Kitabı oku: «Das Buch der Tiere», sayfa 2
DER MARLIN
AUTOR: Ernest Hemingway
TITEL: Der alte Mann und das Meer (aus dem Amerikanischen von Annemarie Horschitz-Horst)
ORIGINALFASSUNG: 1952
Der Fisch traf den Draht noch verschiedene Male, und jedesmal, wenn er mit dem Kopf stieß, gab der alte Mann ein bißchen Leine ’raus. – Ich darf seine Schmerzen nicht größer werden lassen, dachte er. Meine sind ganz egal. Meine kann ich beherrschen. Aber seine Schmerzen könnten ihn zum Wahnsinntreiben.
Die Erzählung trägt den Titel Der alte Mann und das Meer, aber eigentlich müsste sie Der alte Mann und der Marlin heißen. Mit dem Meer an sich kommt der alte Fischer Santiago nämlich ganz gut klar, das Problem ist nur, dass es relativ leergefischt ist. Und das vor sechzig Jahren, als noch nix war mit globaler Ressourcenausbeutung und Co.!
Als der alte Mann eines Tages ohne seinen jungen Freund und Helfer Manolin zum 85. Mal hinausfährt, um etwas zu fangen, begegnet er dem riesigen Blauen Marlin, auch Speerfisch genannt, »zwei Fuß länger als das Boot« oder sogar noch größer. Ein Verwandter des Schwertfisches, er hat mit diesem auch Ähnlichkeiten, aber kein spitzes, scharfes, sondern ein zylindrisches »Maul«. Mithilfe dieses Mauls frisst er tatsächlich die Ködermakrelen vom Haken ab und bleibt dann hängen.
Das ist der Beginn eines monströsen Pas de deux, eines mehrtägigen Duetts oder Duells zweier erbitterter Feinde, von denen einer den anderen aber als Freund bezeichnet, sich um ihn sorgt und dennoch sagt: »Aber ich werde ihn töten. In all seiner Größe und Herrlichkeit.«
Wenn das so einfach wäre! Viel zu schwach ist der alte Mann, zu stark der Fisch. »Fisch, du mußt sowieso sterben«, sagt er ihm. »Mußt du mich auch töten?« Der Klügere gibt nach, in diesem Fall aber weiß der Klügere, dass Nachgeben die schlechteste Lösung wäre.
Nur einmal bekommt Santiago seinen seltsamen Tanzpartner zu Gesicht, kurz vor dessen Tod: »größer als ein großes Sensenblatt und ganz hell lavendelfarben über dem dunkelblauen Wasser«. Er sieht seine violetten Streifen und die angelegte Rückenflosse und fühlt sich seinem Herzen besonders nahe. Derlei Sentimentalitäten und die faszinierende Bewunderung für den namenlosen Numinosen halten ihn aber nicht davon ab, dem Tier mit seiner Harpune, mit Müh und mit Not den Garaus zu machen. Es schreibt dies schließlich ein tougher Amerikaner der Fünfzigerjahre mitten in der Schwüle Kubas.
Tough ist auch, dass das tote Tier und all seine von Santiago im Laufe der gemeinsamen Bootsfahrt ins Treffen geführten Nährwerte schließlich den Haien anheimfallen. Der alte Fischer schläft vor Erschöpfung ein. Eine der am meisten unterschätzten Liebestragödien der Literaturgeschichte hat ein höchst unbefriedigendes Ende gefunden.
GATTUNG: Isithiophoridae
LEBENSRAUM: Atlantik
FARBE: Lavendel
GRÖSSE: zwei Fuß länger als das Boot, größer als ein großes Sensenblatt
MAUL: Speer statt Schwert
ERNÄHRUNG: Makrelen
BESTER-FREUND-DES-MENSCHEN-FAKTOR:
ARTENSCHUTZ: empfohlen
BERUF: Duetttänzer
DER WEISSE HAI
AUTOR: Peter Benchley
TITEL: Der Weiße Hai (aus dem Amerikanischen von Vanessa Wieser)
ORIGINALFASSUNG: 1974
Was wird Martin denn nun mit diesem Hai tun?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht. Ich nehme an, sie werden versuchen, ihn zu fangen.«
»Kannst du den Leviathan ziehen mit dem Haken und seine Zunge mit einer Schnur fassen?«
»Wie bitte?«
»Buch Hiob«, sagte Minnie. »Kein Sterblicher wird jemals diesen Fisch fangen.«
Moment mal, es gibt ein Buch über den Weißen Hai!? Ja, es war sogar sehr erfolgreich damals im Jahr 1974. Der Autor Peter Benchley war seit seiner Kindheit ein Hai-Fan gewesen und wurde von der raschen Verfilmung seines Romans (nämlich: 1975) nachhaltig traumatisiert. Einerseits schrieb er zornige Briefe an die Produzenten betreffend Fehler im Drehbuch, andererseits war er unendlich dankbar, an ein »Genie namens Steven Spielberg« geraten zu sein.
Dem »Fisch« gegenüber, wie er ihn an den empathischen Stellen seines Romans bescheiden nennt, hatte Benchley zeitlebens ein schlechtes Gewissen, weil er ihn so biblisch böse dargestellt hatte (Spielberg freilich fand bei der Lektüre alle menschlichen Charaktere so unsympathisch, dass er zum Hai hielt). Benchley betreute fürderhin hai-tere Umweltschutzprojekte.
Ähnlich wie im Film jedenfalls taucht der Große Weiße Hai – die Länge der Gattung wird mit sechs bis 35 Metern spekuliert – vor dem Ferienort Amity, Long Island, New York auf und beißt ohne größeren Widerstand badende Menschen durch. Bis ein Triumvirat aus Polizeichef Martin Brody und zwei unerschrockenen Hai-Experten ihn jagen und töten geht – alle in Kapitän-Ahab-Manier schon ein bisschen wahnsinnig geworden –, gehen einige Wochen vorbei und einige Menschen drauf.
Dann aber sehen sie ihn endlich: »An jedem Seitenende der Schnauze, wo die graue Farbe in Cremeweiß überging, waren die Nasenlöcher – tiefe Schlitze in der gepanzerten Haut. Das Maul war nicht ganz bis zur Hälfte geöffnet, eine verschwommene, dunkle Höhle, beschützt von riesigen dreieckigen Zähnen. Fisch und Männer standen einander etwa zehn Sekunden gegenüber.« Wenig später bemerkt der Polizeichef fröstelnd: »Er sah aus, als ob er grinsen würde.« Und am nächsten Tag erlebt er dann das grausige Bild des halb aus des Fisches Maul hängenden Oberkörpers eines der Haiologen (der im Übrigen natürlich mit Brodys Frau geschlafen hat). Den anderen, einen geldgierigen Irren, frisst der Weiße Hai dann am nächsten Morgen.
»Der Fisch schien nie dagewesen zu sein«, heißt es einmal. Benchley beschreibt ihn zwar plastisch, zoomt hin und wieder auf seine Bewegungen, versucht seine Wahrnehmung nachzuvollziehen, aber die Fake News der intendierten Bösartigkeit schafft er nicht zu entkräften.
Der zwischen Supererfolg und zoologischer Integrität schwankende Peter Benchley starb 2006. Wahrscheinlich war das zu seinem Besten: Die Sharknado-Filmreihe (ab 2013) hätte er nicht gut verkraftet.
GATTUNG: Carcharodon carcharias
LEBENSRAUM: Atlantik
SCHNAUZE: kegelformig
ZÄHNE: dreieckig
ERNÄHRUNGSTYP: »Müllschlucker«
ARTENSCHUTZ: empfohlen
LÄNGE: variabel
Natürliche FEINDE: keine ernst zu nehmenden
DER ORCAFERON
AUTOR: Stefano D’Arrigo
TITEL: Horcynus Orca (aus dem Italienischen von Moshe Kahn)
ORIGINALFASSUNG: 1975
Ein Koloss von einem Körper, um die fünfzehn Meter lang und einige Tonnen schwer, von fetter Haut, die dampft wie erkaltende Lava und schwitzt so gemeine Düfte aus, dass man meint, alle seine Funktionen würde er mittels Ausschwitzen durch die Poren seiner Haut erledigen …
Er ist ein Kubikkillerwal, ein Orkan-Orca, ein überwältigendes Wesen, dem Moby Dick wahrscheinlich sofort sein Pausengeld herausgäbe. Ihn elefantös zu nennen, täte jedem Elefanten Ehre. Der mythische Orcaferon oder Orcinus Orca oder Tiergigant präsentiert sich so numinos, so unvorstellbar groß, dass selbst seine Beschreibung in einem Satz sich exzessiv breitmacht und am besten in Scheibchen zu genießen ist:
»… eine Körperform wie ein riesenhafter Torpedo, von ungeheuerlicher, schreckenerregender Düsternis; eine geschlossene, undurchdringliche Form, eine leichenartige Färbung von warmem, schimmerndem Schwarz …«
So monströs wie sein fabelhafter Meeressäuger ist Stefano Fortunato D’Arrigos ganzes Werk. Der 1975 erschienene Klassiker über die Odyssee eines Kriegsheimkehrers nach Sizilien hat 1500 Seiten und etwa 2000 Wortneuschöpfungen, zum Beispiel »Fere« für eine Art tückischen Delfin, der das gewisse Etwas und weiblichen Charme besitzt, statt nur männlich angeberisch herumzuplanschen. Wir schalten zurück zur Walberichterstattung:
»… der Kopf mit dem Knochen aus zwei Öffnungen des Atemlochs, das sich da befindet, wo der Hals hätte sein sollen, er ist mit dem Rest zu einem Ganzen verleibt, eine miteinander verschmolzene Einheit …«
Immer noch nicht fertig. Vor der letztlich 1975 erfolgten Veröffentlichung »überarbeitete« D’Arrigo seinen Roman noch einmal: Das dauerte 16 Jahre, und er fügte bei der Gelegenheit etwa tausend neue Seiten hinzu. Alle waren sich einig: Ein schwindelerregendes Meisterwerk von poetischer Kraft und absoluter Unles- und vor allem Unübersetzbarkeit war geboren.
Einer versuchte es dennoch, das Lesen und das Übersetzen: Der deutsche Moshe Kahn, der den 1992 verstorbenen D’Arrigo vor dessen Tod noch einige Male persönlich begegnet war. Er schuf seinerseits neue Wörter wie »erohräugen« (sehen und hören) und »Chinesischesdingsda« (Penis) und brachte 2015 eine preiswürdige Übersetzung heraus: den neuen Killerwal unter den Wälzern.
Ach ja, das Ende der Beschreibung fehlt noch:
»… alarmierend, unentzifferbar und Schauder hervorrufend, etwas, das man von weitem für ein geheimnisvolles Todeswerkzeug halten könnte, wie eine Art lebendiger und dauernd herumirrender Torpedo.«
Und was macht der Orcinus Orca? Nicht viel. Da sein. Das Meer sein. Feren verscheuchen. Langsam dahinsiechen. Dem Menschen seine Kleinheit vorhalten.
GATTUNG: Orcinus orca
KLASSE: Säugetier (= Fisch mit Chinesischemdingsda)
LEBENSRAUM: Das Meer vor Sizilien
SOZIALVERHALTEN: zermalmt Fischschwärme
WWF-FAKTOR:
GERUCH: bestialisch
DER BUTT
AUTOR: Günter Grass
TITEL: Der Butt
ORIGINALFASSUNG: 1977
Solange die Anklageschrift verlesen wurde, lag der Butt reglos auf dem Wannenboden aus Zinkblech, als betreffe ihn nicht der Vorwurf, seit Ende der Jungsteinzeit in beratender Funktion ausschließlich, und bewußt zum Schaden der Frauen, die Männersache betrieben zu haben.
Nicht Gott im Himmel: Butt im Wasser. Nicht Gott zum Gruße: Butt zur Buße. Der Fisch, geliehen aus dem alten Märchen Von dem Fischer und seiner Frau von Philipp Otto Runge, ist es, der bei Günter Grass wie eine auktoriale Instanz die Menschheitsgeschichte bestimmt. Im Gegensatz zu jenem, dem Originalbutt, berät dieser Butt aber nicht die Frau mit dem schönen Namen Ilsebill, sondern ihren Mann.
Der platte Fisch aus dem plattdeutschen Märchen hat es sich also bis zum Jahr 1977 anders überlegt. Er, selbst ein gestandener Milchner (im Gegensatz zum Weibchen, dem Rogner), steht jetzt dem Manne beratend zur Seite.
Damit ist nicht zuletzt der Autor selbst gemeint: »An einem zeitlosen Tag, heiter bis wolkig, fing ich den Butt.« Seither ist er das Teufelchen auf seiner Schulter und stiftet ihn zu klotzigen Gesten von historischem Ausmaß an: zu Kriegen, zu Gier und zu Völkerwanderungen.
Aus der Küche duftet es derweil köstlich. Die stets kochenden Frauen, von Ilsebill, prominenten Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts und diversen Köchinnen repräsentiert, haben die fischige Macho-Kiste irgendwann satt. Sie stellen den Butt vor ein feministisches Tribunal und klagen ihn der ruinösen Beeinflussung der Geschichte an.
In der ihm eigenen Eloquenz gibt der Fisch schließlich klein bei und räumt ein: Ja, die Männer seien Egomanen, die Frauen hätten stets gekocht und Kinder ausgetragen (im ursprünglichen Märchen war noch die Frau wegen ihrer Unersättlichkeit und Gier an allem schuld). Mit verächtlicher Ironie und überheblicher Belesenheit, die jener von E.T.A. Hoffmanns Kater Murr Konkurrenz macht, fügt sich der Angeklagte einer neuen Zukunft.
Die ihm auferlegte Strafe liegt auf der Hand, haben die Frauen doch die ganze Zeit kaschubisch gekocht – ein Thema, von dem der aus Danzig stammende Autor Günter Grass stets besessen war. Warum sie da nicht früher draufgekommen sind, die Ilsebills? »Kühler Riesling stand bereit. Die dampfenden Schüsseln wurden aufgetragen.« Genau, ein großes Buttessen gibt es.
Günter Grass handelte sich für seinen gut gemeinten und famos geschriebenen, aber eben trotzdem klischeebeladenen Geschlechterkampfroman den Titel »Pascha des Monats« der Frauenzeitschrift Emma ein. Der Butt konnte dafür natürlich nichts. Obwohl das alles in Wahrheit vermutlich seine Idee war.
GATTUNG: Scophthalmus maximus
BERUF: Berater
HUMOR: platt
GESCHLECHT: Macho (Milchner)
ALTER: ewig
MENSCHLICHKEITSFAKTOR:
KULINARIKFAKTOR:
ARTENSCHUTZ: nicht empfohlen
Natürlicher FEIND: das Feminal
VORBILD: der Frauenversteherbutt
Die
Summenden,
Sirrenden und
Zirpenden &
ihre Jäger
DIE AMEISE
AUTOR: Jean de La Fontaine
TITEL: Die Grille und die Ameise (aus dem Französischen von Ernst Dohm und Gustav Fabricius)
ORIGINALFASSUNG: 1668
Und vor Hunger weinend leise
Schlich’s zur Nachbarin Ameise;
Fleht’ sie an, in ihrer Not
Ihr zu leihn ein Körnlein Brot.
Mit den Fabeln ist das sehr kompliziert. Jeder kennt die Tiermärchen mit der moralischen Zeigepfote, viele wissen, eigentlich hat der alte Grieche Äsop sie gedichtet, im 6. Jahrhundert vor Christus. Die wurden aber in erster Linie mündlich überliefert, und niedergeschrieben haben sie dann viele, viele Menschen, die sprachlich versiert waren, sich aber keine eigenen Geschichten ausdenken wollten: in Deutschland etwa die Gebrüder Grimm, Lessing und Goethe, in Frankreich La Fontaine, der sie in Versform gebracht hat, während wir als Kinder wahrscheinlich unter seinem Namen Bilderbücher mit ungereimten, nett erzählten Prosatexten vorgelesen bekamen.
In Prosa wurden die Verse auch vom Barockpoeten Abraham a Sancta Clara übertragen. Die bekannteste fabula, die uns selbst in Roland Schimmelpfennigs Drama Der goldene Drache noch begegnet, ist jedenfalls die von der Ameise und der Heuschrecke oder von der Ameise und der Zikade oder von der Libelle und der Ameise oder von der Grille und der Ameise (wie bei La Fontaine). Die mit der Ameise jedenfalls. Warum?
Vielleicht weil die Ameise, sonst dank ihres Fleißes und der unverkrampften Solidarität mit ihren Baugenossinnen positiv konnotiert (der Begriff lautet: Eusozialität!), hier auch durchaus arrogant, ja gemein gelesen werden kann? Weil die Geschichte sowohl politisch links als auch politisch rechts als Beispiel herhalten kann und somit die ewige Unversöhnlichkeit der beiden Seiten aufzeigt?
Die Ameise hat jedenfalls den ganzen Sommer Nahrung beiseitegeschafft und somit vorgesorgt, die alte Streberin.
Die Grille hat sich den ganzen Sommer die Sonne auf den Bauch scheinen lassen und gezirpt, sich vielleicht zum Gaudium der Tierwelt als Zikade oder Libelle verkleidet und missachtet, dass sie im Winter einen ziemlichen Heuschreck erleiden wird, weil nichts mehr zu fressen da ist. Sie geht also zur Ameise und bettelt. Und die Ameise sagt: »Selber schuld.« Das war’s. Weiter geht es nicht. La Fontaine braucht ganze 22 kurze Verse dafür und lässt uns dann selbst im Regen stehen wie eine Grille vor dem Ameisenhaufen.
Diese Geschichte ist unfassbar unbefriedigend. Es ist ein Wunder, dass sie uns nicht zu Wutausbrüchen getrieben hat, als wir Kinder waren. Was sagt uns das denn jetzt? Dem Fuchs mit seinen Trauben gönnten wir das »Selber schuld«, der Ameise wollen wir es am liebsten um die Ohren hauen. Aber sie hat ja keine.
Soll die Grille verhungern? Soll sie es als Heuschrecke, Zikade oder gar Grashüpfer tun? Und soll dann die Ameise wegen unterlassener Hilfeleistung vor den Tiergerichtshof? Voten Sie jetzt.
GATTUNG: Formicidae
LEBENSRAUM: Speisekammer
NOTE: sehr gut mit Sternchen
SLOGAN: Leistung für Leistung!
HYMNE: Ätschi-bätschi!
SOZIALVERHALTEN: Ui.
KOLJAS IGEL
AUTOR: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
TITEL: Der Idiot (aus dem Russischen von Arthur Luther)
ORIGINALFASSUNG: 1869
Haben Sie meinen Igel erhalten?«, fragte sie mit fester und beinahe zorniger Stimme.
»Ja«, antwortete der Fürst errötend und starr vor Angst.
»Erklären Sie mir sofort, was Sie darüber denken! Das ist notwendig, um meiner Mutter und unserer ganzen Familie Ruhe zu verschaffen.«
Es sind doch immer die Igel, die leiden. Die kleinen, unglaublich süßen Wesen, von denen man dachte, sie werden unweigerlich die Beziehung retten. Sie meinen es gut, sie lassen einem das Herz aufgehen, aber dann wollen sie sich doch nicht immer streicheln und abbusseln lassen und erweisen sich als ein bisschen stachelig. Und dann, in null Komma nichts, ist alles kompliziert.
Wie Dostojewski auf die Idee kam, im vierten Teil seines monumentalen Romans Der Idiot ausgerechnet einen Vertreter der Gattung Erinaceidae – vermutlich den Nördlichen Weißbrustigel – als Dreh- und Angelpunkt für die aufgeladene Stimmung zwischen Fürst Myschkin und der liebreizenden Aglaia einzubauen? Es ist jedenfalls eine bestechend originelle Idee – dafür, dass der Igel nur als Symbol dient.
Und dann ist auch noch alles irgendwie Zufall, ein impulsiver Annäherungsversuch, mit dem der kindlich naive Fürst Myschkin, der natürlich in Aglaia verliebt ist, nicht umgehen kann: Die Gymnasiasten Kolja und Kostja haben von ihrem Kollegen Geld erhalten, um die Weltgeschichte von Schlosser zu kaufen. Stattdessen haben sie einem Bauern den Igel und ein Beil abgekauft, was ihnen sehr peinlich ist (das Beil peinlicher als der Igel). Aglaia überredet sie, ihr den Igel (nicht das Beil) zu verkaufen, setzt ihn in ein Körbchen, deckt ihn liebevoll zu und schickt ihn mit Kolja dem Fürsten Myschkin, jenem fragilen Freund der Familie, als Geschenk.
Und wir wissen ja alle, was ein Igelgeschenk bedeutet!
Nein, wissen wir nicht. Auch russische Adelige im 19. Jahrhundert hatten nicht die Tradition, pieksende Säugetiere per Botendienst zur Evozierung von Heiratsanträgen durch Petersburg zu jagen.
Nach Aglaias Logik entspricht der Igel aber praktisch einem Verlobungsring: rund, kostbar – na ja, das war es auch schon mit der Vergleichbarkeit. Der Fürst, unerfahren in Liebesdingen, versteht nicht. Es ist ein Igel. Er freut sich, er besucht sie am nächsten Tag. Sie stellt ihm ein Ultimatum: Hält er jetzt also um ihre Hand an oder nicht? Er ist überwältigt und sagt ja. Aber Aglaias Mutter ist über den potenziellen Schwiegersohn entsetzt, und ihre Schwestern brechen in hemmungsloses Gelächter aus. Sie behaupten glaubhaft, der Antrag sei nie ernst gemeint gewesen und begründen das mit dem Igel: »›Ich habe es ja gewußt, daß sie nur ihren Spott trieb und nichts weiter!‹ rief Adelaida. ›Von Anfang an, schon von dem Igel an!‹«
Myschkins ästhetische, zoologische oder auch kulturgeschichtliche Bewertung des Igels wird danach nie wieder abgefragt. Auch ob den armen Kerl in der Zwischenzeit irgendjemand gefüttert hat, steht nicht im Roman. Ein Jammer, diese symbolhafte Nachlässigkeit.
GATTUNG: Erinaceidae
LEBENSRAUM: ein Körbchen in Russland
KUNDEN, DIE SICH DAFÜR INTERESSIERTEN, KAUFTEN AUCH: ein Beil
SOZIALVERHALTEN: abweisend
WWF-FAKTOR:
DER MAULWURF
AUTOR: Kenneth Grahame
TITEL: Der Wind in den Weiden (Aus dem Englischen von Harry Rowohlt)
ORIGINALFASSUNG: 1908
Der Maulwurf«, meinte der Dachs, »hat im kleinen Finger mehr Verstand als manche Tiere im ganzen fetten Körper. Der Maulwurf wird es zu etwas bringen, das weiß ich heute schon.«
Der Komiker Stephen Colbert erklärte einmal, jeder, der schon eine gewisse Prominenz habe, könne ein Kinderbuch schreiben und damit Geld machen. Er bewies es mit einer absurden Publikation über einen Pfosten: I Am a Pole and So Can You. Die Reimassoziation führt uns zum Ohrwurm I Am a Mole and I Live in a Hole. Und damit wären wir schon bei Mole, dem Maulwurf, in der kurios erfolgreichen, tausendfach mehr oder weniger animiert verfilmten Geschichte Der Wind in den Weiden.
Die schrieb ein pensionierter Direktor der Bank of England, der während seiner Arbeitszeit noch viel bessere und erfolgreichere Kinderbücher verfasst hatte. Keiner konnte so recht etwas anfangen mit den erratischen Geschichten von vier sehr menschlich agierenden Tieren (Maulwurf, Ratte, Dachs und Kröterich), und doch können anglophone Menschen heute noch aus Kindertagen daraus zitieren. »Messabouts«, beliebte Abhäng-Events, die oft spontan in den sozialen Medien organisiert werden, gehen auf die Originalzeile zurück: »Believe me, my young friend, there is nothing — absolutely nothing — half so much worth doing as simply messing about in boats.«
Der Maulwurf nickt auf diese Grundsatzerklärung der Ratte nur eifrig. Er ist der charakterärmste unter den Protagonisten, aber so etwas wie die Identifikationsfigur. Er ist nicht blind, wie man meinen könnte (obwohl Kenneth Grahames Sohn Alastair eine Augenkrankenheit hatte). Er rettet am Ende auch wie richtige Romanhelden den Tag, indem er die Hermeline aus Schloss Krötinhall vertreibt. Bis dahin aber zeigt er sich naiv, neugierig und ohne Schrullen wie die anderen.
Das Maulwurfigste an ihm ist die Tatsache, dass er sich unter der Erde, im Haus des Dachses, wohler fühlt als am Fluss, wohin ihn die Wasserratte immer zerren möchte. Gleichzeitig ist der Maulwurf loyal und ordentlich und macht im Zweifelsfall jeden ihm aufgehäuften Unsinn mit. Autofahren mit dem Kröterich? Okay! Den Kröterich am Autofahren hindern, weil zu gefährlich? Ach so. Ja, genau!
Monty-Python-Star Terry Jones hat die vielen Zeichentrickfilme und -serien auf Basis des Romans 1996 um eine mit echten Menschen ergänzt, zehn Jahre später folgte eine weitere von Rachel Talalay. Schon die allererste Verfilmung 1947 war eine, in der Menschen in Tierkostüme schlüpften. Sie beruhte auf einer Theateradaption von A.A. Milne, dem Autor von Pu der Bär, dessen Sohn Der Wind in den Weiden abgöttisch liebte.
Die negative Assoziation von Maulwürfen mit Spionage kam übrigens erst später auf. Die prägte John Le Carré mit seinem Roman Dame, König, As, Spion.
GATTUNG: Talpa europaea
ERNÄHRUNG: Gänseleberpastete, Champagner
MENSCHLICHKEITSFAKTOR:
KNUDDELFAKTOR:
FILMDARSTELLER: Jack Newmark, Steve Coogan, Lee Ingleby