weitere Einheiten angebaut werden mußten, um das Energieproblem angebotsseitig einzudämmen. Die megalomanischen Pläne eines komplett neuen Kohlekraftwerks Kosovo C mit zweitausend Megawatt Leistung, die bei uns zirkulierten, hielt er für anachronistisch angesichts der unausweichlichen Wende zu erneuerbaren Energien. Zumal ein kleiner Plan zeitnah umgesetzt werden könnte, während der große Entwurf noch lange auf Realisierung warten würde. Bis dahin blieb das Kosovo einfach in mehrere Versorgungszonen eingeteilt, die unterschiedlich zuverlässig mit Strom beliefert wurden. Das Diplomatenviertel Dragodan, in dem ich kurz nach meiner Ankunft Quartier nehmen sollte, gehörte freilich zu der zuverlässigsten Zone – aber selbst hier gab es kaum eine Woche ohne längeren Stromausfall.

An allen Ecken schepperten dann kleine Benzingeneratoren auf der Straße. Sie verpesteten die Luft noch mehr als das Kraftwerk von Obilić, aber wenigstens konnten die Leute damit notfalls auch privat die Elektrizität herstellen, ohne die zu leben der moderne Mensch verlernt hat, auch wenn er am Rande der Zivilisation lebt. Wenn dann Block A oder B wieder ans Netz ging, nachdem er längere Zeit ausgeschaltet gewesen war, qualmten seine Schlote eine Weile lang pechschwarzen Rauch, bevor dieser langsam wieder die normale, braungelbe Farbe annahm und sich erneut jener bittersüße Geruch über die Ebene ausbreitete, den ich nun, aus dem Flugzeug steigend, zum ersten Mal kostete.

Ich schaltete mein Mobiltelephon ein und erhielt eine befremdliche Nachricht: Willkommen in Monaco. Eingehende Anrufe kosten neunzehn Cent pro Minute. Ich steckte das Gerät wieder in meine Hosentasche. Wie Monaco sah es um mich herum nicht gerade aus. In der Abfertigungshalle hatten sich lange Schlangen vor den wenigen Schaltern gebildet. Dennoch verlief die Einreise zügig und unkompliziert. Den notorischen kosovarischen Stempel erhielt ich noch nicht, denn die Gründung der Republic of Kosova stand ja erst bevor; ihre Verfassung wurde gerade geschrieben und sollte im Juli in Kraft treten. Die Mitarbeit an den die Wirtschaftsordnung des neuen Staates betreffenden Passagen eben dieser Verfassung sollte eine meiner ersten Aufgaben werden. Ohne Verfassung war es aber selbst aus Sicht der neuen Machthaber in Priština unschicklich, kosovarische Grenzer zum hoheitlichen Einsatz zu bringen, die andererseits bereits in fabrikneuer, vermutlich in Asien genähter und mit am Ärmel abstehenden Fäden versehenen Uniform auf ihren Posten saßen. In diesem Zwischenstadium galt weiterhin die Verwaltung der Vereinten Nationen, und noch waren diese Grenzer in ihrem Namen und unter ihrer Aufsicht tätig. Also erhielt ich einen Stempel mit dem fröhlichen Akronym UNMIK: United Nations Mission in Kosovo. Interessehalber erkundigte sich der Grenzer nach meinem Dienstherrn und war hochzufrieden, als ich mit European Union antwortete.

»Europe good, UNMIK bad«, sagte er und lächelte mit schadhaftem Gebiß.

Ich lächelte ebenfalls, auch wenn ich damals noch nicht recht ahnen konnte, was er an UNMIK auszusetzen hatte.

UNMIK wurde von einem pensionierten deutschen Oberbürgermeister geleitet, als ich das Kosovo zum ersten Mal betrat. Die Mission hatte tatsächlich einen überaus schlechten Ruf, wie ich alsbald feststellte; bemerkenswerterweise sowohl unter Serben als auch Albanern und hinter vorgehaltener Hand auch unter uns Ausländern. Vertreter der beiden verfeindeten Volksgruppen schienen überhaupt nur in zwei Bereichen zu sofortiger, auch persönlicher, Übereinstimmung gelangen zu können: Wenn es um einen geschäftlichen oder finanziellen Vorteil ging, den sie gemeinsam auf Kosten der sogenannten Internationalen Gemeinschaft erzielen konnten, oder wenn man sie nach den Unzulänglichkeiten von UNMIK befragte.

Der schlechte Ruf der Uno-Verwaltung mochte in ihren vom Krieg wenig begünstigten Anfängen begründet liegen oder auch aus jener Zeit stammen, als ihr Chef ebenfalls ein Deutscher war; allerdings kein Oberbürgermeister, sondern vielmehr ein profilierter Karrierediplomat. Dessen Auftreten und Vorgehensweise aber waren bei Kennern des Kosovos keineswegs als diplomatisch, sondern bestenfalls als unkonventionell in Erinnerung geblieben und Gegenstand mancher pikanten Anekdote. Der frühere Sicherheitsberater Gerhard Schröders war nach der sogenannten Kaviar-Arschloch-Affäre ins Kosovo versetzt worden – strafversetzt, wie einige interpretierten. Er soll zuvor in einer Regierungsmaschine der Luftwaffe bei einem Aufenthalt in Moskau lautstark Kaviar verlangt und einen Flugbegleiter mit dem genannten Kraftausdruck beschimpft haben, als die Fischeier so schnell nicht aufzutreiben waren. Nach einer Weile auf seinem Bewährungsposten im Kosovo ehelichte er vorübergehend eine der vielen, gutaussehenden Frauen, die das albanische Volk schon immer hervorgebracht hat. Damit jedoch verlor er das Vertrauen seiner serbischen Untertanen. Nebenbei war er auch Urheber der als Strategie bezeichneten Hilflosigkeit, die sich hinter dem Motto Standards vor Status verbarg. Er versprach, die Lebenssituation der Bevölkerung zu verbessern, die Qualität der Verwaltung zu erhöhen und die Annäherung an die EU auf den Weg zu bringen, nicht obwohl, sondern gerade weil die Klärung der alles überschattenden Frage nach dem völkerrechtlichen Status des Protektorats auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Was die Standards betraf, waren die Menschen auch sechs Jahre später noch unzufrieden, aber Unzufriedenheit mit der Politik ist eine menschliche Grundeinstellung, nicht nur auf dem Balkan. Das eigentliche und grandiose Scheitern seiner Vorgehensweise betraf den Status, dessen Dringlichkeit und Bedeutung fatal unterschätzt worden war. Die Pogrome von 2004 verfolgte der ehemalige UNMIK-Chef nur noch aus der Ferne, von seinem neuen Posten in Genf aus.

Seine kurze Geschichte im Kosovo wurde in unseren Kreisen oft diskutiert, und die meisten von uns sogenannten Internationalen zogen den Schluß daraus, daß selbst unzweifelhafte Kompetenz nicht vor gravierenden Fehleinschätzungen schützt und schneidiges Auftreten als bleibender Eindruck schnell von Makeln in Fragen des Anstandes überschattet wird – ganz unabhängig davon, ob der Betreffende sich weiterhin politischer Gunst erfreut oder nicht. Die Bevölkerung jedenfalls hatte ihr anfängliches Vertrauen in die internationale Obrigkeit schnell verloren, zumal diese insbesondere im Kampf gegen die Korruption kaum Erfolge aufweisen konnte.

Die viergliedrige Struktur von UNMIK umfaßte erstens die Bereiche Polizei und Justiz, zweitens zivile Verwaltung, drittens Demokratisierung und Aufbau von Institutionen sowie viertens physischen Wiederaufbau und wirtschaftliche Entwicklung. Der vierte Bereich, also der Wirtschaftsarm von UNMIK, zu der auch das heikle und korruptionsanfällige Privatisierungsgeschäft gehörte, wurde von Anbeginn an durch die EU verantwortet. Sie stattete ihn mit einer Vielzahl von Vertragskräften aus, deren Kompetenz mir nicht über alle Zweifel erhaben zu sein schien, als ich einige von ihnen bei der Abwicklung und Übergabe ihrer Verantwortlichkeiten an die von mir in diesem Fachbereich vertretene, neue Obrigkeit kennenlernen durfte. Im Zuge der Unabhängigkeit sollte nämlich dieser Wirtschaftsarm als einer der ersten in nationale Zuständigkeit übergehen. Diesen dann wiederum international zu überwachen, sollte unsere Aufgabe seitens der Wirtschafts- und Finanzabteilung des International Civilian Office sein. Das ICO hatte die zivile Hoheit über den neugeschaffenen Staat. UNMIK als Verwaltungskörper jedoch blieb auch ohne seinen vierten Arm weiterhin und parallel zum ICO bestehen. Vor allem gehörte zu der Uno-Präsenz immer noch die internationale Polizei, darunter einige starke Polizeieinheiten, die aus aller Herren Länder rekrutiert waren. Wie bei Friedenseinsätzen nicht unüblich, schien es sich für so manches Entwicklungsland finanziell zu rentieren, Miliztruppen und Polizeikontingente der Uno für eine solche Verwendung zur Verfügung zu stellen. Ordnungskräfte beispielsweise aus Schwarzafrika schienen dann aber bisweilen aus Sicht der Kosovo-Albaner nicht immer den richtigen Ton zu treffen. Anläßlich einer Grenzkontrolle bei meinem nächsten Heimflug nach Frankfurt wurde ich Zeuge einer erhitzten Auseinandersetzung zwischen einem Einheimischen und einem nigerianischen Zolloffizier, die sich in schlechtem Englisch anbrüllten und sich gegenseitig als Rassisten bezichtigten.

Die unrühmliche Zeit der Uno-Verwaltung also neigte sich ihrem Ende, und die neuen Strukturen, deren Überwachungsorgan ICO ich angehören sollte, schickten sich an, das Regiment zu übernehmen. Doch existierte UNMIK auch ohne administrative Verantwortung wie eine Untote weiter, und ihr langer Schatten fiel auf alles, was wir unternahmen. Denn das von Amerika geführte Abenteuer, dem Kosovo den Anschein von Staatlichkeit zu verschaffen, wurde von den proserbischen Vetomächten Rußland und China im Uno-Sicherheitsrat nicht gutgeheißen. Aufgrund des Vetos aus Moskau und Peking aber war es unmöglich, die dem Status quo ante zugrundeliegende Uno-Resolution 1244 außer Kraft zu setzen. So bestand UNMIK de jure fort, nur mit Ausnahme der genannten Wirtschaftsabteilung, die man im stillschweigenden Einvernehmen auflöste. Beide Systeme, das alte und das neue, gebärdeten sich in kafkaesken Verrenkungen, wann immer ihre Sphären sich berührten oder in konkreten Sachfragen gar aufeinander angewiesen waren. Beispielsweise bei der Klärung von Eigentumsfragen, der zentralen Voraussetzung eines jeden Privatisierungsvorhabens, war das parallele UNMIK-Universum vonnöten, noch mehr sogar bei der Außenvertretung des Kosovos in internationalen oder regionalen Foren, die dem Zwergenstaat die Anerkennung als souveräne Entität versagten und sich kompromißweise maximal auf seinen vorigen Status einzulassen bereit waren.

Die fatale Bedeutung der Rechtsverwirrung im Kosovo für die Unmöglichkeit, die Grundlagen eines Rechtsstaates nach westeuropäischer Vorstellung zu schaffen, läßt sich kaum überschätzen. Mindestens vier bisweilen grundverschiedene Rechtsvorstellungen überlagerten und neutralisierten sich gegenseitig, so daß in der Folge ein Zustand weitgehender Rechtlosigkeit Regel statt Ausnahme war: