Kitabı oku: «Diagnose: Mingle», sayfa 3
Ein Brathuhn zum Verlieben
Schon während der Teenagerjahre meiner ersten Tochter habe ich die Erfahrung gemacht, dass mein Grundberuf als Frauenärztin gemeinsam mit dem mir aufgeklebten Etikett »Psycho« dazu führt, dass die pubertierenden Freundinnen meiner Töchter informelle Sprechstunden in familiärer Atmosphäre suchen. Und zwar, um jenen neu zu erobernden Lebensbereich rund um Periode, Verhütung, die zulässige Vielgestaltigkeit möglicher vaginaler Ausflüsse in Abgrenzung zu den Besorgnis erregenden, Sex, Herz und Männer diskutieren oder auch gemeinsam reflektieren zu können. Gemeinsames Herumlungern auf dem großen Mädchenbett ist dafür ein gutes Ausgangsszenario. Oder auch ein Abendessen, zu dem man noch schnell ein oder zwei Teller dazustellt, weil das eine oder andere der Girls, das zum Aufgabenmachen oder »Chillen« rübergekommen ist, entschieden hat, noch ein wenig länger bleiben zu wollen. Diesmal war es ein Zitronenbrathuhn mit Reis, das in einer leicht suppenähnlichen Sauce friedlich vor sich hin schmorte, das zum Abendessen auf dem Programm stand. Gott sei Dank waren es eigentlich zwei davon, denn drei Freundinnen meiner mittleren Tochter, allesamt in der Hochblüte pubertätsbezogener Lebensthemen, hatten sich kurzfristig angesagt. Ich mag Kerzenlicht, es verleiht dem gemeinsamen Tisch mehr Wärme und eine Qualität von Langsamkeit, die Gespräche gut in Gang zu bringen vermag. So fanden wir uns allesamt über Brathuhnkeulen und -brüste hinweg rasch in einer angeregten Diskussion zum Thema Nummer eins. Dabei gilt es natürlich die vorgeschützte Erfahrenheit und den souveränen Wissensstand zu respektieren und nur sanft zu korrigieren, dass es zum Beispiel doch weniger vordringlich der Sex während der Menstruationsperiode ist, der zu Schwangerschaft führen kann, als jener in der restlichen Zykluszeit. Das Gespräch hatte dem üblichen Ritual zu Folge von allgemeinen Fragestellungen wie AIDS und Hausmittel für gesunde Scheidenflora bereits seinen Bogen zu den mehr persönlichen individuellen Fragestellungen genommen. Nun konnte es in jene Endstrecke höchsten Interesses und aufgeregter Brisanz einzumünden, in der ich dann auch meine »Psycho-Kompetenz« einbringen sollte: Jungs, Mädchen und Sex. Wie weit geht man als Mädchen mit einem Jungen? Und wie lange soll man warten, bis man es tut? Was darf man nicht tun, wenn man an einem Jungen ernsthaft interessiert ist? Sind Jungs einfach weniger treu als Mädchen? Soll man beim Sex alles tun, was der Junge will? Kann man einem Jungen sagen, wie er es tun soll? Wie geht man vor, wenn man sich in denselben Jungen verguckt wie die beste Freundin? Diese und ähnliche Fragestellungen jener Stromschnellenphase des Eintritts ins Beziehungsleben hatten wir bereits vor etwas mehr als sieben Jahren mit meiner ältesten Tochter und ihren Freundinnen ausgiebig diskutiert. Nun waren meine mittlere Tochter und ihre Freundinnen meiner Einschätzung nach ebenfalls an diesem Konjugationspunkt der Planetenbahnen von Mann und Frau angelangt. Sie befanden sich gerade in der Geburtsstunde der eigenen Beziehungs- und Sexualphilosophie ihrer Generation. Und dann sagte Gina, deren wogender, lasziver Gang in den letzten Monaten gerade seine letzte Unbewusstheit verloren hatte, jenen Satz, der mich seither schlichtweg nicht mehr losließ: »Get sex and stay detached!«, strahlte sie mir mit jener vollkommenen Treuherzigkeit entgegen, die nur wirkliche Überzeugung zu Wege bringt. Dabei warf sie ihre blonde Mähne mit einer eleganten Bewegung zurück. Die letzten Bissen meines Huhns würden an diesem Abend auf meinem Teller bleiben. Das wurde mir schlagartig bewusst, während ich mich in der Runde der Freundinnen umsah. Niemand machte Anstalten, einen Einwand formulieren zu wollen. Meine eigene Tochter schien mich, nach der allgemeinen, kurz aufgeflammten Heiterkeit, die kraftvolle Ansagen unter Jugendlichen zumeist nach sich ziehen, mit ihrem Blick zu fixieren und meine Reaktion abzuwarten. Die anderen Mädchen begannen bereits, die Vorteile dieses Zugangs zum Thema heftig zu diskutieren.
»Wie meinst du das, Gina?«, versuchte ich nachzuhaken. »Was soll das heißen? Get sex and stay detached!«, wiederholte ich.
»Genau das!« Ihr Tonfall war jetzt von großer Ernsthaftigkeit. »Sex ist einfach fun, fühlt sich super an und macht Spaß, aber wenn du dich dann an einen Typen hängst, wird alles immer total schwierig, und am Ende tut es weh. Es ist einfach viel besser, das gar nicht zu machen«, erklärte sie mir sehr sachlich.
»Okay, du meinst, wenn du irgendwie an einen Jungen gerätst und dann merkst, dass es nicht der richtige ist, dann ziehst du dich rasch von ihm zurück«, versuchte ich ihre Aussage ins für mich richtige Fahrwasser zu bringen. Doch Gina machte mir deutlich, dass es sich hier nicht um eine Notfallstrategie nach einer Fehleinschätzung in der Wahl eines Jungen, sondern um ein Grundkonzept handelte. »Ich mach das mit jedem so«, beharrte sie.
Ihre Freundinnen nickten. Ich bekam das Gefühl mit einer neuen Kulturnorm konfrontiert zu sein. »Aber entschuldige«, widersprach ich, »wie ist das mit dem Sich-Verlieben? Kommt das nicht vorher oder zumindest dann, wenn man miteinander geht?«
»Nein«, bekräftigte sie ihren Ansatz, »das lass ich gar nicht aufkommen.«
Ich schob meinen Teller endgültig von mir weg, zündete mir eine Zigarette an und dachte kurz nach. Gina kannte ich seit dem Kindergarten. Auch Anna und Zora, die jetzt ihrerseits dieses Konzept zu verteidigen begannen. Sex und Liebe hat schlichtweg nichts miteinander zu tun. Sex ist fun, Sex konsumiert man, das war die Aussage. Sie verabredeten sich bisweilen auch dazu, ganz cool und nüchtern, nachmittags nach der Schule. Natürlich wussten das die Eltern nicht, die kein Zitronenbrathuhn servierten. Zur Bekräftigung der Theorie erzählte Anna von einem »süßen Typen«, der einfach echt super aussah und den sie deswegen haben wollte. Sie hatte sich mit ihm ein Date abgemacht, das schon in seiner Planung ganz offen die Zielsetzung, miteinander zu schlafen enthielt. Genau genommen war sie nach der Schule zu ihm gekommen, sie hatten sich ausgezogen und es gemacht, und dann war sie wieder gegangen. Peng, das wars. Erledigt. Annas Beschreibung ihres Nachmittags und vor allem des Zugangsmodus schien hier am Tisch niemanden wirklich vom Sessel zu hauen. Ich sah mir die Mädchen so an, wie sie vor mir saßen. Ich kannte auch ihre Eltern, lauter »normale Familien«, wirtschaftlich zumeist etwas besser aufgestellt, engagierte Eltern, die für ihre Kinder immer das Beste wollten. Natürlich die üblichen Schwierigkeiten von einer geschiedenen Ehe hier oder dort, beide Eltern berufstätig, allesamt gefügte Persönlichkeiten und in ihrem Erziehungsverhalten diskussionsbereit und reflektierend. Sie hatten versucht, von klein auf der Persönlichkeit ihrer Kinder Entwicklungsspielraum zu geben.
»Aber WIE, Gina, wie um alles in der Welt schaffst du das?«, entschied ich mich, das Krisenfeld Anna vorerst beiseite zu lassen und mich Ginas Dogma zuzuwenden. Sicher wirkte ich ziemlich entgeistert. »Wenn ich mit einem Mann schlafe, dann passiert dabei mehr als nur Erregung, und im Idealfall schwingt mein Herz schon mit, wenn ich es das erste Mal mit ihm tue. Es ist für mich ein Ausdruck eines Prozesses zwischen mir und diesem Menschen. Auch wenn das keine lange Beziehung werden sollte, weil sich herausstellt, dass er oder ich Einwände haben oder wir etwas in Folge des ersten Überstrahlens durch die leidenschaftliche Anziehung übersehen haben, so ist da doch diese Grundintention nach Bindung und Beziehung.«
Jetzt wirkt Gina vollkommen entgeistert. »Ich will ganz sicher mit keinem Jungen fix gehen. Das tut nur weh, und du hast ihn die ganze Zeit in deinem Kopf. Ich will da nichts entwickeln, ich will einfach Spaß haben und das alles machen und erleben, was es gibt.«
Auch hier nickten Anna und Zora bekräftigend. Ich war verunsichert, ob es sein konnte, dass es meine Tochter jetzt vielleicht nur deswegen unterließ, ihre Akzeptanz dieser Haltung auszudrücken, weil ich am Tisch saß.
»Aber WIE machst du das?« fragte ich nochmals nach.
»Ich sag mir einfach immer sofort danach, dass es jetzt aus ist, dass es nur Sex war und ich nichts von dem Jungen wissen will. Ich rede kaum mit ihm, und wenn ich merke, dass er mir gefällt, schlaf ich einfach mit einem anderen, um ihn aus meinem Kopf zu bekommen. Es ist ja nur Sex, das heißt doch nichts.«
»Hm«, kapitulierte ich und schob noch etwas in der Art nach, dass ich mir das schlecht als längerfristig taugliches Modell vorstellen könne, um über diese Einführung einer Zeitachse mit meiner Seniorität wieder Oberhand zu gewinnen. Als ob ich sagen würde: »Wart mal, Kleines, bis du so alt bist wie ich.« Im Prinzip im Kern eine unfaire Ansage, da ich ihr damit die Gleichwertigkeit ihrer Meinung zu rauben versuchte. In Wirklichkeit fühlte ich mich hilflos. Es spürte sich an, als würden sich Eiskristalle auf mein Herz legen und meine Brust einfrieren. Sexualität und Bindung voneinander abzuspalten, so früh, so jung, ganz am Anfang beim Eintritt ins Beziehungsleben, sozusagen als Grundmodus oder allgemeine Kulturnorm einer Entemotionalisierung. Sexualität nicht mehr als tiefe und sehr persönliche Kommunikation mit einem speziellen Menschen sehen zu können, besorgte mich in dieser Konzeptform. Hier ging es nicht darum, dass jemand von Leidenschaft überrannt wurde oder das Gegenüber falsch eingeschätzt hatte. Oder dass jemand sich vielleicht einmal so fühlte, wie es der Volksmund als »notgeil« benennt, und sich in einer sexuellen Situation wiederfindet, die sich auf der Bindungsebene dann nicht als tragfähig erweist. Hier ging es darum, diese Bindungsebene gar nicht mehr anzustreben, aus Prinzip. Diese grundsätzliche Abspaltung der Sexualität von Intimität und emotionaler Öffnung und die damit verbundene Reduktion auf ein Konsumerlebnis, eine Jagdtrophäe, fühlte sich für mich sehr unbehaglich an. Wo würden denn die Bindungsbedürfnisse dieser jungen Mädchen gestillt werden, wenn sie über dieses Konzept nicht hinauswuchsen? Wie würden sie ihre Geborgenheit finden? Was wären die Konsequenzen, was der Preis, für diese dahinterliegende Wehleidigkeit, sich den möglichen Schmerz des Verlassenwerdens ersparen zu wollen? Würde Anna, deren Stofftiersammlung mir meine Tochter nach einem Besuch erst kürzlich beschrieben hatte, ewig mit ihren Kuscheltieren zu Bett gehen? Würden sie Karriere machen und wie Mathilde ihre Wochenenden dann mit ganzen Staffeln von Soaps zubringen? Oder würden sie ewige Anhängsel ihrer Familien bleiben, so wie Mark es heute schon in Perchtoldsdorf bei seinen Eltern war? Würden sie noch in zehn oder 15 Jahren als gewiefte Jägerinnen nach Dienstschluss durch die Bars und Nachtlokale auf der Suche nach dem nächsten Blattschuss ziehen, sich die aufkeimende Einsamkeit mit Schuh- oder Handtaschenkäufen wegblasen wollen? Oder würden sie diesen Betriebsfehler, der ihnen, weiß Gott wie, verpasst worden war, doch überwachsen können?
In dieser Nacht schlief ich schlecht, obwohl Hühnchen der Nimbus von Schonkost anhaftet. Das abendliche Gespräch mit den Girls ließ mich nicht los. Gegen zwei Uhr Früh fand ich mich dann in meiner Küche wieder und versuchte die Puzzleteile meiner bisherigen Ergebnisse und Einsichten zu ordnen.
Die Stille der Nacht und die mich umgebende ruhende Stadt bildeten einen wirksamen Hintergrund, um all die Erlebnisse und Gespräche der letzten Monate zu rekapitulieren und Patientenkarteien durchzugehen. Wie ließen sich die unterschiedlichen Teile in Bezug zu einander setzen? Wie stellte sich das Thema Lieb aus dem gesellschaftlichen Blickwinkel heute denn eigentlich dar? Bei Ralfs Lebensgeschichte oder auch der von anderen Patienten war jemand mit ungeübtem analytischem Blick doch eigentlich geneigt zu attestieren, dass seine tiefere emotionale Unerreichbarkeit eben die Auswirkung eines »blöd gelaufenen« Lebenskonflikts wäre. Dass aus der damit abzuleitenden emotionalen Enttäuschung und Erschöpfung ein solider Rückzug aus dem Gefahrenfeld tieferer Bindungen und möglicher Neuenttäuschungen resultierte, mutete aus der heutigen Perspektive eines rationalen, fest im Leben stehenden modernen Menschen doch fast nachvollziehbar, ja logisch an. Genauso wie die Tatsache, dass dieser Mann sich kurzweilig zu beschäftigen wusste, noch dazu auf Luxusniveau durch das entsprechende Kleingeld. Der ihn verfolgende Albtraum war vielleicht als ein bedauerlicher Kollateralschaden zu sehen, dem man am besten mit der Angebotspalette der Pharmazie beikommen konnte. Und auch für Elisabeth gab es eine anfeuernde Schar von Freundinnen, die es völlig in Ordnung fanden, den »Mann vom Reißbrett«, der es ganz nach ihren Erwartungen bringen musste, mit ihr zu designen, genauso wie Birgits »Dreierregel« in ihrem Umfeld auf durchgreifende Akzeptanz stieß. Da war kaum einer dabei, der ihr ins Gewissen redete, um ihr deutlich zu machen, dass ihre eigentlichen, tieferen Bedürfnisse nach Wärme und Geborgenheit mit dieser Strategie kaum realisierbar sein würden. Und gleichzeitig, so war mein Empfinden, offenbarte sich hier, an der Art und Weise, wie wir geneigt sind, Ralfs, Elisabeths oder Birgits Situation und die jeweilige Strategie als richtig, ja unvermeidlich zu akzeptieren, bereits ein haltungsmäßiger Drift hin zur Akzeptanz von Gefühlsdämpfung als Lebensmodell. Letztendlich ein erster Klang einer gesellschaftlichen Haltung der Resignation, was unseren kollektiven Glauben an Liebesbeziehungen betrifft.
Ist nicht der eigentliche Unterschied in Geschichten meiner Patienten, wie der von Ralf, von Elisabeth oder Birgit und den Lebenskonstruktionen meiner Freunde oder Bekannten nur der, dass bei den einen das Leiden an der Beziehungslosigkeit einen lauten, von Symptomen begleiteten Ton annimmt? Während es den anderen gelingt, zumindest unauffällig in ihrer Unzufriedenheit zu bleiben. Verbirgt sich in der Art, wie wir als Gesellschaft »Gefühlsschwäche im Lieben« einfach als normal hinnehmen, hier nicht eine allen gemeinsame Paradoxie? Sollte nicht der durch seine Lebensstürme gereifte Mensch, der gut in den mittleren Jahren angekommen ist, der seine wirtschaftliche Bewährung und seine soziale Position erfolgreich zu behaupten gewusst hat, gleichzeitig auch der sein, der begriffen hat, dass sein berühmtes letztes Hemd keine Taschen haben wird? Sollte nicht gerade der Mensch dieser Altersgruppe mit Mut und voller Kraft, mit entwickelter Großzügigkeit und beginnender Weisheit dem Lieben begegnen können, statt auf der Jagd nach seinem Handicap um den Globus zu touren und maximal »Frischfleisch« konsumieren zu wollen?
Überall ging es letztendlich darum, das Fühlen für ein Gegenüber möglichst draußen zu lassen, sich möglichst wenig selber einzulassen und möglichst viel von einem Gegenüber zu bekommen. Denn der Wunsch danach, geliebt zu werden, war durchaus und oft mit pampigem Unterton spürbar. »Seltsam«, dachte ich mir damals in dieser Nacht zum ersten Mal, »ein infantiles, trotziges, wehleidiges Konzept als Umgangsform mit dem Thema Bindung, Beziehung und Liebe macht sich in unserer Gesellschaft als Routinenorm immer mehr breit und erfährt immer stärkere Zustimmung.« Und bei den jüngeren, jetzt in der Altersgruppe der klassischen Familienbildung stehenden Menschen schien der psychische Apparat erst gar nicht richtig in die Gänge zu kommen. Dort hatte es den Anschein, als würden jene reiferen Ich- funktionen, die ein langfristiges gemeinsames Beziehungsleben ermöglichen, gar nicht mehr ausreifen. Das korrelierte gut damit, dass wir die Grenze der Jugendlichkeit in Studien klammheimlich bereits auf 29 Jahre hinaufgesetzt hatten. Es passte auch dazu, dass die nackte, nüchterne Datenlage des National Institute of Health jenen heutigen jungen Erwachsenen in ihren 20ern eine dreimal so hohe Rate an narzisstischen Persönlichkeitsstörungen bescheinigte, wie den 65-Jährigen. Auch das Faktum, dass Millennials ihr Leben gern als das eines Hybriderwachsenen oder auch JoJo-Erwachsenen anlegen, der sich immer nur periodisch für die eigene Wirtschaftsleistung zuständig fühlt und in engeren Zeiten auf eine Grundversorgung durch die Altvorderen zurück greift, passte dazu. Erwachsensein auf Probe, mit Rückgabegarantie sozusagen. Nur keine Verantwortung und schon gar nicht in einer so unkontrollierten Sache wie den Liebesbeziehungen. Gigis Erfahrung mit Filipe entsprach ganz dieser Gangart.
Ebenso das Verhalten meines Patienten Mark, der sich durch die Forderung seiner Freundin nach mehr Verbindlichkeit und Bekenntnis nach sechs Jahren Kennenlernen zu sehr in der Idylle seines Rollenpluralismus zwischen Sohn und Beziehungspartner gestört und eingeschränkt fühlte. Und auch die vielen Beratungen rund um das Thema Schwangerschaft als »geforderten oder verweigerten Beziehungsimperativ« fügten sich durch das ihnen innewohnende Thema der GEMEINSAMEN Verantwortung hier nahtlos ein. Aus dem Blickwinkel eines unreifen psychischen Apparats, der es in seiner Ausrichtung nicht vermag, über sich hinauszuwachsen, machten auch die Überlegungen jener »High Potentials« aus Alpbach und vieler Studienfreunde meiner ältesten Tochter durchaus Sinn, nur den eigenen Karrierehorizont vor Augen zu haben und Beziehungen in der Wertigkeit nachzureihen. Beziehungsneoliberalismus und pragmatischer Beziehungsrealismus als logische und rational gut durchdachte Form von Beziehungsmanagement begann hier als Haltung seinen Platz laut zu beanspruchen. Und nun waren da noch die ganz Jungen, die am Weg waren, diesen Modus a priori zur Methode der Wahl zu erheben, um »emotional bereinigt« und damit ohne Verletzungsgefährdung scheinbar sicher durchs Leben zu kommen. Doch der Preis dafür ist unwahrscheinlich hoch, wie jeder weiß, der diese Flamme wirklichen freien Liebens in sich brennen gefühlt hat. Denn dieses Gefühl reicht weit darüber hinaus, leidenschaftliche Anziehung für einen anderen Menschen zu empfinden. Lieben beseelt, ist jene Kraft in uns, die uns über uns selber hinauswachsen lässt, um Positives in der Welt beitragen zu wollen und trägt als eine unverzichtbare Facette auch die Ausrichtung auf ein spezifisches Gegenüber in sich. Wer nicht grundsätzlich die Fähigkeit zur liebevollen Ausrichtung auf ein Gegenüber in sich trägt, vermag nichts Positives in die Welt zu tragen. Der eigene Mangel, die Verhaftung im eigenen kleinen Ich, das nicht bereit ist, mehr als sich selber anzuerkennen, überschattet alles Tun. Eine kalte, farblose Welt tat sich hier auf, eine Abwürgung von Lebendigkeit und eine gähnende Einsamkeit, die mannigfache Konsequenzen nach sich zieht.
Was war denn nur mit der Liebesfähigkeit in unserer Gesellschaft geschehen?
Warum wir lieben
Wenn sich Atome ineinander »verlieben«, so bilden sie mittels Bindungskräften Moleküle und somit komplexere Einheiten. Sogar auf subatomarer Ebene ist dieses Wirken der Bindungskräfte, jener Aspekt, der alles zusammenhält, das Entscheidende. Wir können uns zwar nicht sicher sein, ob ein Elektron gerade ein Masseteilchen oder eine Wahrscheinlichkeitswelle ist. Aber das, was dafür entscheidend ist, dass wir es, sei es als Welle oder Teilchen, irgendwo um einen Atomkern herum auf einer Wahrscheinlichkeitsbahn vermuten dürfen, sind die Bindungskräfte. Bindung begründet die kleinsten Bestandteile unseres Universums bis hin zur höchsten Akkumulation und Komplexität und ist als das universelle Prinzip alles Seienden anzusprechen. Bindung, Anziehung und, wenn wir diese Energie emotional konnotieren, Liebe, sind der universelle Antrieb der Lebendigkeit. Über die ersten Hochzeiten der Atome zu anorganischen Molekülverbindungen, weiter zu den organischen Verbindungen, die ersten Einzeller und dann die höhere Komplexität von Mehr- und Vielzellern mit ihrer bereits arbeitsteiligen Struktur, über wirbellose hin zu den Wirbeltieren, den Fischen, Amphibien, Vögeln, Säugetieren und letztendlich bis zu uns Menschen – überall ist, über vielschichtige Komplexitätsstufen und verschachtelte Steuerkreise Bindung der ursprüngliche, große Regisseur im Hintergrund, der Leben erst möglich gemacht hat. Umgekehrt steht Bindungslosigkeit oder der Prozess des Zerfalls von Bindungen für den Tod, so wie auch wir dereinst mit unserem Tod wieder zu Staub und Asche werden. Es ist also Bindung und in einem höheren Sinn Liebe, jene immaterielle Kraft, die die Materie erst lebendig werden lässt und beseelt. Liebe benennt im üblichen Sprachgebrauch ein Gefühl, eine Emotion, und ist damit, wenn wir von rudimentären, von Primatenforschern vermuteten Ansätzen absehen, ganz stark an unsere Spezies Mensch geknüpft. Warum hat uns die Evolution damit ausgestattet? Warum war es nötig, ab einer gewissen Komplexitätsstufe von »Sein« diese Emotion, die doch augenscheinlich so viele Beschwerden verursacht, zu erfinden? Wir können getrost davon ausgehen, dass die Natur nichts umsonst anlegt. Emotionen dürfen als komplexe Integrationseinheiten vieler zuvor gewonnener Sinneserfahrungen gesehen werden und dienen unserem Überleben. Letztendlich mit dem Ziel, uns rasch zu einer Evaluation einer Situation zu führen, um uns entscheidungsfähig zu machen. Wenn ich zum Beispiel allergisch auf Bienengift bin und eventuell bei einem Bienenstich einen anaphylaktischen Schock erleiden könnte, der die Potenz hätte, mich ins Jenseits zu befördern, so macht es durchaus Sinn, wenn ich genau in dem Moment, in dem sich ein derartiges Insekt auf der Suche nach einer Blume durch das offene Fenster in mein Zimmer verirrt, Furcht verspüre. So bin ich alarmiert, sofort etwas zu unternehmen. Emotionen sind also als Integrationseinheiten höherer Ordnung anzusehen, die aus vielen zuvor gewonnen, uns teilweise gar nicht bewussten Sinneseindrücken eine übergeordnete Evaluation einer Situation oder Anforderung ableiten.
Nun, wozu ist also die Liebe gut? Sie hat damit zu tun, dass wir als die Krone der Schöpfung anzusprechen sind, also die bisher höchste Komplexitätsstufe verkörpern, die die Evolution zumindest in unserem Sonnensystem hervorzubringen im Stande war. Das sollte uns allerdings nicht arrogant, sondern demütig sein lassen, denn es bedeutet einen großen Auftrag. Wir haben als Spezies eine derart komplexe Systemik entwickelt, dass wir Vorstellungsvermögen haben, uns also Dinge, Handlungsabläufe, Prozesse und ihre Konsequenzen und möglichen Ergebnisse im Trockendock unseres Geistes vorzustellen vermögen, ohne uns sprichwörtlich dabei die Hände schmutzig machen zu müssen. Und darüber hinaus haben wir es sogar zu einem reflexiven Bewusstsein gebracht. Wir können also über uns selber nachdenken. Mit diesem Selbst-Bewusstsein ist es uns als Privileg sogar eingeschrieben, dass wir das universelle Prinzip der Bindung und der Liebe als das treibende Prinzip der Evolution erkennen und wertschätzen können. Doch dafür, dass es so weit kommen konnte, war das Prinzip der Bindung und des Liebens auch gleichzeitig wieder die Voraussetzung. Das hat, wie könnte es anders sein, mit unserem Hirn zu tun. Wenn wir unsere Grundausrüstung als Menschen betrachten, so ist sie gar nicht unbedingt beeindruckend. Wir müssen sogar neidlos attestieren, dass die meisten Tierarten besser ausgerüstet sind als wir. Keine scharfen Krallen oder Reißzähne, mehr als durchschnittliche Läufer, eindeutig schlechte Schwimmer, ganz sicher keine Ausdauer beim Hangeln von Ast zu Ast, und vom Klettern gar nicht zu reden. Nicht einmal ein wirkungsvolles Tarnkleid haben wir, Flucht durch Fliegen können wir gleich abhaken, und im direkten Kampf Faust gegen Faust sind wir, wenn es nicht gerade um die eigene Spezies geht, so ziemlich jedem, der mehr als 50 Kilogramm und etwas Entschlossenheit mitbringt, unterlegen. Trotzdem dürfen wir uns als die überlegene Spezies sehen, jene, der es gelungen ist, so ziemlich jeden Lebensraum bis zum arktischen Wendekreis und in der anderen Richtung bis in die Sahara hinein zu besiedeln. Dass wir den Globus heute dominieren und alle anderen sukzessive, wenn auch mit unklarem Ausgang ausrotten, ist ein Faktum. Das, was uns so erfolgreich gemacht hat, ist nämlich gerade, dass der Mensch so wenig differenziert ist, so unspektakulär.
Der Mensch ist ein klassischer Generalist. Im Unterschied zu allen auf ihr jeweiliges Habitat genauestens angepassten, ja zugeschnittenen Organismen und Tieren ist der Mensch einfach so, wie er eben ist, simpler Durchschnitt. Ein bisschen von allem. Ein bisschen Laufen, ein bisschen Muskel, ein bisschen Klettern, ein bisschen Schwimmen, ein bisschen Springen, ein bisschen Regulationsmöglichkeit an Temperatur und unterschiedliche Luftdruckverhältnisse. Das Spezifische des Menschen, so könnte man sagen, ist, dass er unspezifisch ist, dass er sich aber extrem flexibel an die jeweiligen Anforderungen anpassen kann. Und dies wird ihm durch sein großes Hirn mit seinem überragenden Vorstellungsvermögen, das »Probehandeln ohne Risiko« ermöglicht, erschlossen. Dieses Hirn und seine großartige Möglichkeit, situationsangepasst zu reagieren, Werkzeuge zu erfinden, Feuer zu kultivieren und Lösungen für die jeweilige Anforderung der Umgebungssituation zu entwickeln, hat uns zum Erfolgsorganismus gemacht. Es hat uns ermöglicht, nahezu jeden Lebensraum zu besiedeln und uns damit gleichzeitig befähigt, über uns nachzudenken. Doch ein Hirn, das derartigen Anforderungen gewachsen sein soll, braucht eine gewisse Größe. Da reicht ein einfaches Affenhirn von, sagen wir, Schimpansengröße und 460 Gramm nicht aus, um Reflexivität in gehörigem, erfolgversprechendem Ausmaß entwickeln zu können. Wir bringen immerhin heute rund 1290 Gramm auf die Waage. Das stellte die Evolution vor eine ziemliche Aufgabe. Denn für das Unternehmen »zunehmende Komplexität« war auch der aufrechte Gang unerlässlich, weil dieser mehr Überblick und damit mehr Überlebenschancen im Busch und Savannenland versprach. Beim aufrechten Gang ist aus der Beckendynamik heraus der Beckendurchgangsöffnung ein Riegel vorgeschoben. Was man da durchbekommt, bei einer Geburt, ist an Hirngröße nicht allzu beachtlich. Damit ist kein Staat zu machen, zumindest im Sinne der Krone der Schöpfung, eines Organismus, der später einmal, wenn er erwachsen ist, innovative, neue Lösungen für komplexe Probleme finden soll. Mit so einem Hirn hätten wir weder die Dampfmaschine, noch die industrielle Revolution, Hip Hop, Quantenmechanik, Jazz, Hamlet oder die Relativitätstheorie erdenken können. Das heißt, dass es notwendig wurde, eine ziemlich lange postpartale also nachgeburtliche Periode einzuschieben, in der dieses Hirn in Ruhe wachsen und gleichzeitig optimal an die jeweiligen lokalen Gegebenheiten angepasst werden konnte. Doch die Lebensversorgung in Zeiten ohne Sozialversicherung, sozialem Wohnbau, Krankenversorgung, ausgebauten Helfersystemen, Karenzgeld und Mutterschutz, Supermärkten mit gefälligen Öffnungszeiten, Eltern-Kind-Treffpunkten und notfalls Kriseninterventionszentren waren schwer. So schwer, dass diese Bürde der Aufzucht bis zu einem realistischen Freisetzungs- und Selbstversorgungszeitpunkt für ein Weibchen alleine, beladen mit all den Versorgungs- und Nahrungsbeschaffungspflichten als Regelfall nicht realistisch bewältigbar erschien. Da musste der Erzeuger als im wahren Sinn des Wortes Nächstliegender und damit auch Engagiertester mit eingebunden werden. Und damit kam wieder der universelle Antrieb des Lebens, nämlich Bindung, ins Spiel. Es galt, in einer sozial komplexen Form Bindung einzuführen, das Lieben zu entwickeln, das zunehmend auch als solches bewusst werden und erkannt werden konnte. Von der strahlenden romantischen Hollywood-Liebe würde ich hier noch nicht sprechen wollen. Obwohl wir natürlich nicht wissen, ob jene fernen Vorfahren von uns auch schon damals unter dem glitzernden Sternenhimmel für einen Moment die Verschmelzung mit dem Universum erfahren haben, als sie einander in die Augen blickten, bevor sie neues Leben zeugten. Aber von Bindung und Zugehörigkeit in einer sehr klaren und pragmatischen Form, wenngleich vielleicht nicht einmal bewusst, kann hier ganz sicher die Rede sein.
Ich habe in einem Museum einmal die Ausgrabung einer Steinzeit-Familie gesehen, die allesamt an einer Vergiftung gestorben sein sollten, zeitgleich, im Schlaf. Hatten wohl die falschen Beeren zum Nachtisch erwischt. Die Anordnung der Skelette hat mich tief berührt. Da waren die Gebeine einer jungen Frau, die in ihren Armen im Tod wohl ein etwa eineinhalbjähriges Kind gehalten haben muss. Hinter ihr lag, sie umfangend, das Skelett eines Mannes. Etwas an der Seite fanden sich ein etwa siebenjähriger Junge und ein rund zehn- bis elfjähriges Mädchen. Und neben den beiden Kindern das Skelett einer älteren Frau. Eine Familie. Das habe ich mir damals, für einen Moment über die Jahrtausende mit ihnen verbunden, gedacht. Mann und Frau und das Kleinkind vereint, und daneben die schon autonomeren Familienmitglieder, die älteren Kinder und die Großmutter. Ob sie Liebe füreinander gefühlt haben, wie wir sie kennen, weiß ich nicht. Aber Bindung, Zusammengehörigkeit dürfen wir doch wohl als gesichert annehmen, allein aus der Gruppierung heraus. Es ist ein weiter und unausleuchtbarer Weg, von diesen Anfängen der Bindungs- oder auch Zugehörigkeitsgefühle bis zu dem, was wir heute unter Liebe verstehen. Ich bin der Überzeugung, dass er im Spannungsfeld der Individuation des Menschen, also der Wahrnehmung seines eigenen ICHS zu sehen ist.
Zum Zeitpunkt unserer Geburt existiert ein ICH-Bewusstsein noch nicht. Wir wissen also nicht, dass wir wir sind. Dieses ICH muss sich erst konstituieren, muss erst erbaut werden. Ein spannender Prozess, bei dem während der Schöpfung von materieller Struktur durch Wachstum des Hirns und Ausbildung von Synapsenschaltungen auch erst jenes Bewusstsein schrittweise entsteht, das jedes Kind irgendwann zum überwältigten Ausruf »ICH« befähigt, wenn es sein Spiegelbild zum ersten Mal als eben jenes ICH zu erkennen vermag. Zu Beginn unseres Lebens befinden wir uns in einem Raum-Zeit-Kontinuum und in enger, fast symbiotischer Vernetzung mit unseren nächsten Bezugspersonen und der uns umgebenden Umwelt. Wir sind getrieben von wechselnden Bedürfnissen und ihrer Erfüllung. Aber wir sind da – ganz eindeutig, wir gestalten diese Interaktion mit unserer Umgebung mit und treten in Austausch und Reaktion, so uns dies ermöglicht wird. Reziproke, ko-regulierte, affektive Kommunikation nennt man das in der Wissenschaft. So schrecklich diese Worthülse klingt, sie vermag doch eindeutig Wesentliches zu enthüllen. Zum einen, dass bereits Säuglinge, wie eindeutig erwiesen ist, nicht nur passiv auf Reize reagieren, sondern sehr wohl ihrerseits Impulse setzen und über einen wechselseitigen, wiederum bei der Bezugsperson eine Antwort provozierenden Ausdrucksmodus verfügen. Denn die schlaue Evolution hat vorgesorgt, damit die Kommunikation mit den Kindern auch für ihre Bezugspersonen spannend bleibt und diese sie nicht eventuell aus Langeweile einfach weglegen. Zum anderen handelt es sich hierbei nicht nur um reziproke, wechselseitig hin- und herlaufende Kommunikation. Also kein reines Vor- und Zurückschieben von Daten, sondern sie wird sowohl von der Betreuungsperson wie auch vom Säugling und Kleinkind ko-reguliert, das heißt aktiv aus der aktuellen Befindlichkeit heraus mitgestaltet. Um diesen Sachverhalt emotionaler Ko-regulation zu verdeutlichen, müssen wir uns nur in die Situation mit einem zahnenden, brüllenden Kleinkind hineinversetzen. Wenigen von uns gelingt es, im Grundton der eigenen Gefühlswelt während der Tröstungsversuche, ausgeglichen und entspannt zu bleiben, vor allem wenn es sich um längere Zeitsegmente handelt, die das Töchterchen oder der Sohnemann tobt. Unsere Kinder üben also einen Einfluss auf uns und unsere emotionale Befindlichkeit aus.